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Inklusion am Gymnasium

„Inklusion bedeutet: Alle sind gleich und alle sind verschieden, keiner wird ausgeschlossen.“ (Ines Boban / Andreas Hinz). Nach mehrjähriger Vorbereitung wurden jetzt die Gesetzesänderungen zum Thema Inklusive Bildungsangebote in Baden-Württemberg beschlossen.

Wesentliche Inhalte des Gesetzs sind:

  • Zum kommenden Schuljahr soll den Eltern von Kindern mit festgestelltem Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot für ihr Kind ein Wahlrecht auf ein inklusives Bildungsangebot an einer allgemeinen Schule eingeräumt werden.
  • Stellen die Eltern einen entsprechenden Antrag, organisiert das zuständige Staatliche Schulamt (SSA) im Rahmen seiner Schulangebotsplanung für das Kind ein inklusives Bildungsangebot.
  • Dieses Angebot soll grundsätzlich gruppenbezogen sein. So wird gewährleistet, dass im Unterricht neben dem regulären Fachlehrer möglichst durchgängig ein Sonderpädagoge anwesend sein kann.
  • Dabei können an weiterführenden Schulen innerhalb der Sek I die individuellen Bildungsziele und Leistungsanforde-rungen des Schülers mit sonderpädagogischem Bildungsanspruch (BA) von den generellen der besuchten Schulart abweichen.

Das Kultusministerium prognostiziert für die Umsetzung dieses Konzepts z.Zt. einen zusätzlichen Lehrerbedarf von 1353 Stellen bis zum Jahre 2023. In den Jahren 2014 und 2015 wurden bereits je 200 zusätzliche Lehrkräfte eingestellt.

1. Ein kleiner Rückblick zum Thema Inklusion:
Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention im März 2009 hat die Bundesrepublik  Deutschland das Recht von Menschen mit Behinderungen auf eine gesellschaftliche Teilhabe anerkannt. In Art. 24 verpflichten sich die Unterzeichnerstaaten darauf, Menschen mit  Behinderungen den uneingeschränkten Zugang zum allgemeinen Bildungssystem zu  ermöglichen; und zwar unter Einschluss der „secondary education“, d.h. aller weiterführenden Schulen. Mit dieser Ratifizierung ist die inklusive Beschulung von Kindern mit Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot zur Aufgabe aller Schulen geworden. Und das betrifft ausdrücklich auch den zieldifferenten Unterricht.
Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat deshalb bereits im Jahre 2011 anspruchsvolle Rahmenbedingungen für den Aufbau eines inklusiven Bildungssystems in Deutschland festgelegt:

  • „Ausrichtung der Schulen auf die unterschiedlichen Voraussetzungen von Kindern und Jugendlichen“
  • „Ziel“ ist es, „eine individuell angepasste Förderung oder Unterstützung zu entwickeln“.
  • Inklusiver Unterricht bewegt sich im Spannungsfeld zwischen allgemeinen Bildungsstandards und individuellem Leistungsstand. Dazu kann es erforderlich sein, dass Kinder derselben Klasse unterschiedliche Lernziele verfolgen: „Gleiche Lerngegenstände können im Unterricht auf unterschiedlichen Wegen und mit unterschiedlicher Zielstellung bearbeitet werden.“
  • „Bei den Lernstandserhebungen und der Leistungsmessung werden die individuellen Lern- und Leistungsmöglichkeiten berücksichtigt.“

In Baden-Württemberg werden seit dem Schuljahr 2010/11 auf der Basis von Schulversuchen erste praktische Erfahrungen mit Inklusion an allgemeinen Schulen gesammelt, und zwar in den fünf Schwerpunktregionen der Staatlichen Schulamtsbezirke Stuttgart, Mannheim, Freiburg, Konstanz und Biberach.
Von den 20.275 Schüler/innen, die im Schuljahr 2013/14 in Baden-Württemberg an allgemeinen Schulen Unterstützung durch sonderpädagogische Dienste erhielten, besuchten nur 484 Schüler/innen ein Gymnasium, das sind knapp 2,4%. Darin war die mit Abstand größte Gruppe Schüler/innen mit dem Förderschwerpunkt Hören (259 Schüler/innen). Zur Zeit
beträgt die Gesamtinklusionsquote an allgemeinen Schulen etwa 28% der betroffenen Schüler/innen.

Die große Lehrkräftebefragung der GEW hatte 2014 ergeben, dass sich fast 85% der Lehrkräfte an den Gymnasien in Baden-Württemberg schlecht oder sehr schlecht auf die Inklusion vorbereitet fühlen. Aber nur ca. ein Drittel der Lehrkräfte erachtet dieses Thema als unwichtig. Bei der Vorbereitung der Lehrkräfte und der Schulen auf inklusive Bildungsangebote besteht noch sehr deutlicher Handlungsbedarf!
Am 17. April 2015 hat der zuständige UN-Fachausschuss in seinem Staatenbericht die Fortschritte Deutschlands bei der Umsetzung der Inklusion deutlich kritisiert.

Zum Thema inklusive Bildung wurden u.a. folgende Empfehlungen ausgesprochen:
(no. 46:) The Committee recommends that the State party:
a) Immediately develop a strategy, action plan, timeline and targets to provide access to a high quality inclusive education system across all Länder, including the required financial
resources and personnel at all levels;
b) Scale down segregated schools to facilitate inclusion, and recommends that the law and policies uphold the duty that mainstream schools enroll children with disabilities with immediate effect if that is their choice;

2. Inklusion – eine Entwicklungsaufgabe mit großen Herausforderungen und Chancen
Nach Ansicht der GEW-Landesfachgruppe Gymnasien sind folgende Grundsätze entscheidend, um diesem langfristigen Schulentwicklungsprozess zu einem nachhaltigen Erfolg zu verhelfen und so alle am Schulleben Beteiligten von dieser Entwicklung profitieren lassen zu können:

1. Das Prinzip der Offenheit:
Inklusion lebt von der Offenheit und dem Engagement aller Beteiligten. Entscheidend für die Option eines inklusiven Bildungsangebotes ist zu Recht der Wunsch der betroffenen Kinder bzw. von deren Eltern. Gleichzeitig hat die Erfahrung in anderen Bundesländern gezeigt, wie wichtig es ist, gerade die ersten Schritte der Einführung inklusiver Bildungsangebote in die Hände von Lehrkräften zu legen, die dieser Aufgabe aufgeschlossen gegenüberstehen und auch bereit sind, sich entsprechend fortzubilden.

2. Das Prinzip der Kooperation:
Soll Inklusion am Gymnasium gelingen, müssen im Unterricht durchgängig jeweils zwei pädagogische Fachkräfte (in der Regel eine gymnasiale Lehrkraft sowie ein/e  Sonderpädagoge/in) anwesend sein, zusätzlich ggf. unterstützende Integrationshelfer/innen. Maßgebliche Voraussetzung für eine gelingende Kooperation sind des Weiteren regelmäßige Kooperationszeiten außerhalb der Unterrichtszeit. Diese zusätzlich
notwendigen Kooperationszeiten müssen vollumfänglich auf die Arbeitszeit der Lehrkräfte angerechnet werden.

3. Das Prinzip der Subsidiarität:
Kooperation und Teambildung gibt es nicht zum Nulltarif. Bei der Berechnung des  inklusionsbedingten Lehrkräftemehrbedarfs bleibt das KM bislang deutlich hinter der von Prof. Klaus Klemm 2011 in einem Gutachten für die GEW errechneten Prognose zurück. Hier muss bei den Ressourcen noch deutlich nachgebessert werden. Ebenso bedarf es an den Schulen vor Ort einer überlegten Anpassung der räumlichen und sächlichen Ausstattung sowie der schulinternen Verwaltungsabläufe (z.B. Fortbildungen, Vertretungsregelungen
usw.) an die Erfordernisse einer inklusiven Schule.

4. Das Prinzip der gelebten Normalität:
Kinder und Jugendliche bringen individuell verschiedene Stärken und Schwächen mit. Inklusion schließt Kinder mit Förderbedarfen ebenso ein wie Kinder mit festgestellter Hochbegabung. Langfristig wird es von entscheidender Wichtigkeit sein, ob alle Beteiligten lernen können, diese Verschiedenartigkeit als Normalität anzuerkennen. Bleiben wir realistisch: Wir sind am Anfang des Weges zu dieser Normalität. Der Prozess hin zu einer gelingenden Inklusion wird nicht ohne Probleme oder Rückschläge ablaufen. Im Sinne einer reflektierten Routinebildung sollte das aber als Ansporn begriffen werden, die pädagogischen Unterstützungssysteme zum Wohle der Kinder weiterzuentwickeln.
Die GEW-Landesfachgruppe Gymnasien begrüßt ausdrücklich, dass inklusive Bildung endlich auch in Baden-Württemberg ihre Verankerung im Schulgesetz erhält. Auch unsere Gymnasien werden ihren Beitrag an der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe erbringen müssen, die Partizipation von Menschen mit Behinderungen am Alltagsleben zu ermöglichen.


3. Entgegnung auf die prinzipiellen Ablehnung der Inklusion am Gymnasium durch den
Philologenverband (PhV) Baden-Württemberg

Zur Zeit wendet sich der PhV auf breiter Linie öffentlich gegen die Einführung inklusiver  Bildung an Gymnasien in Baden- Württemberg. Vor allem in drei zentralen Punkten geht diese Ablehnung nach Auffassung der GEW-Landesfachgruppe Gymnasien fundamental am Grundgedanken der Inklusion vorbei:

1. Inklusive Bildung bedeutet ja gerade, dass Kinder mit und ohne Behinderung die Chance erhalten, an allgemeinen Schulen gemeinsam zu lernen. Insofern konterkariert die verdrehte Interpretation des PhV, Inklusion in Baden-Württemberg sei durch die Sonderschulen ja bereits hinreichend verwirklicht, den zentralen Gedanken der gesellschaftlichen Teilhabe.

2. Nach Auffassung des PhV darf es am Gymnasium nur Kinder geben, die auch das Abitur machen können. Ein zieldifferenter Unterricht sei unvorstellbar. Mit dieser Einstellung wird das Menschenrecht auf inklusive Bildung prinzipiell in Frage gestellt, und zwar nicht nur für das Gymnasium, sondern auch für die anderen allgemeinen Schularten. Denn in der Praxis kann es gar nicht anders sein, als dass die an allgemeinen Schulen tätigen  Sonderpädagog/innen für die Inklusionskinder individuelle Förderpläne erarbeiten, die, wenn
nötig, auch von den abschlussbezogenen Bildu ngsstandards abweichen.

3. Der PhV begründet seine Haltung damit, dass allein Sonderschulen dem „Kindeswohl“ behinderter Kinder gerecht werden können. Durch das neue Schulgesetz erhalten die Eltern
der betroffenen Kinder in Baden-Württemberg ein Entscheidungsrecht darüber, ob sie für ihr Kind eine Sonderschule – die künftig Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum heißen wird – oder ein inklusives Bildungsangebot an einer allgemeinen Schule bevorzugen – nicht mehr aber auch nicht weniger. Will es der PhV denn besser wissen als die Eltern, welche Schule für die einzelnen Kinder die richtige ist? Und will er dem Schulgesetz widersprechen? Dort ist der zieldifferente Unterricht für Kinder mit sonderpädagogischem Bildungsanspruch ausdrücklich an allen allgemeinen Schulen der Sekundarstufe I  vorgesehen.

Inklusion ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Mit seiner prinzipiellen Ablehnung des zieldifferenten Unterrichts möchte der Philologenverband Baden-Württemberg unsere Gymnasien gegen diese Herausforderung abschotten. Aber: Warum soll in Baden-Württemberg prinzipiell unmöglich sein, was in weiten Teilen Europas (und inzwischen auch in anderen Bundesländern) schon längst schulischer Alltag ist? Und was an den Grundschulen und vielen Haupt-, Werkreal- und Realschulen in Baden-Württemberg praktiziert
wird. Im Jahre 2006 wurden bereits 85 % aller europäischen Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf inklusiv unterrichtet! Zum Vergleich: Im Schuljahr 2008/09 wurden in Deutschland nur 18,8 % der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarf an allgemeinen Schulen unterrichtet, die übrigen (81,2 %) an besonderen Förderzentren – im internationalen Vergleich ein absoluter Sonderweg!

Können und wollen wir uns wirklich am Gymnasium dieser großen und wichtigen Aufgabe grundsätzlich entziehen?

Wir Kolleg/innen in der GEW-Landesfachgruppe Gymnasien werden

  • uns dafür einsetzen, dass unsere Lehrkräfte durch Fortbildungen und Unterstützung hinreichend auf die neuenAufgaben vorbereitet werden,
  • nachdrücklich insbesondere die zusätzlich notwendigen personellen Ressourcen einfordern,
  • und uns außerdem kritisch und streitbar an der Diskussion beteiligen, mit dem Ziel eine tragfähige Balance zu finden zwischen unserer Belastbarkeit als Lehrkräfte und unserer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung bei derUmsetzung der Inklusion.