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Sozialindexbasierte Ressourcensteuerung und multiprofessionelle Teams

Bringen Modellversuche mehr Bildungsgerechtigkeit?

Ende November stellten der Ministerpräsident und die Kultusministerin zwei Modellversuche für Grundschulen als Beitrag zu mehr Bildungsgerechtigkeit vor. Die GEW unterstützt die Ziele, hält die Projekte aber für unzureichend.

Etwa 40 Schulen erhalten zusätzliche Mittel, um einzelne Schüler*innen zu unterstützen.

Ministerpräsident Winfried Kretschmann zeigte sich besorgt über die Ergebnisse des ­jüngsten IQB-Bildungstrends 2021. Viele Schüler*­innen in den vierten Klassen in Baden-Württemberg erreichten die Mindeststandards in Deutsch und Mathe nicht.

Insbesondere Kinder aus sozial benachteiligten Familien oder mit einem Zuwanderungshintergrund haben dort schlecht abgeschnitten.

Der Ministerpräsident gab sich ­entschlossen: „Wir müssen unser Bildungssystem gerechter machen, indem wir Nachteile durch die Herkunft möglichst gut ausgleichen. Jedes Kind braucht die faire Chance, Leistung zu erbringen und etwas aus seinem Leben zu machen. Daran müssen wir in der Grundschule arbeiten, denn dort werden die Grund­lagen für den späteren Erfolg in Schule und Beruf gelegt.“

Erster Modellversuch erprobt Ressourcenzuweisung nach Sozialindex

Die Landesregierung baut daher die individuelle Förderung an Grundschulen aus. Ein Modellversuch zur sozialindexbasierten Ressourcensteuerung in den Staatlichen Schulämtern Tübingen, Biberach und Lörrach ist bereits angelaufen. Etwa 40 Schulen erhalten dort zusätzliche Geldmittel.

Damit können sie zum Beispiel Personen einstellen, die einzelne Schüler*innen beim ­Lernen ­unterstützen. Das Institut für Bildungsanalysen (IBBW) ist beauftragt, einen Sozialindex zu entwickeln. Er soll sich aus verschiedenen Indikatoren zusammensetzen und für eine Schule angeben, wie die soziale Herkunft der Schüler*innen aussieht.

Ab dem Schuljahr 2023/24 sollen die drei Schulämter in den Modellregionen Schulen mit besonderen Herausforderungen auf der Grundlage dieses vorläufigen Sozialindexes zusätzliche Mittel zuweisen. Die Erprobung des Sozialindex ist bis zum Schuljahr 2026/27 geplant. Ab dem kommenden Schuljahr sollen drei Städte, darunter Mannheim und ­Stuttgart, einbezogen werden. Für die Entwicklung und Erprobung eines Sozialindexes sind im Landeshaushalt pro Jahr 1,1 Millionen Euro vorgesehen.

Ein Kommentar von Wolfgang Straub

Ich teile das Anliegen, unser Bildungssystem auf allen Stufen gerechter zu machen und Grundlagen dafür in den Grundschulen zu legen. Ich setze mich seit vielen Jahren für eine gerechtere Ressourcensteuerung ein und befürworte multiprofessionelle Teams an Schulen als pädagogische Bereicherung. Was die Landesregierung jetzt auf den Weg bringt, bleibt jedoch sehr weit hinter diesem Ziel und hinter ihren eigenen Ansprüchen zurück. Es ist mut- und kraftlose Symbolpolitik.

1,1 Millionen Euro für den ­Modellversuch zur sozialindexbasierten Ressourcensteuerung in sechs Regionen, das sind pro Region nicht einmal 200.000 Euro oder der ungefähre Gegenwert für drei Lehrer*innen-Stellen. So viel oder noch mehr gibt das von Winfried Kretschmann zurecht gelobte Hamburg zusätzlich an eine Schule mit besonderen sozialen Aufgabenstellungen. Grundschulen und Stadtteilschulen erhalten auf der Grundlage eines Sozialindexes zusätzliche fachlich ausgebildete Lehrkräfte. Das ist für Baden-Württemberg noch nicht einmal angedacht.

Im Gegenteil, große, meist städtische Grundschulen werden bei der Lehrkräftezuweisung weiterhin stark benachteiligt. Das sind oft Schulen in einem herausfordernden sozialen Umfeld. Jede Schule erhält ihre Lehrkräfte nach der Zahl der gebildeten Klassen.

Der aktuelle Organisationserlass sorgt so Jahr für Jahr dafür, dass vor allem Grundschulen in Kernstädten mit ihren meist großen Klassen bezogen auf ihre Schülerzahl bis zu 50 Prozent weniger Lehrkräfte erhalten, als Grundschulen in sozial bessergestellter Umgebung. Diese höchst ungerechte Verteilung geht zu Lasten sozial benachteiligter Kinder und ist seit vielen Jahren gelebte Bildungsungerechtigkeit im Land.

Kretschmann lobt Hamburg für seine guten Ergebnisse im IQB-Trend. Er sagt gleichzeitig, Schulstrukturen seien nebensächlich und die alten Forderungen nach mehr Lehrkräften seien nicht hilfreich. Das ist eine sehr selektive Wahrnehmung, die wichtige Erfolgsfaktoren ausblendet. Hamburg hat seine Schulstruktur grundlegend reformiert und vereinfacht. Hamburg bildet genügend Grundschullehrkräfte für den eigenen Bedarf aus und kann als eines der wenigen Bundesländer alle Stellen an Grundschulen mit fachlich ausgebildeten Lehrkräften besetzen.

Vor allem aber haben Hamburgs Grundschulen die bundesweit beste Lehrkräfteversorgung. Wir würden in Baden-Württemberg sofort 10.000 weitere Grundschullehrkräfte brauchen, um zu Hamburg aufzuschließen. Das könnten wir kurzfristig gar nicht schaffen.

Zurzeit kann an unseren Grundschulen nicht mehr der volle Pflichtunterricht erteilt werden. Bis zu 10 Prozent des Unterrichts wird dort von Personen erteilt, die keine oder keine vollständige Lehrerausbildung haben. Sie werden auch weiterhin gebraucht. Die Zahl der Grundschüler*innen steigt aktuell und bis zum Ende dieser Legislaturperiode 2026 besonders stark. Allein dieser Anstieg würde etwa 700 neue Vollzeitstellen für Grundschullehrkräfte pro Jahr erforderlich machen. Auch dann wäre noch kein zusätzlicher Spielraum für pädagogische Verbesserungen oder für eine Ressourcenzuweisung nach sozialen Indikatoren vorhanden.

Der geplante Doppelhaushalt 2023/24 sieht aber für alle Schularten zusammen nur 150 neue Stellen im Jahr 2023 und 350 Stellen im Jahr 2024 vor. Deshalb werden sich die Lernbedingungen an unseren Grundschulen Jahr für Jahr weiter dramatisch verschlechtern. Damit setzt die Landesregierung die bestehende Bildungsungerechtigkeit fort.

Menschen mit verschiedenen Berufen arbeiten schon heute in unseren Grundschulen zusammen, zum Teil in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Über die geplanten multiprofessionellen Teams wissen wir noch zu wenig. So bleibt unklar, welche Konzepte die Modellschulen erproben sollen und welche Erkenntnisse das Land bis 2026 daraus gewinnen will. Sicher ist, dass dieses Modell nur im Rahmen eines Gesamtkonzepts zur Verbesserung der Personalsituation in unseren Grundschulen sinnvoll ist. Grundlage muss die ausreichende Versorgung mit ausgebildeten Lehrkräften sein.

Die Kluft zwischen dem Verfassungsauftrag, für mehr Bildungsgerechtigkeit an unseren Schulen zu sorgen und der aktuellen Bildungspolitik der Landesregierung wird immer größer. Grün-Schwarz nimmt in Kauf, dass sich die Bildungschancen einer zunehmenden Zahl von Kindern und Jugendlichen im Land weiter verschlechtern.

Der Landesregierung fehlen der Mut und die Kraft, wirksam und planvoll gegenzusteuern und dabei von den Erfahrungen anderer Bundesländer zu lernen. Es wird Zeit für eine ambitioniertere und nachhaltigere Bildungspolitik, die Bildungschancen und Bildungsgerechtigkeit wirklich verbessert. Davon hängt die Zukunft unseres Bundeslandes ab. Wir sind es den jungen Menschen schuldig!

Zweiter Modellversuch mit multiprofessionellen Teams

In jedem Regierungsbezirk werden vier Modell-Grundschulen den Einsatz multiprofessioneller Teams erproben. Gemeint ist damit, dass an diesen Grundschulen weitere Berufe in das schulische Leben und Lernen einbezogen werden.

Die mit den Lehrkräften g­ebildeten Teams sollen fest im pädagogischen Konzept der Schule verankert werden. Gedacht ist dabei zum Beispiel an Logopäd*innen, Ergotherapeut*innen oder Lerntherapeut*innen. Start der multi­professionellen Teams ist ebenfalls im Schuljahr 2023/2024.

Neben den beiden bis zum Schuljahr 2026/27 befristeten Projekten will die Landesregierung mehr pädagogische Assistent*innen an den Schulen ermöglichen und ein freiwilliges pädagogisches Jahr einführen. Im Doppelhaushalt 2023/24 sind dafür zusätzliche Mittel von 5,3 Millionen Euro vorgesehen.

GEW fordert mehr Fachkräfte für mehr Bildungsgerechtigkeit

Die GEW begrüßt, dass die Landesregierung Schulen in sozialen Brennpunkten zusätzlich fördern will. Sie unterstützt die Vorhaben, multiprofessionelle Teams an Grundschulen einzuführen und zu einer sozialindexbasierten Ressourcenverteilung zu kommen.

Die Modellprojekte hält sie jedoch für völlig unzureichend. Die Landesvorsitzende Monika Stein sagte:

„Bisher will Baden-Württemberg nur kleine Brötchen backen. Angesichts der alarmierenden Befunde wie zuletzt in der IQB-Studie muss mehr getan werden, um Kinder und Jugendliche zu fördern und Baden-Württembergs Nachwuchs fit für die Zukunft zu machen.“

Monika Stein kritisiert, dass den Schulen in den Modellregionen keine zusätzlichen Lehrkräfte zugewiesen werden:

„Um Ressourcen sozialindexbasiert verteilen zu können, müssen die entsprechenden Ressourcen erst einmal vorhanden sein. Derzeit gibt es an den Grundschulen nicht einmal genug Lehrkräfte für den Pflichtbereich. Und im Haushalt werden keine neuen Stellen geschaffen.“

Die im Oktober vorgestellte Bedarfsstudie im Auftrag der GEW hat allein für eine sozialindexbasierte Ressourcenzuweisung einen zusätzlichen Stellenbedarf von 1.900 Lehrkräften errechnet. Die GEW erwartet von der Landesregierung einen Stufenplan, wie der ­Fachkräftemangel behoben und mehr Bildungsgerechtigkeit erreicht werden kann.

Sie setzt sich für eine Enquetekommission Fachkräftemangel und für mehr Investitionen in die Zukunft von Kindern und Jugendlichen ein. Beim Modellversuch zu multiprofessionellen Teams an ausgewählten Grundschulen kritisiert die GEW vor allem, dass es dafür bislang gar kein Konzept gibt und auch keine Informationen, wie Arbeitsverträge für diese Personen fair und attraktiv gestaltet werden sollen.

Kontakt
Ute Kratzmeier
Referentin für allgemeinbildende Schulen
Telefon:  0711 21030-25