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Ganztagesbetreuung

Der Rechtsanspruch an Grundschulen kommt

In sprichwörtlich letzter Minute legten Bund und Länder ihren Streit um die Finanzierung der Ganztagesbetreuung bei. Ab dem Schuljahr 2026/27 hat jedes Kind, das eingeschult wird, einen Anspruch auf einen Ganztagsplatz während der Grundschulzeit.

Qualitätsstandards für die zukünftige Ganztagesbetreuung müssen an erster Stelle stehen.
Qualitätsstandards für die zukünftige Ganztagesbetreuung müssen an erster Stelle stehen. (Foto: © imago)

Ministerpräsident Winfried Kretschmann machte sich in der Auseinandersetzung mit dem Bund um den Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz an Grundschulen besonders stark. Auf seine Initiative hin wurde gegen Ende der Legislaturperiode der Vermittlungsausschuss einberufen. Das vom Bundestag bereits beschlossene Gesetz drohte an der Zustimmung der Länder zu scheitern. Am 6. September 2021 konnten sich Bund und Länder dann doch noch verständigen. Der Bund erklärte sich bereit, 3,5 Milliarden von den auf 7,5 Milliarden Euro geschätzten Investitionskosten für bauliche Maßnahmen zu übernehmen. An den jährlich laufenden Betriebskosten von etwa 4,5 Milliarden Euro wird der Bund sich langfristig mit 1,3 Milliarden beteiligen, immerhin 340 Millionen mehr als ursprünglich geplant. Für Kretschmann ein Erfolg: „Dieser Durchbruch ist natürlich zunächst einmal ein riesen Erfolg für Familien und Kinder, die jetzt einen Rechtsanspruch haben, der dauerhaft verlässlich finanziert und qualitativ abgesichert ist. Es ist ein Erfolg für unsere Unternehmen, die händeringend nach Fachkräften suchen. Und es ist ein Erfolg für Länder und Kommunen, die diesen Rechtsanspruch nun sauber finanzieren können. Genau das war unser Ziel. Darum haben wir auf Initiative von Baden-Württemberg den Vermittlungsausschuss einberufen. Und dieses Ziel haben wir jetzt erreicht.“

Kretschmanns Einsatz wird plausibler, wenn man den Sachverhalt genauer betrachtet. Baden-Württemberg ist im Ländervergleich Schlusslicht bei der ganztägigen Bildung und Betreuung. Laut amtlicher Schulstatistik bieten nur etwa ein Drittel der 2.438 Grundschulen Betreuung am Nachmittag an. Und die Teilnahme am Ganztag ist an knapp 600 dieser 760 Angebote freiwillig.

Das Kultusministerium geht derzeit von einem künftigen Betreuungsbedarf von 55 bis maximal 80 Prozent der Grundschulkinder aus. Die Zahlen decken sich mit einer Prognose des Deutschen Jugendinstituts. Die Kluft zwischen dem Angebot und dem Bedarf bei uns im Land ist also groß, größer als in anderen Bundesländern.

Der Rechtsanspruch stellt Gemeinden und Kommunen in keinem anderen Bundesland vor so große Herausforderungen. Laut Schätzungen fehlen hier bis 2026 rund 200.000 Plätze bei rund 400.000 Grundschüler*innen. Gemeinde-, Landkreis- und Städtetag teilen Kretschmanns Euphorie daher nicht. Sie bezweifeln vielmehr, dass die verabredeten Bundesmittel ausreichen und machen sich in einer gemeinsamen Presseerklärung insbesondere über den Fachkräftemangel Sorgen. Sie befürchten, dass der Ausbau zulasten der personellen Versorgung im frühkindlichen Bereich gehe.

Sonderweg Baden-Württemberg ist keine qualitative Absicherung

Zu lange hat sich das Land darauf verlassen, dass gebundene Ganztagsschulen von Kindern und Eltern wenig nachgefragt werden, und sich darauf ausgeruht, dass die Kommunen flexible Betreuungsangebote am Nachmittag bereitstellten. Das ist übrigens für das Land eine kostengünstige Variante. An dieser Form der Schulkindbetreuung, die rechtlich weder im Schulgesetz noch im Kinder- und Jugendhilferecht verankert ist, hält Baden-Württemberg fest.

Bereits im letzten Jahr hat das Kultusministerium mit dem Bund, der die pädagogische Qualität vieler dieser Angebote in Frage stellte, um deren Anerkennung gerungen. Um die geplanten Investitionskosten an alle Länder weiterreichen zu können, tolerierte der Bund schließlich den baden-württembergischen Sonderweg. Der Bund begnügte sich mit einer Protokollerklärung zu einer Verwaltungsvorschrift. Dort, im sogenannten „Qualitätsrahmen Betreuung Baden-Württemberg“, sichert das baden-württembergische Kultusministerium die Einhaltung von verlässlichen Qualitätskriterien für die flexiblen Angebote am Nachmittag zu. Es bestünde die Möglichkeit, die Aufsicht über die Erfüllung der Kriterien an die Kommunen als Schulträger zu delegieren. Das Kultusministerium bleibt allerdings am Ende verantwortlich.

Was Schulkinder brauchen:

  • Anreize für gutes Lernen und um Erfahrungen zu sammeln
  • Räume und Außenflächen für Spiel und Bewegung
  • entspannte Einnahme von Mahlzeiten
  • Zusammensein mit Gleichaltrigen sowie Rückzugsmöglichkeiten
  • Pädagog*innen, die anregen und fachlich kompetent begleiten
  • pädagogische Qualität
  • Ein JA zu Vielfalt und Inklusion!

Was Fachkräfte brauchen:

  • pädagogische Konzepte
  • personelle Mindeststandards
  • Fachkräftegebot
  • Fachkraft-Kind-Schlüssel von 1:10 Kindern
  • Arbeits- und Sozialräume sowie Lärmschutzkonzepte
  • tariflich abgesicherte Arbeitsbedingungen
  • Kooperationszeiten

Der „Qualitätsrahmen Betreuung Baden-Württemberg“ erweckt den Anschein, dass er dem guten „Qualitätsrahmen Ganztagsschule“, der für die Ganztagsangebote nach §4a Schulgesetz gilt, auch inhaltlich gleichkommt. Der Eindruck trügt allerdings, und die GEW steht nicht alleine mit ihrer Forderung auf dringende inhaltliche Nachbesserung. Die Liga der freien Wohlfahrtspflege beispielsweise kritisiert, dass der „Qualitätsrahmen Betreuung BW“ nicht ein einziges objektiv nachprüfbares Qualitätskriterium enthält. Das mache ihn wirkungslos. Von einem Dokument mit dem Namen Qualitätsrahmen seien zumindest quantifizierende Aussagen zu den Themen Personalschlüssel, Fachkraftschlüssel sowie Raumgröße und -ausstattung zu erwarten, so die Liga.

Kretschmann sagte nach der Bund-Länder-Einigung, für ihn sei die Entscheidung ein starkes Signal für mehr Bildungsgerechtigkeit, für mehr Vereinbarkeit von Familie und Beruf und für die Wirtschaft. Nimmt man die derzeitigen Rahmenbedingungen des Landes für die Schulkindbetreuung unter die Lupe, dann trifft seine Aussage höchstens auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und die Wirtschaft zu. Mehr Bildungsgerechtigkeit erreichen wir auf diesem Weg garantiert nicht. Dazu brauchen wir ganztägige Bildungseinrichtungen mit stimmigen pädagogischen Konzepten, die die Rhythmisierung des Ganztags konsequent verfolgen und eine Verantwortungsgemeinschaft von Schule und Jugendhilfe vorsehen. Entscheiden sich Eltern für eine kommunale Schulkindbetreuung, dann müssten diese Angebote zukünftig Qualitätsstandards entsprechend den Horten aufweisen, um Kindern annähernd gleiche und gerechte Bildungschancen zu ermöglichen. Davon sind wir in Baden-Württemberg derzeit noch sehr weit entfernt.

Die Landespersonengruppe sozialpädagogische Berufe an Schulen der GEW Baden-Württemberg fordert:

  • Den unzureichenden „Qualitätsrahmen Betreuung“ zu einem „Qualitätsrahmen Bildung, Erziehung und Betreuung“ zu machen, der den Bedürfnissen der Kinder aus entwicklungspsychologischer Sicht Rechnung trägt. Das Sparkonzept des Landes ist ein Armutszeugnis für das reiche „Kinderland Baden-Württemberg“.
  • Die GEW fordert die Landesregierung auf, für die ganztägige Bildung, Erziehung und Betreuung Mindeststandards analog den Horten festzulegen und die Gemeinden und Kommunen finanziell deutlich mehr zu entlasten.
Kontakt
Heike Herrmann
Referentin für Jugendhilfe und Sozialarbeit
Telefon:  0711 21030-23