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Grundschulempfehlung

Der ewige Streit

Das Ziel ist unstrittig: Die Leistungen der Schüler*innen in Baden-Württemberg und in Deutschland sollen besser werden und möglichst losgekoppelt vom Elternhaus. Doch wie das Ziel erreicht werden kann, darüber ist keine Einigung in Sicht.

Foto: Nadezhda1906

„Die Ursünde grüner bildungspolitischer Fehlentscheidungen war die Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung im Jahr 2012. Sie öffnete dem Chaos an den Schulen, das wir heute haben, Tür und Tor. Seitdem ist die Bildungsqualität in Baden-Württemberg ins Bodenlose abgestürzt. Belegten wir noch bis 2011 – unter schwarz-gelber Führung – Spitzenplätze im Bundesländervergleich, sind wir laut diesjährigem Dynamikranking der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft im Zehn-Jahres-Vergleich auf dem allerletzten Platz 16 der Länder angekommen“.

Klare Worte zur Grundschulempfehlung stehen am 10. November 2023 in einer Pressemitteilung der FDP / DVP-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg. Aber auch: Wahre Worte?

Zunächst muss man sich klar machen, dass eine Grundschulempfehlung, egal ob verbindlich oder nicht, ein hierarchisch gegliedertes Schulsystem voraussetzt. Nur dann ist eine Zuweisung auf eine der Begabung entsprechende Schulart überhaupt erforderlich.

In jedem Bundesland gibt es ein – unterschiedlich stark – gegliedertes Schulsystem und eine Grundschulempfehlung beziehungsweise ein Grundschulgutachten. Wie die „Empfehlung“ zustande kommt und wie der Übergang letztlich entschieden wird, zeigt die Tabelle unten.

Wie die Grundschulempfehlungen im Hinblick auf Leistungsentwicklung und sozialer Gerechtigkeit wirken, wurde in den letzten Jahren wieder vermehrt diskutiert, wobei die Verbindlichkeit im Fokus stand.

Bessere Lernergebnisse durch Homogenisierung?

In der renommierten Zeitschrift für Soziologie wurde 2020 ein Beitrag von Esser/Seuring veröffentlicht, der die Effekte einer strikten Differenzierung nach den kognitiven Leistungen von Schüler*innen untersucht.

In einem mathematischen Modell wurde die „Striktheit“ der Grundschulempfehlung in drei Gruppen aufgeteilt: liberal (fünf Bundesländer), mittelmäßig strikt (fünf Bundesländer) und strikt (drei Bundesländer, darunter Baden-Württemberg). Diese Gruppen wurden dann mit den Leistungsdaten ihrer Schüler*innen in Beziehung gesetzt. Die Ergebnisthese: Wenn es gelingt, die Leistungstrennung sehr streng durchzuführen, sind die Leistungen von Schüler*innen besser als in heterogenen Lerngruppen, und der Effekt der sozialen Herkunft kann verringert werden.

Der Bildungsforscher Klaus Klemm hat sich mit den Ergebnissen von Esser/Seuring auseinandergesetzt und dazu die Ergebnisse der IQB-Untersuchungen herangezogen. Tatsächlich ergibt sich auch bei Klemm das Muster strikte Sortierung – bessere Leistungen – geringere soziale Abhängigkeit. Liberale Sortierung  – schlechtere Leistungen  – stärkere soziale Abhängigkeit.

In einem weiteren Schritt hat Klemm die Leistungen in der IQB-Primarstudie 2018 zu Gruppen nach dem Kriterium „liberale und strikte Länder“ zusammengefasst. Und auch in der Grundstufe findet sich das Muster, „dass sowohl die vier leistungsschwächeren wie auch die leistungsstärkeren Schülerinnen und Schüler in Lesen und in Mathematik in der Mehrheit der Länder, die zu der ‚liberalen‘ Gruppe gehören, schwächere Leistungen erbringen als die Jugendlichen der Länder, die zur ‚strikten‘ Gruppe gehören.“ Mit anderen Worten: Die Verteilung der Leistungsgruppen bestand schon vor der Sortierung. Welche Rolle spielt dann die Grundschulempfehlung? Diese Frage ist zumindest offen. Hinzu kommt, dass die Besuchsquoten der Gymnasien in allen Bundesländern nahezu gleich sind. Die Verbindlichkeit der Empfehlung hat demnach kaum die von ihren Befürworter*innen erhoffte Steuerungswirkung.

Tabelle: in Anlehnung an: Dt. Bundestag | Übergang von der Grundschule auf eine weiterführende Schule der Sekundarstufe I | WD 8 – 3000 – 025/21, *) Nach vier Jahren Grundschule und zwei Jahren Orientierungsstufe

Betrachtet man die unterschiedlichen Schulsysteme in den Bundesländern, zeigt sich allein schon am Kriterium „Grundschulempfehlung/Grundschulgutachten“, wie unterschiedliche diese Empfehlung und der tatsächliche Übergang ­gestaltet sind (vergleiche Tabelle): Einige Bundesländer setzen allein auf (unterschiedliche) Notenschnitte, bei anderen zählen unter anderem auch die Arbeitshaltung dazu, bei einer weiteren Gruppe kann die Grundschulempfehlung durch Probeunterricht oder Tests verändert werden.

Die zahlreichen anderen, für die Leistungsentwicklung ebenfalls wichtigen Komponenten, wie Interaktionsprozesse zwischen den Schüler*innen, die Lehrer*innenausbildung, die Sozialstruktur eines Bundeslandes, einer Region, eines Stadtteils oder die Ausstattung der Schulen sind dabei noch nicht einmal berücksichtigt.

Wenn man dennoch der Maßnahme einer strikten Trennung nach Leistungsvermögen folgen möchte, bedeutet das in der Praxis: Die Grundschulempfehlung muss in eine strikte Übergangsverpflichtung münden, denn anders könnte die kognitive Homogenisierung nicht sicher hergestellt werden. Dies dürfte politisch kaum durchsetzbar sein.

Überzeugen statt Zuweisen

In nahezu allen Ländern der Welt gibt es ohnehin gestufte Schulsysteme. Im Unterschied zu gegliederten Strukturen absolvieren die Schüler*innen dort die Stufen, (Primar – Mittel – Oberstufe) gemeinsam, je nach Land in unterschiedlicher Dauer.

Schaut man sich die Schulsysteme der Länder an, die in PISA regelmäßig gut abschneiden, ergibt sich folgendes Bild:

  • Schweden: neunjährige Grundschule. Chancengleichheit ist die Leitlinie der Bildung.
  • Dänemark: neunjährige Volksschule. Fokus ist die Demokratieerziehung.
  • Estland: Gemeinsamer Unterricht bis Klasse 9. Verpflichtendes Schulvorbereitungsprogramm, Inklusion, freier Zugang zum Gymnasium.
  • Irland: Grundschule bis Klasse 6, danach Auswahl zwischen drei Schultypen: Community School, Vocational School, Voluntary Secondary School. Das „Transition Year“ dient zur Orientierung der Schüler*innen und zur Ausbildung individueller Neigungen.
  • Australien: Grundschule bis Klasse 6, Sekundarschule bis zum 17. Lebensjahr (ohne Trennung in Leistungsgruppen). Schulen sind grundsätzlich kostenpflichtig. Secondary School: Auswahl aus 50 verschiedenen Fächern.
  • Kanada: Grundsätzlich Ganztagsschulen, Kurssystem.
  • Japan und Südkorea: Sechs Jahre Grundschule, je drei Jahre Mittel- und Oberschule. Ist extrem auf Elitenbildung ausgelegt. Extrem hoher Leistungsdruck in allen Stufen.
  • Österreich und Schweiz: Österreich trennt seine Schüler*innen ebenfalls nach Klasse 4. Schüler*innen gehen dann entweder in die Allgemeinbildende Höhere Schulen (AHS) oder in eine Mittelschule über. Daneben gibt es noch Förderzentren für Kinder mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf. Bei PISA-Studien schneidet Österreich leicht besser ab als Deutschland. Anders die Schweiz, die in Mathematik zur Spitzengruppe der PISA-Länder zählt (Rang 8). Auch bei den Lese- und Naturwissenschaftskompetenzen ist die Schweiz überdurchschnittlich, wenn auch nicht so deutlich wie in Mathematik. In allen Kantonen beginnt die Bildungspflicht bereits mit vier Jahren. Nach zwei Jahren Kita geht man in die Primarstufe über. In den Kantonen gibt es eine Vielzahl von Schultypen, gegliedert und integriert. PISA-Koordinator Andreas Schleicher führt die guten Ergebnisse der Schweiz indessen vor allem auf die intensive Beziehungsarbeit von Lehrkräften und Schüler*innen zurück.

Unterschiedliche Ansätze

Man sieht: Die Schulsysteme der Welt sind erwartungsgemäß sehr vielfältig. Was sie eint, ist, dass eine strikte Trennung nach Klasse 4 in Begabungsklassen nur in Österreich und in einigen Kantonen der Schweiz vorkommt – allerdings bei längerer vorheriger Kita- und Schulzeit in der Schweiz und einem zweigliedrigen System in Österreich. Individuelle Förderung, ein großes Angebot an Fächern, verpflichtende Kita-Jahre, Ganztagsschulen – Länder verfolgen unterschiedliche Ansätze, den Kindern gerecht zu werden. Und es gelingt!

Angesichts dessen soll in Deutschland nach wie vor die Aufteilung von zehnjährigen Kindern in drei homogene Gruppen beziehungsweise Schularten der einzig denkbare Weg zu besseren Leistungen und mehr Bildungsgerechtigkeit sein? Angesichts der Entwicklung der aufgeführten Länder in den letzten Jahrzehnten ist meines Erachtens der Gedanke plausibler, dass in einer komplexen Welt und einer heterogenen Gesellschaft andere pädagogische und schulstrukturelle Antworten gefunden werden müssen. Diese Antworten müssen so ausfallen, dass sie von Schüler*innen und Eltern akzeptiert und nachgefragt werden, weil sie die Offenheit von Bildungswegen garantieren. Ein Bildungssystem muss die Eltern und die Schüler*innen überzeugen, nicht sie in eine Schulart zwingen oder ihr zuweisen.

Kontakt
Ute Kratzmeier
Referentin für allgemeinbildende Schulen
Telefon:  0711 21030-25