G8 oder G9 in Baden-Württemberg?
Bürgerforum empfiehlt Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium
Im Dezember 2023 hat das Bürgerforum zur Dauer des allgemeinbildenden Gymnasiums sein Gutachten mit 48 Empfehlungen an die Landesregierung übergeben. Eine wichtige Forderung der GEW hat erfreulicherweise Eingang in die Ergebnisse gefunden.
Mit klarer Mehrheit sprechen sich die Teilnehmer*innen des Bürgerforums für ein neues G9 als Regelfall an allgemeinbildenden Gymnasien in Baden-Württemberg aus. Ergänzend soll es G8-Schnellläufer-Züge geben – mindestens ein G8-Zug pro Landkreis. Wichtigste Begründung für diese Empfehlung ist der Faktor Zeit: „Eine klare Mehrheit denkt, dass junge Menschen in der Pubertät mehr Zeit brauchen, um sich zu entwickeln, um Verantwortung zu lernen und Orientierung zu finden. G9 ermöglicht einen längeren Reifeprozess.“ Mehrheitlich halten die Teilnehmenden deshalb „eine gut strukturierte, wählbare Ganztagsschule mit Angeboten aus Vereinen, Kooperationspartnern der Praxis, Zeit für zusätzliches Lernen oder Vertiefung von Interessen für zentral, um eine Gleichstellung in Familien und Bildungsgerechtigkeit zu erreichen.“
Mit einem Volksantrag will eine Elterninitiative erreichen, dass die gymnasiale Schulzeit in Baden-Württemberg wieder neun Jahre dauern soll. Bis November 2023 wurden dafür etwas mehr als 100 000 Unterschriften gesammelt und an den Landtag übergeben. Der Landtag wird in Kürze über den Volksantrag entscheiden.
Im Juni 2023 hat die Landesregierung eine dialogische Bürgerbeteiligung zur Frage G8 oder G9 auf den Weg gebracht. Der mehrstufige Prozess hat mit einer Themenlandkarte als Kern der Beteiligung begonnen. Die GEW hat sich an der Erarbeitung beteiligt. Bei der anschließenden Online-Beteiligung konnten alle Bürgerinnen und Bürger ebenfalls Themenvorschläge machen. Für das Bürgerforum wurden 55 ausgeloste „Zufallsbürger“ ausgelost. In sechs Sitzung haben sie seit September 2023 die Aspekte der Themenlandkarte diskutiert. In den Sitzungen bekamen die Teilnehmenden Informationen von Experten. Auch die GEW war dazu eingeladen.
Am 11. Dezember 2023 haben die Teilnehmenden des Bürgerforums ihre Empfehlungen an die Landesregierung übergeben. Die Empfehlungen sind für die Landesregierung nicht bindend. Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat das Kultusministerium beauftragt, bis Januar 2024 Vorschläge zur Wiedereinführung von G9 in Baden-Württemberg zu machen.
Das Bürgerforum sieht jedoch weder bei G8 noch bei einer Rückkehr zum alten G9 gewährleistet, dass mit dem aktuellen Schulsystem die Bildungsziele erreicht werden. Beides müsste reformiert werden. Die große Mehrheit der Teilnehmenden (49 von 55) empfiehlt deshalb „dringend eine ganzheitliche, schulartübergreifende Schulreform für bessere Umsetzung der Bildungsziele, Förderung der Inhalte und Kompetenzen, Reduzierung von Belastungen und für mehr Bildungsgerechtigkeit“. Das Bürgerforum stellt ebenfalls mit großer Mehrheit fest, „dass es aktuell keine ausreichende Bildungsgerechtigkeit gibt, da das Erreichen der Bildungsziele stark vom Bildungsstand, vom finanziellen Hintergrund und den Unterstützungsmöglichkeiten in der Familie abhängt“. Die Bildungspolitik muss aus Sicht des Forums Bildungsungleichheit verringern. Dabei rücken die Förderung in Kitas und Grundschulen vor allem mit Blick auf den Spracherwerb und das Erreichen von Basiskompetenzen in Lesen, Schreiben, Hörverstehen und Rechnen in den Vordergrund. Das Bürgerforum hält es für wichtig, dass G9 mehr Durchlässigkeit zwischen den Schularten ermöglichen kann und wünscht sich, dass vor einer Umstellung auf G9 die Auswirkungen auf die anderen Schularten geprüft werden.
Ein Kommentar von Michael Hirn, stellvertretender GEW-Landesvorsitzender
Das Bürgerforum hat sein Ergebnis vorgelegt und gibt klare Hinweise: Ein Ja zu einer längeren Lernzeit am allgemeinbildendes Gymnasium. Ein ebenso klares Ja dazu, dass die Verlängerung der Lernzeit am Gymnasium nicht isoliert durchgeführt werden soll. Veränderungen sollen das ganze Bildungssystem und die Art des Lernens am Gymnasium in den Blick nehmen.
Und die Reaktionen der Politik? Klar ist: Der Versuch der grün-schwarzen Landesregierung, ohne schulstrukturelle Veränderungen durch die Legislaturperiode zu kommen, wird nicht funktionieren. Die Regierungsparteien müssen sich mit den bildungspolitisch völlig unterschiedlichen Vorstellungen von Grünen und CDU beschäftigen und können sie nicht länger ignorieren. Sie versuchen auf Zeit zu spielen und positionieren sich schon für den Wahlkampf für die Landtagswahl 2026. Die anderen Parteien nutzen die Ergebnisse des Bürgerforums um ihre bekannten Positionen zu legitimieren und kritisieren die Regierung. Auch das im Zeichen der kommenden Landtagswahl. Soweit nichts Neues. Aber seit Dezember gibt es die Idee, dass die Landtagsparteien eine Art Bildungsallianz bilden. Das klingt gut: Die GEW fordert schon lange eine gesellschaftliche und politische Verständigung darüber, was die Bildung in den Kindertagesstätten und den Schulen mittelfristig leisten soll, wie die Strukturen gestaltet werden sollen und was die Schulen und die Beschäftigten dafür brauchen. Wir müssen tatsächlich über die bisherige politische Praxis „Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“ von der einen zur anderen Legislaturperiode hinauskommen.
Wie kompliziert die Diskussion werden wird, zeigt Thorsten Bohl in seinem Interview auf. Er hat Recht: Das Gymnasium kann nicht ohne die anderen Schulen in der Sekundarstufe und die beruflichen Schulen betrachtet werden. Und ohne Verbesserungen in der frühkindlichen Bildung und der Arbeit in den Grundschulen werden wir bei der Bildungsgerechtigkeit und der Verbesserung der Lernergebnisse bei den Schüler*innen nicht erfolgreich sein. Wenn wir nicht etwas Grundsätzliches in der Bildung ändern, setzen wir den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unseres Landes aufs Spiel. Beides können wir uns nicht leisten. Deshalb der Appell an die Politik, die Lehrkräfte und die Gesellschaft: Lasst uns ehrlich über die Bildung, was sie leisten soll und was wir dafür brauchen, sprechen. Und lasst uns einen Masterplan für die nächsten 20 Jahre aufstellen. Uns läuft die Zeit davon und wir können uns parteitaktisch motivierte Spielchen und ideologische Grabenkämpfe nicht mehr leisten.
Die Teilnehmer*innen des Bürgerforums sprechen sich für Reformen bei der Vermittlung von Inhalten und Kompetenzen in allen Schularten, insbesondere jedoch in den Gymnasien aus. So soll mehr Unterrichtszeit für aktuelle gesellschaftliche Themen genutzt werden. Defizite bei der Vermittlung digitaler Kompetenzen sollen verringert und MINT-Fächer gestärkt werden. Sehr klar fordert das Bürgerforum die Entwicklung von neuen kreativen Unterrichtsformaten, die partizipativer sind und Schüler*innen auf Augenhöhe einbinden, Verantwortung fördern und dabei helfen, Sozialkompetenzen zu entwickeln. Zum Lernen, Üben und Vertiefen des Unterrichtsstoffs soll mehr Zeit zur Verfügung stehen.
Im Gegensatz zu den Initiator*innen des Volksantrags zur Wiedereinführung von G9 spricht sich das Bürgerforum für eine gestaffelte Einführung ab Klasse 5 aufbauend aus. Durch gezielte Lenkung und den schrittweisen Ausbau von G9-Gymnasien sollen mögliche Nachteile, wie der komplette Ausfall eines ganzen Abschlussjahrgangs weitgehend abgemildert und vermieden werden. Das Bürgerforum ist sich durchaus bewusst, dass die Umstellung auf ein neues G9 mit großen finanziellen Aufwendungen verbunden ist. Es hält diesen Aufwand aber nach Anhörung von Expert*innen für möglich. Die Teilnehmer*innen des Forums wünschen sich von der Politik eine ganzheitliche Debatte zur Reform des Bildungssystems, um Bildungsziele zu erfüllen und mehr Bildungsgerechtigkeit zu ermöglichen. Dies solle nach ihrer Ansicht nicht auf eine Kostendebatte um G8 / G9 reduziert werden.