Deutscher Schulpreis
Einzig die Qualität zählt
Anfang Oktober wurden die Preisträger des Deutschen Schulpreises 2024 ausgezeichnet. Thorsten Bohl, Professor an der Uni Tübingen, ist Sprecher der Jury und berichtet, wie die Auszeichnung zustande kommt und was er dabei faszinierend findet.
Herr Bohl, Sie setzen sich als Wissenschaftler seit Jahren für ein leistungsfähiges und gerechtes Schulwesen ein. Seit gut zwei Jahren sind Sie Sprecher der Jury des Deutschen Schulpreises. Ist das eine attraktive Aufgabe?
Thorsten Bohl: Die Aufgabe liegt an der Schnittstelle von Forschung und Praxis, die Jury ist hochkarätig, der Preis renommiert und man kann herausragende Schulen besuchen. Ich kann mir kaum etwas Interessanteres vorstellen. Die Sprecherfunktion ist anspruchsvoll und mit einer hohen Verantwortung verbunden. Um das Verfahren erfolgreich durchzuziehen und am Ende zu einem gut begründeten Ergebnis zu kommen, muss man jeden Schritt sehr sorgfältig gehen.
Der Schulpreis kürt jedes Jahr die besten sechs Schulen Deutschlands. Die Auszeichnung hat dieses Jahr der Kanzler übernommen, letztes Jahr überreichte der Bundespräsident die Preise. Ist Ihnen wohl dabei, eine Auswahl zu treffen? Sind Sie sicher, die richtigen Schulen auszuzeichnen.
Bohl: Ich habe ein gutes Gefühl dabei. Das Verfahren ist aufwendig und in mehrere Phasen – Sichtung Bewerbung, Interview, Schulbesuche - unterteilt. Es ist nicht von Anfang an klar, welche Schule gewinnt. Es kommt vor, dass Schulen eine gute Bewerbung abgeben, aber beim Schulbesuch merken wir, dass sie noch nicht so weit sind. Oder andersherum. Insofern muss man die Qualitäten der Schulen herausarbeiten und sorgfältig klären.
Mir ist auch wohl dabei, weil es nicht nur darum geht, einen Wettbewerb zu veranstalten und am Schluss sechs Schulen zu küren. Was an diesen Schulen gut läuft und was sie auszeichnet, will die Robert Bosch Stiftung, Träger des Preises, in die Fläche tragen. Das macht den Preis erst so richtig attraktiv. Es gibt beispielsweise das Preisträgernetzwerk mit allen Schulen, die seit 2006 ausgezeichnet wurden. Sie treffen sich einmal im Jahr, bekommen Fortbildungen und Unterstützung. Alle Lehrkräfte können von der Arbeit profitieren, zum Beispiel an Online-Veranstaltungen teilnehmen oder die Preisträgerschulen besuchen.
Zur Jury gehören 50 Expert*innen. Wie kommt ein so großer Kreis zu einer Entscheidung?
Bohl: Zunächst sichten Kleingruppen alle Bewerbungen. Zu jeder Kleingruppe gehören Menschen aus der Praxis, aus der Schulverwaltung und aus der Wissenschaft. Über differenzierte Begründungen bereiten sie Online-Interviews vor. Interviewt werden die Schulleitung, Lehrkräfte, Eltern und Schüler*innen. Nach den Interviews findet die erste Jury-Sitzung statt. Dabei wählt die Jury 20 Schulen aus, die einen zweitägigen Schulbesuch bekommen.
Ist die erste Auswahl schon schwierig? Diskutiert die Jury dabei?
Bohl: Es wird immer viel diskutiert. Jede Schule wird auf der Sitzung intensiv durchgesprochen und gewürdigt.
Das beansprucht vermutlich viel Zeit. Beim letzten Durchgang starteten knapp 90 Schulen.
Bohl: Die erste Jurysitzung dauert zwei Tage und folgt einem ausgeklügelten System. Eine Person aus jeder stellt die Schule vor und muss alle Fragen der Jury beantworten können. Am Ende zählt entlang der Qualitätskriterien das bessere Argument. Es gibt sechs Qualitätsbereiche, die in verschiedene Leitfragen konkretisiert sind.
Grundlage des Deutschen Schulpreises sind sechs Qualitätsbereiche:
- Unterrichtsqualität
- Leistung
- Umgang mit Vielfalt
- Verantwortung
- Schulklima, Schulleben und außerschulische Partner
- Lernende Schule
Jeder Bereich wird näher erläutert und mit Leitfragen unterfüttert. Zur Unterrichtsqualität wird beispielsweise ausgeführt: „Der Deutsche Schulpreis sucht Schulen, die ein begründetes Qualitätsverständnis formulieren und dafür sorgen, dass alle Schüler*innen innerhalb und außerhalb des Klassenzimmers in vielfältigen Lernformen ihre fachlichen, überfachlichen und personalen Kompetenzen weiterentwickeln. Die Schulen befähigen ihre Schüler*innen, ihr Lernen selbst in die Hand zu nehmen, und schaffen Bedingungen für Wohlbefinden, Motivation und Freude beim Lernen.“
Träger des Deutschen Schulpreises
Die Robert Bosch Stiftung finanziert und verantwortet den Preis gemeinsam mit der Heidehof Stiftung. Kooperationspartner sind die ARD und die ZEIT Verlagsgruppe. Die beiden Stiftungen unterstützen bundesweit Schulen bei ihrer Schulentwicklung und bieten dazu praxisorientierte Programme für alle Schularten an. Im Mittelpunkt steht dabei die hervorragende pädagogische Arbeit, die viele gute Schulen in Deutschland bereits leisten. Der Preis wird seit 2006 vergeben.
Das zugehörige Deutsche Schulportal bietet viele Praxisbeispiele, Online- und Präsenz-Veranstaltungen, aktuelle Artikel, Umfragen, Studien oder Einschätzungen zur Schul- und Unterrichtsentwicklung. Auch aktuelle Entwicklungen werden dort aufbereitet. Im Dezember 2024 wurde beispielsweise aufgrund eines neuen Gesetzes in Australien eine Umfrage zur Frage „Sollten soziale Medien für Kinder unter 16 auch in Deutschland verboten sein?“ gestartet. Attraktiv sehen auch die Veranstaltungsangebote aus. Es gibt beispielsweise eine Veranstaltungsreihe, in der jeweils eine Preisträger-Schule des Deutschen Schulpreises 2024 ihren Entwicklungspfad darstellt.
Die 20 ausgewählten Schulen bekommen dann Besuch.
Bohl: Wieder von einer anders gemischten Kleingruppe. Dann beobachtet die Jury zwei Tage eine Schule nach einem logistisch gut vorbereiteten Verfahren. Wir können in jede Klasse reingehen, jede Zimmertür aufmachen, jeden Unterricht besuchen.
Das ist eine große Aufregung für die Schule.
Bohl: Absolut.
Wie ist ein Schulbesuch für Sie als Jury-Mitglied?
Bohl: Unfassbar spannend. Die Besuche sind das Highlight des Verfahrens. Ich war im letzten Verfahren zufällig an zwei Schulen, die einen Preis gewonnen haben. Es war fantastisch zu sehen, dass es Schulen gibt, die sehr gut funktionierende Konzepte haben, um mit Heterogenität umzugehen. Mit dabei sind alle Schüler*innen: von denen mit geistiger Beeinträchtigung bis zu Hochbegabung. Die Schulen schaffen das im Alltag, sehr souverän, auf hohem Niveau. Das ist sehr beeindruckend. Und es ist toll, mit jedem reden zu können, vom Hausmeister über die Sekretärin bis zur Schulleitung.
Spüren Sie die Stimmung an der Schule, auch wenn die Schule gut vorbereitet ist?
Bohl: Das lässt sich nicht verbergen. Wir sind eine Gruppe mit viel Erfahrung, kennen Schulen aus verschiedenen Perspektiven und wissen, wie eine Schule funktioniert. Wir fragen auch viel nach. Das ist ein hochkonzentriertes, eng getaktetes Arbeiten. Nach diesen zwei Tagen sind wir fix und fertig.
Wenn Sie nachfragen, haben Sie dann Ihre Forschungsprojekte im Kopf?
Bohl: Ich sehe etwas an der Schule und überlege, was ist gut daran, wie passt das zum Forschungsstand? Manchmal beobachte ich auch etwas, was noch nicht erforscht wurde. Daraus ergeben sich neue Fragen. Schulen müssen nicht auf jede Frage eine fertige Antwort haben. Wie sie reflektieren oder zu einer Lösung kommen, darin zeigt sich Qualität.
Fällt Ihnen dazu ein Beispiel ein?
Bohl: An einer Preisträgerschule fand ich sehr eindrücklich, dass die Schulleiterin auf ganz viele Fragen gar nicht viel gesagt hat, sondern immer Leute aus der Steuerungsgruppe und dem Schulleitungsteam geantwortet haben. Über die Antworten wurde schnell klar, dass sie eine gute Arbeitsteilung haben, und die Zuständigkeiten geklärt sind. Alle wissen, was zu tun ist. Die Schulleiterin wusste genau, wie die Fäden zusammenlaufen.
Das fällt mir immer wieder auf: In einer guten Schule muss heute nicht die Schulleitung für alles eine Lösung haben und sagen, wie es laufen muss. Dafür sind die Schulen viel zu komplex geworden. Eine gute Schule hat vielmehr ein sehr ausdifferenziertes Schulleitungsteam mit klaren Zuständigkeiten. Die Aufgabe der Schulleitung ist, die Prozesse zu steuern.
Wie geht es weiter, wenn Sie zwei Tage an der Schule waren?
Bohl: Ein Jurymitglied jeder Gruppe schreibt den Entwurf des Abschlussberichts über die Schule, alle Mitglieder der Gruppe prüfen ihn kritisch. Diese Berichte sind die Grundlage für die zweite Jury-Sitzung. Aus 20 Schulen werden 15 nominiert und sechs als Preisträgerschulen ausgewählt. Die 15 nominierten Schulen werden zur Preisverleihung nach Berlin eingeladen. Sie wissen aber noch nicht, wer den Preis bekommt. Es gilt absolute Verschwiegenheit.
Wie finden Sie die Gewinnerschulen?
Bohl: Jede Schule wird in der zweiten Jurysitzung wieder von einem Jury-Mitglied vorgestellt, in der Regel die Person, die auch den Bericht nach dem Schulbesuch geschrieben hat. Die Vortragenden werden zu jeder Schule intensiv befragt. Manchmal geht es hart her. Es ist ja nicht so, dass alle Wissenschaftler*innen oder alle aus der Praxis dieselbe Meinung haben. Wichtig ist, genau zuzuhören und die passenden Fragen zu stellen.
Bei wissenschaftlichen Tagungen diskutieren wir auch intensiv. Der Unterschied zu der zweiten Jury-Sitzung ist aber, dass wir dort über Schulen auf einem hohen Niveau diskutieren und eine konkrete Schule vor uns haben. Neulich hat ein Jury-Mitglied gesagt, eigentlich müsste man für diese Sitzung Eintritt verlangen, weil man dabei über Schulqualität so viel lernen kann.
So wie Sie den Prozess beschreiben, spielt es keine Rolle, woher die Schulen kommen. Dieses Jahr haben vier Schulen aus NRW und zwei aus Berlin gewonnen. Einen Länderproporz gibt es also nicht.
Bohl: Wir entscheiden ausschließlich nach Qualität. Letztes Jahr waren drei Grundschulen dabei, dieses Jahr gar keine. Dieses Jahr haben wir auch darüber diskutiert, ob eine Förderschule einen Preis bekommen kann, wenn Inklusion eine Zielsetzung ist und das Festhalten an Sonderschulen nicht von allen geschätzt wird. Wir fragen uns jedoch, was eine Schule für ihre spezifischen Schüler*innen tut? Wo sieht man Qualität? Da spielt die Schulart keine Rolle.
Eine Strukturfrage stellen Sie nicht?
Bohl: Die Qualitätsfragen stellen sich unabhängig von den Schularten. Wenn man beispielsweise nur Schulen nehmen würde, die demokratisch in besonderer Weise engagiert sind, die Inklusion betreiben, die bei PISA gut abschneiden oder so, dann würden wir sehr viele Schulen ausschließen. Wir können diesen normativen Ansprüchen nicht gerecht werden.
Wenn die Schulen qualitativ ganz nah beieinanderliegen, dann könnte ein Bundesland oder eine Schulart den Ausschlag geben.
Bohl: Das ist aber kein Qualitätskriterium. Dieses Jahr haben zwei Gemeinschaftsschulen aus Berlin, die zudem noch fast beieinander liegen, gewonnen. Beide haben den Qualitätskriterien entsprochen.
Die Geldgeber mischen sich nicht ein?
Bohl: Sie setzen den Rahmen und entscheiden gemeinsam mit uns, dem Sprecher*innenteam, wer Jury-Mitglied wird. Aber die Jury ist in der Diskussion völlig frei. Das zeigt sich unter anderem daran, dass ein Bundesland oder eine Schulart eben nicht den Ausschlag geben.
Sie haben über Gemeinschaftsschulen viel geforscht. Interessiert Sie die Schulart mehr als andere?
Bohl: Ich interessiere mich vorrangig für Sekundarschulen, das ist mein Forschungsfeld, für die bin ich beim Schulpreis auch zuständig. Aber ich interessiere mich genauso für Gymnasien oder Realschulen. Aus meiner Sicht ist der Umgang mit Heterogenität ein zentrales Thema, unabhängig von der Schulart. An keiner Schulart gibt es eine homogene Schülerschaft. Nicht umsonst ist der Umgang mit Vielfalt eine Qualitätsdimension im Deutschen Schulpreis. Es wäre schlimm, wenn ich eine Schulart bevorzugen würde.
Verändert Ihre Arbeit für den Deutschen Schulpreis Ihren Blick auf Schulen? Werden Sie anspruchsvoller, wenn Sie sehen, dass innovative Konzepte umsetzbar sind?
Bohl: Zunächst finde ich es fantastisch zu sehen, dass es solche Schulen gibt. Der Wissenschaft wird oft vorgeworfen, sie fordere etwas von Schulen, was gar nicht einlösbar sei. Das Pendeln zwischen Forschung und gelungener Praxis ist nicht nur für mich sehr ertragreich. Wenn ich mit Studierenden diskutiere, berichte ich über den Forschungsstand und ich kann auch aus Schulen erzählen, die das umsetzen. Das ist sehr viel eindrücklicher als ein reiner Forschungsbefund.
Manchmal irritiert die Praxis auch. Beispielsweise die Förderschule, die den diesjährigen Preis gewonnen hat. Die Schüler*innen dort müssen ein ordentliches Paket mit sich rumtragen. Und trotzdem machen die Lehrkräfte einen Unterricht, der sehr auf Selbstständigkeit ausgerichtet ist. Der Forschungsstand sagt aber eigentlich, dass Schüler*innen, die mit Lernen große Schwierigkeiten haben, nicht so selbständig lernen können. Aber das gelingt dort. Und es ist interessant zu sehen, dass es dort gelingt, weil ein ausgeklügeltes Unterstützungssystem dahintersteckt. Davon können andere lernen.
Das Engagement der Lehrkräfte geht sicher über die 41 Stunden hinaus, die die Lehrkräfte eh schon arbeiten müssen.
Bohl: Auch viele andere Lehrkräfte arbeiten viel mehr. Wenn Schulen gut arbeiten, sieht man aber auch, dass sie entlastet sind. Das darf man nicht leichtfertig sagen. Wenn es aber ein funktionierendes, gemeinsam getragenes Konzept zum Beispiel zum Umgang mit Heterogenität gibt, die Materialien bereitliegen, Fachschaften darauf hinarbeiten, dann ist man als Lehrkraft immens entlastet.
Das Interview führte Maria Jeggle.