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Interview

„Für autistische Kinder ist viel Verständnis nötig“

Die Diplompädagogin Dagmar Fojkar berichtet von den Erfahrungen, die sie und ihre Kolleg*innen mit der Schulassistenz machen – und erklärt, unter welchen Bedingungen Integrationshilfe gelingen kann.

Die GEW-Landesfachgruppe ambulante und stationäre Kinder- und Jugendhilfe mit Dagmar Fojkar (Mitte)
Die GEW-Landesfachgruppe ambulante und stationäre Kinder- und Jugendhilfe mit Dagmar Fojkar (Mitte)

Als Integrationsfachkraft begleitete Dagmar Fojkar fast neun Jahre lang einen autistischen Jungen bei seinem Schulbesuch. Im Sommer absolvierte Jonas den Hauptschulabschluss, trotz Pandemie.

Dagmar, du hast einen autistischen Jungen fast seine gesamte Schulzeit über als Schulassistentin begleitet. Wie war eure erste Begegnung und wie begann deine Arbeit mit Jonas?

Dagmar Fojkar: Als ich Jonas kennenlernte, war er der typische Bodengucker. Autisten versuchen dadurch, Reize zu reduzieren. Er war noch in der ersten Klasse und sprach maximal Ein- bis Zwei-Wort-Sätze. Über seinen Schulranzen sind wir beim ersten Treffen in Kontakt gekommen, mehr ging an diesem Tag nicht.

Wann wurde sein Autismus diagnostiziert?

Dagmar: Jonas hatte das Glück, in seiner Kita eine sehr aufmerksame Erzieherin zu haben: Ihr war aufgefallen, dass der Junge in der Regel alleine spielte und routinierte Dinge tat. Sie machte die Eltern darauf aufmerksam und regte eine Untersuchung an. Mit der Diagnose Autismus war die Verunsicherung bei den Eltern groß. Bei unserer ersten Begegnung fragte mich Jonas‘ Mutter, inwieweit ihr Kind jemals im Stande sein würde, alleine zu leben. Das sind begründete Sorgen. Integrationsfachkräfte oder sogenannte Schulassistent*innen sind auch Ansprechpersonen für die Eltern. Wir haben nicht nur die Aufgabe, das autistische Kind zu begleiten.

Wie sah deine Unterstützung konkret aus?

Dagmar: Am Anfang konnte ich neben Jonas sitzen und nahe an seinem Ohr sprechen. So wurden wir erst darauf aufmerksam, dass sein Hörvermögen eingeschränkt war. Eine frühere Ohrentzündung war Ursache dieses Handicaps. Mit der Behandlung konnte Jonas dann recht schnell lernen, Mehr-Wort-Sätze zu bilden. Das war ein großer Fortschritt. Schwierig hingegen blieben Sing- und Tanzspiele. Autisten haben Probleme, sich zu drehen. Es fehlte Jonas auch an Raumverständnis, sodass er eine Zeichnung beispielsweise ganz klein unten in die Ecke eines Blattes setzte. Meine Aufgabe war es dann, mit der Lehrkraft seine Möglichkeiten und Grenzen zu thematisieren.

Konntest du ihm Hinweise geben, was er anders machen kann?

Dagmar: Als Schulbegleitung darf ich inhaltlich nicht helfen, aber Hinweise geben, die das Kind strukturell unterstützen. Autistische Kinder brauchen feste Strukturen und es hilft, wenn sie wenig Ablenkungen erfahren. Autisten lassen sich sehr leicht ablenken, vor allem durch Geräusche. Es kann niemand etwas daran ändern, wenn ein Flugzeug lärmt. Es gab aber Kinder in der Klasse, die bewusst Geräusche machten, mit dem Stift klopften oder mit der Zunge schnalzten. Diese Geräusche warfen Jonas aus der Bahn, das Lernen war ihm dann nur schwer oder gar nicht möglich.

„Eine gute Kooperation zwischen Schulassistenz und Lehrkräften ist Voraussetzung für den schulischen Erfolg ­autistischer Kinder.“  (Dagmar Fojkar)

Was konntest du dagegen tun?

Dagmar: Wichtig ist, dass Schulassistenz und Lehrkraft an einem Strang ziehen und versuchen, Störungen zu unterbinden. Es braucht viel Verständnis dafür, dass autistische Menschen andere Denk- und Lernstile haben. Autismus ist keine Krankheit, sondern eine neurologisch bedingte Entwicklungsstörung, die eine andere Art der Wahrnehmungsverarbeitung und der sozialen Interaktion und Kommunikation mit sich bringt. Autistische Kinder können unter guten Bedingungen ihren Schulabschluss erlangen. Das haben wir ja auch bei Jonas gesehen. Es konnte sein, dass sich Jonas schlecht konzentrieren konnte. Meist war es aber so, dass er die Frage zwar verstand, nur eine Zeitlang überlegen musste, bis er antwortete. Später sagte er manchmal: „Warte,“ und dann kam irgendwann die Antwort, manchmal nach Minuten. Meine Aufgabe war hier zu vermitteln, Verständnis für die besondere Situation zu schaffen.

Wo fehlt mehr Verständnis? Bei den Mitschüler*innen oder bei den Lehrkräften?

Dagmar: Insbesondere auch bei den Lehrkräften. Die Haltung der Lehrkräfte spielt nämlich eine große Rolle, damit autistische Kinder die Schule mit einem Abschluss verlassen können. Eine gute Kooperation mit den Lehrkräften ist Voraussetzung für den schulischen Erfolg der Kinder. Sie gelingt nicht immer.

Kannst du Beispiele nennen?

Dagmar: Eine Kollegin erzählte, dass sie bei einer Klassenfahrt nicht mitgenommen werden sollte. Damit wäre auch das begleitete Kind von der Fahrt ausgeschlossen gewesen. Eine andere Kollegin ärgerte sich jüngst darüber, dass eine Lehrkraft „ihrem Schüler“ nicht zutraute, den Abschluss zu schaffen beziehungsweise einen Beruf zu erlernen. Dabei ist es so wichtig, dass wir uns an den Fähigkeiten der Kinder orientieren und an sie glauben. Manchmal konnten Gespräche mit der Schulsozialarbeit die Kooperation verbessern.

Es gibt auch Lehrkräfte, die aus gut gemeinten Beweggründen heraus meinen, alle Kinder müssten gleich behandelt werden. Schließlich hätten auch andere Kinder Einschränkungen und diese würden dann benachteiligt. Hier wird aber verkannt, dass es für autistische Kinder bereits außerordentlich anstrengend ist, wenn sie einen Vormittag lang am Schulunterricht teilnehmen, sich konzentrieren und inhaltlich folgen. Sie haben einen besonderen Nachteil und genau aus diesem Grund wird ihnen zum Ausgleich eine Schulassistenz zur Seite gestellt.

Ist die Unterstützungsleistung auf die Schule begrenzt oder hast du auch bei Hausaufgaben geholfen?

Dagmar: Die Schulassistenz ist auf die Zeit in der Schule begrenzt. Das war während der Pandemie schwierig, als die Kinder nicht mehr in die Schulen konnten und der Unterricht online lief. Ich hatte in dieser Zeit nur Online-Kontakt zu Jonas.

Konntest du Jonas dann noch eine Hilfe sein?

Dagmar: Für einen Autisten ist es im normalen Unterricht schon schwierig, Beiträge zu leisten. Online hat Jonas, auch wenn er angesprochen wurde, nicht geantwortet. Jonas nahm aus der Küche am Unterricht teil. Die Mutter war dann sehr präsent, was eine Umstellung für ihn bedeutete. Die Pandemie war für alle eine große Herausforderung, für autistische Kinder war die Zeit besonders schwierig.

Dennoch hat Jonas den Abschluss während der Pandemie geschafft, das ist bemerkenswert. Welche Verbesserungsmöglichkeiten gäbe es deiner Ansicht nach?

Dagmar: Jonas hat den Abschluss unter besonders schwierigen Bedingungen geschafft und zwar als Jahrgangsbester. Das war ein großer Erfolg, auf den er und seine Familie und auch ich stolz sind. Es war ein Glück, dass sowohl er als auch ich die notwendigen Endgeräte hatten, um am Online-Unterricht teilzunehmen. Die Träger der Maßnahmen müssen unbedingt dafür sorgen, dass die Mitarbeitenden die technischen Voraussetzungen haben, um auch online die Begleitung gewährleisten zu können.

Wie geht es nach dem erfolgreichen Abschluss weiter mit Jonas und darfst du ihn weiter unterstützen?

Dagmar: Jonas will sich an einer Beruflichen Schule weiter qualifizieren. Bedauerlicherweise sieht die Gesetzgebung für Autisten keinen Betreuungsübergang von der schulischen zur beruflichen Ausbildung vor. Denn gerade in Übergangssituationen brauchen Menschen wie Jonas Orientierung und Unterstützung.

Damit Schulassistenz gut gelingt, ist die Kooperation mit der Schule bedeutend. Welche Rolle spielt der Träger der Maßnahme deiner Ansicht nach?

Dagmar: Der Träger der Maßnahme spielt eine große Rolle. Das beginnt schon mit der Auswahl der Mitarbeitenden, die pädagogisch qualifiziert sein sollten und auch auf ihre Tätigkeit vorbereitet werden müssten. Sie sollten entsprechend eingruppiert werden und die Träger eine Tarifbindung haben. Das erfordert selbstverständlich die Refinanzierung der Träger. Hier fehlen die politischen Entscheidungen.

Was noch kann zu erfolgreicher Schulassistenz beitragen?

Dagmar: Für die Integrationshilfe müsste dringend ein Berufsbild erstellt werden, an dem sich alle orientieren müssten. Schulen sollten nicht nur sensibilisiert werden, die Kooperation mit der Schulassistenz müsste gesetzlich verbindlich geregelt sein. Idealerweise werden die Fachkräfte unterstützt durch fachliche Anleitung, kollegiale Fallbesprechung und Fachberatung. Für diese Ziele machen wir uns übrigens innerhalb der GEW stark. Interessierte dürfen sich gerne melden und mitwirken. Gemeinsam lässt sich mehr erreichen.

Die Fragen stellte Heike Herrmann.

Kontakt
Heike Herrmann
Referentin für Jugendhilfe und Sozialarbeit der GEW Baden-Württemberg