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Auf der Qualitätsrutschbahn?

Mitte Oktober 2017 wurden die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2016 in Berlin vorgestellt. Grundschüler/innen in Baden-Württemberg schnitten dabei durchschnittlich ab. Wie schon die IQB-Studie 2015 zum Stand der Neuntklässler sorgt die neue Studie für Aufregung und Schuldzuweisungen. Eine sachliche Auseinandersetzung tut not.

imago

Der „Bildungstrend“ ersetzte vor einigen Jahren die regionalen PISA-Erweiterungsstudien (PISA-E).  Inzwischen liegen für den Primar- und den Sekundarbereich jeweils zwei Ergebnisse vor. Aus dem Vergleich der ersten zur zweiten Erhebung können Veränderungen in den Kompetenzstufenergebnissen, aber auch im sozioökonomischen Umfeld berechnet werden. (Tabelle 1)
In diesem Beitrag geht es um die 2. Erhebung in der Primarstufe in den Fächern Deutsch und Mathematik. Hierzu wurden 30.000 Schüler/innen der 4. Jahrgangsstufe in 1.500 Schulen getestet. Grundlage der IQB-Testungen sind die von der Kultusministerkonferenz (KMK) verabschiedeten und für alle Bundesländer gültigen Bildungsstandards der jeweiligen Fächer. Bildungsstandards beschreiben Lernergebnisse, die am Ende einer bestimmten Jahrgangsstufe erreicht werden sollten, sind also Ziel- oder Erwartungshorizonte. Wie gut oder wie schlecht die Schüler/innen diesen Erwartungen gerecht wurden, wird in Form von Kompetenzstufen ausgedrückt.

Für detailliertere Ergebnisse werden die getesteten Kompetenzen in Teilbereiche gegliedert. Dies sind für Deutsch (Primarstufe) die Bereiche Lesen, Zuhören und Orthografie und für Mathematik die Bereiche Zahlen + Operationen, Raum + Form, Muster + Strukturen, Größen + Messen sowie Daten + Häufigkeit+ Wahrscheinlichkeit.
In einem weiteren Schritt werden die Standards und die erreichten Kompetenzen danach eingeordnet und gruppiert, wie hoch der Anteil der Kinder ist, die den Lernerwartungen entsprechen (Regelstandard), nur über ein Minimum dieser Kompetenzen verfügen (Mindeststandard) oder diese übertreffen (Optimalstandard).
Wie bei den von der OECD verantworteten PISA-Tests werden auch in den IQB-Bildungstrends Hintergrundmerkmale der Schüler/innen erfasst, um Antworten auf die Frage nach den Bedingungen der Leistungsergebnisse zumindest teilweise beantworten zu können. Dahinter steht die These, dass das Erreichen einer bestimmten Kompetenz nicht allein in der kognitiven Fähigkeit eines Kindes oder eines Jugendlichen begründet ist, sondern dass soziale Bedingungen einen Einfluss ausüben. Diese These mag banal klingen, jedoch wurde diese bedeutende Annahme erst mit der ersten PISA-Studie 2001 systematisch in den Mittelpunkt gerückt.
In jedem Erhebungszyklus werden über die Fächererhebungen hinaus zusätzliche Schwerpunktthemen gesetzt. Dies sind 2016 die Bedingungen von Lehr-Lern-Prozessen, der Umgang mit Heterogenität mit Fokus auf Schüler/innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf und die besonders Leistungsstarken sowie als weiteres Thema die Qualifikation von Lehrkräften. Daten zu den Fragen über die Leistungstests hinaus werden durch die Befragung von Schüler/innen, Lehrkräften, Schulleitungen und Eltern gewonnen.

Leistungsergebnisse aus drei Perspektiven
Für die Darstellung der umfangreichen Ergebnisse wurden drei Vergleichsperspektiven gewählt: Die „kriteriale Perspektive“ fragt danach, in welchen Anteilen die Mindest-, Regel- und Optimalstandards erreicht wurden. Daraus kann man zum Beispiel Erkenntnisse darüber gewinnen, ob ein Schulsystem eher die schwächeren oder die leistungsstarken Schüler/innen fördern muss. Zum zweiten wird der Blick auf die zeitliche Veränderungen der Leistungen gelenkt („Ipsative Perspektive“). Diese Perspektive braucht allerdings die Verknüpfung mit der kriterialen und der sozialen Perspektive, um Veränderungen inhaltlich bewerten und Maßnahmen daraus ableiten zu können. Die soziale Perspektive erlaubt Gruppenvergleiche zwischen Ländern, aber auch nach bestimmten Merkmalen wie Herkunft, Geschlecht und Umfeld.

Kompetenzen in Deutsch und Mathematik 2016 in der Primarstufe
In der Tabelle 2 sind die Ergebnisse für Deutschland in der Systematik der Mindest-, Regel- und Optimalstandards zusammengefasst. Für Mathematik sind dabei die 5 oben genannten Teilkompetenzen in einer Skala (Globalskala) dargestellt. In diese Tabelle sind des Weiteren die niedrigsten und die höchsten Werte, die in den jeweiligen Bundesländern erzielt werden, mit aufgenommen („Spanne“).   
Vergleicht man die Bundesländer mit dem gesamtdeutschen Durchschnitt, sind es Berlin und Bremen, die in allen Kompetenzbereichen signifikant unterdurchschnittliche Ergebnisse beim Erreichen der Regelstandards erzielen. In Teilbereichen kommen weitere Bundesländer hinzu, zum Beispiel Nordrhein-Westfalen im Bereich Lesen. Durchweg gute Werte erzielt Bayern.
Dieses Muster zeigt sich auch beim Blick auf das Verfehlen der Mindeststandards: Bei den Schüler/innen aus Bayern ist diese Gruppe am kleinsten. In Schleswig-Holstein und Sachsen werden im Bereich Lesen signifikant unterdurchschnittliche Werte beim Verfehlen der Mindeststandards erzielt. Mit anderen Worten, es gelingt in diesen Ländern, die seit PISA als „Risikogruppe“ bezeichneten Schüler/innen, die nicht den Mindestanforderungen genügen, relativ klein zu halten.  
Wie sieht es aus bei den leistungsstarken Schülerinnen und Schülern? Die Spannweite der Bundesländerergebnisse ist laut IQB nicht ganz so stark zu werten. Unterschiede fallen dennoch ins Auge. Einmal mehr verzeichnet Bayern überdurchschnittliche Ergebnisse im Vergleich mit den bundesdeutschen Leistungen (Lesen, Zuhören). Sachsen und Hamburg erreichen dies bei der Domäne „Zuhören“. Und auch bei den Leistungsstarken erzielt Bremen eher dürftige Ergebnisse, aber auch Thüringen bei „Lesen“ und Rheinland-Pfalz bei „Orthografie“. Bremen und Bayern bilden auch in Mathematik die beiden Enden der Leistungsskala. Allerdings erreichen mehr Länder überdurchschnittliche Werte beim Erreichen der Regelstandards und günstigere Werte beim Verfehlen der Mindeststandards. Weitere Details zu den Ländervergleichen sind in der Kurz- und Langfassung der Studie aufgeführt.

Und Baden-Württemberg?
Baden-Württemberg wird weder in den Spitzengruppen noch bei den Risikogruppen genannt. Die Gesamtergebnisse 2016 bewegen sich für unser Bundesland durchweg im Mittelfeld (Tabelle 3)
Von „alarmierenden Ergebnissen“ schreibt die Stuttgarter Zeitung, CDU-Landtagsfraktionschef Wolfgang Reinhardt hatte erklärt: „Das Ergebnis der Studie ist verheerend“, der SWR schreibt: „dass Baden-Württemberg zusammen mit Bremen am stärksten abgerutscht ist.“ Der Abrutsch besteht aber nicht darin, dass Baden-Württemberg etwa dem Ergebnisprofil Bremens gleicht, sondern in der Verschlechterung der Ergebnisse 2016 im Vergleich zu 2011 (zeitliche Perspektive.)
Zunächst wird im Bericht 2016 für ganz Deutschland diagnostiziert, dass a) die Ergebnisse im Lesen 2011 zu 2016 relativ stabil blieben, b) dass sich der Anteil derjenigen, die im Lesen den Optimalstandard erreichen, um 2 Prozentpunkte reduziert hat, dass c) in den Bereichen Zuhören und Orthografie die Ergebnisse Verschlechterungen ergaben (Regelstandard Zuhören – 5 und Regelstandard Orthografie – 10 Prozentpunkte). Gleiches gilt für Mathematik (Regelstandard – 6 Prozentpunkte).
Baden-Württemberg gehört nun zu derjenigen Ländergruppe, in der die Verschlechterungen signifikant, das heißt „statistisch bedeutsam“, ausfallen. In den Bereichen „Zuhören“ und Mathematik wurden die Anteile derjenigen, die den Regelstandard erreichen, kleiner und die Anteile derer, die den Mindeststandard verfehlen, größer. Ein deutlicher Rückgang ist auch beim Anteil der Schüler/innen, die den Optimalstandard in Mathematik erreichen, zu verzeichnen.
Insofern gilt: Die Leistungen der baden-württembergischen Schüler/innen weisen – im Rahmen des IQB-Bildungstrends – tatsächlich bedeutende Verschlechterungen auf.

Welche Rolle spielen soziale Merkmale?
Die geschlechtsspezifischen Unterschiede in den Leistungen fallen laut IQB-Bildungsstudie „stereotyp“ aus: Mädchen erreichen in Deutsch durchweg höhere Werte als Jungen. Vor allem im Bereich Orthografie fallen die Unterschiede ins Auge. Umgekehrt sieht es in Mathematik aus: Jungen erzielen durchweg bessere Leistungen als Mädchen und zwar in allen Kompetenzbereichen und Teildomänen. In der zeitlichen Perspektive haben sich bei diesem Merkmal kaum Unterschiede ergeben.
Der soziökonomische Hintergrund der Schüler/innen ist das zentrale Kriterium zur Beurteilung der Gerechtigkeit eines Bildungssystems. Über diesen Zusammenhang wurde in den letzten Jahren umfassend berichtet. Wenig überraschend wird auch in der aktuellen IQB-Studie ein deutlicher Zusammenhang von sozialer Herkunft und Leistungserfolg konstatiert: Diese Kopplung ist „substanziell“. Die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft hat sich im Durchschnitt nur wenig verändert, jedoch ist die Heterogenität in allen Ländern gestiegen. Dennoch, so die Studie, „ergeben sich im Vergleich der sozialen Gradienten, dem Maß der Kopplung, für die Jahre 2011 und 2016 kaum Unterschiede.“ Der Zusammenhang von Herkunft und Leistung hat sich demnach weder verbessert noch verschlechtert. Allerdings mit Ausnahmen: „Nur in zwei Ländern fällt in einem Bereich die Kopplung zwischen sozialer Herkunft und erreichtem Kompetenzniveau im Jahr 2016 signifikant höher aus als im Jahr 2011: in Baden-Württemberg im Bereich Lesen und in Sachsen im Bereich Zuhören.“ (S. 23 der Zusammenfassung)  
2016 lag der Anteil der Kinder der 4. Klasse, die einen Zuwanderungshintergrund hatten, bei 35 Prozent und damit um 9 Prozentpunkte höher als noch 2011. Der Anstieg geht allerdings nur zu einem geringen Teil auf „echt Zugewanderte“ zurück, das heißt auf Zugewanderte der 1. Generation (2 Prozentpunkte). Dies wird sich bei der dritten Erhebung sicher deutlich anders darstellen. Der Migrationsanteil ist in den Schulen des Landes extrem unterschiedlich und reicht von 13 Prozent der Schulen mit weniger als 5 Prozent Migrant/innen und rund 25 Prozent der Schulen mit einem Migrant/innenanteil von über 40 Prozent.
Alles in allem erzielen Kinder mit Migrationshintergrund in den Kompetenzbereichen des Fachs Deutsch und Mathematik schlechtere Leistungen als Kinder ohne Zuwanderungsgeschichte. Besonders schwer haben es Kinder, wenn sie der ersten Zuwanderungsgeneration angehören und beide Eltern aus dem Ausland stammen. Der Zusammenhang zwischen Migration und Leistung hat sich in der zeitlichen Perspektive ebenfalls kaum verändert.
Ein differenzierterer Blick ergibt sich, wenn man den Zuwanderungsstatus mit dem sozioökonomischen Status koppelt. Ein höherer Status der Zugewanderten führt zu vergleichsweise besseren Leistungen als ein niedriger Status. Außerdem zeigt sich, dass die zu Hause gesprochene Sprache ein Indikator für Leistungsergebnisse ist und unterstreicht die Bedeutung der schulischen Sprachförderung.

Fazit der Studie
Bei den meisten Bundesländern ist das Kompetenzniveau im Lesen stabil geblieben, was die Forscher angesichts der gestiegenen Heterogenität durchaus als Erfolg werten. Neben vielen Verschlechterungen in den Ergebnissen gibt es auch Verbesserungen. Hier sollte man genauer schauen, was diese Länder in den 5 Jahren zwischen beiden Erhebungen verändert haben – und daraus für die eigene Schul- und Unterrichtsentwicklung lernen. Dabei gilt es nach der Empfehlung der IQB-Autoren, dass die Ergebnisse immer in den Gesamtkontext des jeweiligen Bildungssystems eingeordnet werden müssen. Schnellschussanalysen werden weder der Komplexität der Definition und Bewertung der Bildungsqualität noch der Begrenztheit der Studie selbst gerecht.