Zum Inhalt springen

Realschule

Es braucht ein ganzes Dorf

Die Gottlieb-Daimler-Realschule in Ludwigsburg ist umgeben von Sportstätten, entsprechend vielseitig sind die Sportangebote. Das macht die Schule attraktiv für Schüler*innen aus dem größeren Umfeld, schützt aber nicht vor allerlei Nöten und Sorgen.

Schulleiter Hartmut Meier (rechts) und Tobias Stüer (links), stellvertretender Schulleiter der Gottlieb-Daimler-Realschule in Ludwigsburg
Schulleiter Hartmut Meier (rechts) und Tobias Stüer (links), stellvertretender Schulleiter der Gottlieb-Daimler-Realschule in Ludwigsburg (Foto: Evi Maziol)

Tobias Stüer schließt die Tür zur Schule auf. Es sind Faschingsferien. Rektor Hartmut Meier und Konrektor Stüer kommen zum Gespräch mit der GEW. Im Lehrerzimmer stehen noch Pinnwände vom Tag der offenen Tür vom Freitag vor den Ferien. „Normalerweise ist es hier aufgeräumter“, entschuldigt sich Stüer, bevor er Kaffee holt. Aufräumen würde wohl nur bedingt helfen. Der große Raum ist zu klein für die über 60 Lehrkräfte der Gottlieb-Daimler-Realschule (GDRS) in Ludwigsburg.

Besserung ist in Sicht. Bodenhaufen und schweres Gerät vor der Schule zeigen: Hier wird gebaut. Die Realschule samt dem nebenstehenden Otto-Hahn-Gymnasium bekommen einen Neubau. Bis 2030 soll alles fertig sein. „Wir sind beim Neubau als Team aufgetreten und hatten gegenüber der Verwaltung damit mehr Durchschlagskraft“, erzählt Meier und klingt zufrieden. Die Schulen würden auch sonst gut kooperieren. Beide haben einen bilingualen Zug und ein Sportprofil. Die Trainingsbedingungen sind hervorragend. Auf dem Campus steht die Rundsporthalle der Stadt, die Schulen haben ein eigenes Stadion und eine besonders gut ausgestattete Schulsporthalle.

Profile stärken die Realschule

Das Sportprofil hat die Schule schon vor rund 20 Jahren eingeführt. In Klasse 5/6 gibt es dafür eine Stunde mehr Sport, ab Klasse 7 kann Sport als Wahlpflichtfach gewählt werden und wird dadurch zum Kernfach mit zwei Stunden Fachpraxis und einer Stunde Sporttheorie. Auch außerunterrichtliche Zusatzangebote bietet die Schule in vielen Sportarten an. Im Rahmen von „Jugend trainiert für Olympia“ gewinnen Schüler*innen immer wieder Wettkämpfe in Basketball, Leichtathletik und Fußball. Diese Angebote machen die Schule attraktiv, so dass das Einzugsgebiet groß ist. Schüler*innen pendeln von Stuttgart, Bietigheim und anderen umliegenden Gemeinden. Manche Schülerinnen und Schüler kommen sogar aus München oder Dresden. Sie wohnen im Vollzeitinternat, das auf dem Schulcampus liegt. „Profile helfen, die Realschule zu stärken“, ist Tobias Stüer überzeugt. Daher ist den beiden neben dem Sportzug auch der bilinguale Zug ein Anliegen.

Die Stärkung sei auch dringend nötig, meint Hartmut Meier. Seit der grün-roten Schulreform 2011 habe sich die Schülerschaft in der Realschule stark verändert. Sie sei ein Schlag gegen die Realschulen gewesen. 40 Prozent der Realschüler*innen würden mittlerweile mit einer Hauptschulempfehlung an der GDRS angemeldet. „Eltern lassen sich auch in Beratungsgesprächen nicht davon abbringen, ihr Kind an der Realschule anzumelden, auch wenn auf die Schwierigkeiten klar hingewiesen wird“, erklärt Meier. Für viele Eltern sei es ein Prestigegewinn, wenn sie sagen könnten, ihr Kind geht auf eine Realschule.

Sehr viele der Kinder kämen freudestrahlend an der Schule an und schon nach wenigen Wochen, „hängen die Mundwinkel nach unten, weil sie überfordert sind“, berichtet der Schulleiter. Ein zentrales Problem jeder Realschule sind die ersten beiden Klassen 5 und 6. Die Lehrkräfte können zwar differenziert unterrichten, aber benotet wird nur auf dem mittleren Niveau. Das ist politisch gewollt. „Zwei Jahre Frust. Das tut den Kindern nicht gut“, sagt Meier. Es wundert ihn nicht, dass diese Kinder „Faxen machen“. Erst nach der 6. Klasse dürfen die Schüler*innen auf dem G-Niveau bewertet werden. Bis dahin müssen sich leistungsschwache Schüler*innen irgendwie durchschlagen. Ein Irrsinn!

Eltern in die Verantwortung nehmen

Der Schulleiter würde gerne die Eltern mehr in die Pflicht nehmen. Doch einfordern kann er nichts. Eltern müssen nicht einmal mehr zur Anmeldung der Kinder in die Schule kommen, sie können nicht verpflichtend zum Gespräch gebeten werden. Selbst ein Schulausschluss ist möglich, ohne dass die Eltern nur ein einziges Mal in der Schule waren. Weil beide Elternteile Verpflichtungen hätten, seien viele Kinder früh auf sich alleine gestellt. Sie beschäftigen sich zu lange mit digitalen Geräten, kapseln sich ab, schlafen zu wenig. Sie kommen morgens müde zur Schule, manche kommen gar nicht. Die Fehlzeiten mancher Schüler*innen seien immens. Viele Eltern würden sie schon bei Kleinigkeiten entschuldigen.

Wenn ein Kind in der Schule klagt, ihm sei schlecht, dann bleibt Lehrkräften oft nichts anderes übrig, als sie nach Hause zu schicken. „Es wäre gut, wenn wir medizinisches Personal an der Schule hätten, das entscheiden kann, ob das Kind krank ist oder nur keine Lust hat“, erläutert Meier. 764 Schüler*innen besuchen die Realschule, zusammen mit dem Gymnasium und der Grundschule, die ebenfalls auf dem Campus sind, könnte gut externes Personal eingestellt werden. Die Liste der Bedürfnisse an multiprofessioneller Unterstützung ist lang: Schulpsycholog*innen, Schulsozialarbeiter*innen, Verwaltungsassistenz, Schulbegleitungen. „Das Dorf muss in die Schule kommen“, sagt der Schulleiter und bezieht sich dabei auf das afrikanische Sprichwort: „Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf.“ Das Umfeld der Kinder habe sich die letzten Jahre sehr verändert. Bindungen an Vereine, soziale Treffpunkte oder Jugendgruppen seien verloren gegangen. Zu Hause gebe es oft keine gemeinsamen Mahlzeiten, kaum Gespräche, kein Vorlesen. So bleibe nur die Schule, die ausgleichen müsse, was Eltern und die Gesellschaft nicht mehr leisten.

„Eigentlich sollten die 5.-Klässler*innen schwimmen können, wenn sie zu uns an die Schule kommen“, nennt der Konrektor ein Beispiel. Von rund 100 neu eingeschulten Kindern könnten es aber nur 60 bis 70 Schüler*innen. Über 20 hätten sich nicht einmal ins Wasser getraut. So hat die Schule während der Unterrichtszeit Schwimmkurse organisiert. Gestartet sind sie mit Wassergewöhnung, bei der die Schüler*innen einfach mal den Kopf unters Wasser stecken mussten.

Einen großen Nachholbedarf gebe es aber nicht nur beim Schwimmen, sondern auch in Mathe und Deutsch, betont Stüer. Die Schule kann das allerdings nicht abdecken. Es fehlen Lehrkräfte und der Krankenstand kann schon mal 20 Prozent betragen. „Wir verwalten den Mangel“, bedauert Meier. So gibt es beispielsweise im Notfall nur ein halbes Jahr lang Geografie. Meier treibt es besonders um, dass die guten Schüler*innen zu kurz kommen. 20 Prozent der Schüler*innen absorbierten 80 Prozent Lehrkräfte-Ressourcen. „Das schmerzt uns und ist doch kein Zustand auf Dauer“, beklagt er sich.

Welche Möglichkeiten sehen sie? „Alle Schulformen haben einen enormen Schul-Entwicklungsbedarf“, konstatiert Stüer, der bereits an einer Gemeinschaftsschule gearbeitet hat. Vereinzelte Konzepte dieser Schulart finden sich auch hier: Ein Fach „Lernen lernen“ oder Lerncoaching gibt es schon. „Wir wollen auf jeden Fall das mittlere Niveau abbilden, aber auch nach rechts und links schauen“, erklärt Stüer. Es sei an der Zeit, die Kinder in den Fokus zu nehmen. Jetzt müsste Geld in die Schulen und nicht ausschließlich in die Wirtschaft fließen. Ohne Nachwuchs könne auch die Wirtschaft nicht bestehen. „Ich sehe nicht, dass aktuell in der Politik jemand wirklich auf die Kinder schaut.“

Den größten Veränderungsbedarf sehen die Schulleiter in der Orientierungsstufe. Ihre Idee geht so: Die 5. Klasse nutzen, um ein Jahr lang Stoff zu wiederholen und die Schüler*innen auf den gleichen Stand zu holen. Mit Hilfe von zentralen Diagnosearbeiten in allen Fächern über das Jahr hinweg immer wieder erarbeiten, auf welchem Niveau die Kinder stehen und dies den Schüler*innen und Eltern konsequent rückmelden. Am Ende des Schuljahrs findet eine Niveauzuweisung statt. Kinder auf G-Niveau werden dann ab Klasse 6 in kleineren Klassen mit guter Personalausstattung unterrichtet. So könnte man den leistungsschwachen Kindern gerecht werden. Und es bliebe Zeit und Kraft, sich um stärkere Schüler*innen zu kümmern.

Kontakt
Maria Jeggle
Redakteurin b&w
Telefon:  0711 21030-36