Die Entwicklung des Gymnasiums muss im Zusammenhang aller Schularten diskutiert werden.Klaus Klemm, emeritierter Professor für Bildungsforschung und Bildungsplanung an der Universität Essen, ging auf der Veranstaltung der Grünen auf die Genese und Entwicklung der verkürzten Gymnasialzeit in Deutschland ein. Aus seiner Sicht wurde G8 nicht allein aus wirtschaftlichen Gründen eingeführt. Tatsächlich sei in Deutschland eine „historisch niedrige Lebensarbeitszeit“ zu verzeichnen, die einerseits die Sozialsysteme unter Druck setze und andererseits auch eine sehr lange finanzielle Abhängigkeit junger Menschen zur Folge habe.Nach Klemms Einschätzung ist allein das Modell in Rheinland-Pfalz geglückt: Hier wurde die Zeit bis zum Abitur auf achteinhalb Jahre verkürzt. Die G8-Gymnasien, die es auch dort gibt, wurden mit einem verpflichtenden Ganztag verknüpft. 19 von 149 Gymnasien gehen bislang diesen Weg.
Die bundesweit erhobene Forderung eines „zurück zu G9“ werde begründet mit a) einem Qualitätsverlust, der b) mangelnden Studierfähigkeit der Absolvent/innen, der c) Reduktion der Schule auf eine reine Wissensvermittlungsagentur und d) einem zu hohen Leistungsdruck für die Schüler/innen. Aus den wenigen Studien zu diesen Kritikpunkten würden sich jedoch kaum empirische Befunde heranführen lassen, die diese Punkte bestätigen.
Bundesweit ist dennoch eine Rückkehr zum G9 zu beobachten. Niedersachsen stellt ab dem Schuljahr 2015/16 wieder vollständig auf G9 um, Hessen räumt bereits ab diesem Schuljahr eine vollständige Wahlfreiheit ein. In Baden-Württemberg ist – bis jetzt – die Anzahl der G9-Schulen auf 44 gedeckelt. Laut Klemm sind bei einer Umstellung folgende Aspekte zu bedenken:
• Will man Wahlfreiheit einräumen oder eine vollständige Rückkehr zu G9? Bei Wahlfreiheit braucht es mindestens vierzügige Gymnasien. Außerdem ist ein Wahlmodell per se instabil, weil über die Attraktivität der jeweiligen Bildungswege vorab wenig ausgesagt werden kann.
• Alternative „Abitur im eigenen Takt“? Klemm votiert für diese Option, weil sie die gewünschte Flexibilität für Eltern und Schüler/innen bietet. Die unterschiedliche Dauer der Abiturphase ist eine von KMK-Richtlinien durchaus gedeckte Möglichkeit, die allerdings in der Praxis nie genutzt wurde.
• Aufgrund des beruflichen Gymnasiums in Baden-Württemberg ist der laute Ruf nach G9 nicht verständlich. Jedes Modell, das über G8 hinausgeht, löst einen erhöhten Bedarf an Lehrerstellen und an Unterrichtsräumen aus.
Thomas Gehring, Landtagsabgeordneter aus Bayern, berichtete vom kürzlich gescheiterten Volksbegehren zu G9. Die Grünen in Bayern fordern eine inhaltliche Reform des G8, wobei das in Baden-Württemberg entwickelte Modell „Abitur im eigenen Takt“ ein Vorbild sein könnte. Gehring schränkte ein, dass damit das Kernproblem des gymnasialen Bildungsgangs, nämlich die verdichtete Mittelstufe mit viel zu vielen Fächern, mit der Flexibilisierung der Oberstufe (der Kern des Modells „Abitur im eigenen Takt) nicht gelöst werde.
Auch der Landeselternbeirat spracht sich dafür aus, „Abitur im eigenen Takt“ als Variante für ein zukünftiges Gymnasium zu ermöglichen. Die Vertreter/innen dieses Modells berichteten, dass auch bei einer flexiblen Oberstufe viele Schüler/innen das G8 wählen. Die Mittelstufe könne durch entsprechende Umstrukturierung entlastet werden. Vierstündige Fächer seien hierfür ein Beispiel.
Prof. Thorsten Bohl richtete in seinem Beitrag den Blick auf das Gesamtsystem „Schule“. Der Erziehungswissenschaftler an der Uni Tübingen beschrieb die aktuelle Schulstruktur als unübersichtlich und von Konkurrenz geprägt. So führten inzwischen in Baden-Württemberg acht (!) Wege zum Abitur. Als spezifische Diskussionspunkte an den Gymnasien identifizierte er
• die Sorge um den Stellenwert des Abiturs und das Ansehen des Gymnasiums,
• die Auswirkungen der unverbindlichen Grundschulempfehlung,
• die Einführung der Gemeinschaftsschule, die als bedrohliche Konkurrenz wahrgenommen werde,
• die anhaltende Debatte G8/G9
• die bildungstheoretische und -politische Debatte „Bildung- oder Kompetenzorientierung“,
• die Methodendiskussion bei einer zunehmend notwendigen Individualisierung,
• Inklusion und Gymnasium.
Bei diesen komplexen Themen müsse die Frage nach der Erkennbarkeit der gymnasialen Bildung neu beantwortet werden. Dieses Problem führte schließlich auch zu den Brennpunkten der Schulentwicklung insgesamt, nämlich der Umsetzung der Inklusion, der Weichenstellung bei G8/G9 und der Weiterentwicklung von Gemeinschaftsschulen und Realschulen. Die faktische Entwicklung in Baden-Württemberg steuere auf eine „massive Dreigliedrigkeit“ zu, erklärte Thorsten Bohl. Diese bereite besondere Schwierigkeiten, weil ihr keine stringente Systemlogik zugrunde liege: „Schularten des gegliederten Systems und die Gemeinschaftsschule als integrierte Schulart existieren nebeneinander und begreifen sich primär als Konkurrenz.“
Die Herausforderung „Heterogenität“ stelle sich an jeder Schulart, jedoch besonders zugespitzt an den Realschulen. Diese hätten die Heterogenität, die sich Gemeinschaftsschulen wünschen. An einer erklecklichen Zahl von Gemeinschaftsschulen fehlten hingegen die leistungsstarken Schüler/innen. An den Gymnasien gebe es jetzt leistungsschwächere Schüler/innen, die dort nur unzureichend gefördert werden könnten.
Perspektiven für das Gymnasium und das Schulsystem insgesamt
Wie könnten Lösungswege aussehen? Bohl betonte, dass eine Wiederherstellung der alten Dreigliedrigkeit keine Option sei. Dazu sei nicht nur eine Wiedereinführung der verbindlichen Grundschulempfehlung notwendig, sondern zusätzlich eine Quotierung der Zugänge zu den Schularten. Anders seien die Haupt- bzw. Werkrealschulen nicht zu stabilisieren. Umgekehrt gebe es für ein integriertes Schulsystem („Eine Schule für alle“) keine Mehrheiten, sie wäre überdies eine Überforderung des Gesamtsystems. In der Zweigliedrigkeit liege offensichtlich ein konsensfähiger und umsetzbarer Kompromiss. Man kann davon ausgehen, dass das Gymnasium als eine Säule gesetzt ist. Wie soll aber die zweite Säule des Schulsystems gestaltet werden? Ob sie gleichfalls ein gymnasiales Bildungsangebot enthalten soll, ist eine Grundsatzentscheidung. Falls ja, muss geklärt werden, wie man auch die Leistungsstarken für die zweite Säule gewinnen kann. Denn: Die Forschung ist hier eindeutig – nur mit einer breiten Heterogenität, die auch die Leistungsstarken einschließt, kann gemeinsames Lernen sein Potenzial entfalten. Die flächendeckende Einrichtung von G9-Gymnasien würde die Gestaltung und Akzeptanz einer attraktiven zweiten Säule erschweren. Wer dennoch für G9 plädiert, muss darlegen, wie man verhindern kann, dass das G9 dann zur neuen „Haupt“schule wird. G9-kompatibel wäre eher eine Mittelschule ohne gymnasialen Bildungsgang. Das Problem einer relativ schwachen zweiten Säule bestünde aber vermutlich auch bei dieser Variante fort.
Kann das Modell „Abitur im eigenen Takt“ eine Lösung bieten? Wenn das Modell von den Eltern als „G9“ wahrgenommen würde, wäre nichts gewonnen, weil der „Run“ auf das Gymnasium ungebrochen bliebe. Die Folge wäre das unerwünschte Ausbluten der zweiten Säule.Bei all diesen Überlegungen dürfe die Perspektive der Realschulen nicht aus dem Auge verloren werden, mahnte Bohl. „Noch begreifen sich viele Realschulen als mittlere Schulart in einem klassischen dreigliedrigen System. Das untere Glied Haupt-/Werkrealschule gibt es jedoch kaum noch. Deshalb hat sich die Schülerschaft gerade der Realschulen längst gravierend verändert. Schüler/innen, die noch vor 20 Jahren überwiegend an Hauptschulen übergingen, sind jetzt an Realschulen zu finden“ sagte der Tübinger Wissenschaftler. Deshalb brauchten die Realschulen Unterstützung und ein für sie akzeptables und zu bewältigendes Angebot der Weiterentwicklung.
Jetzt Weichen stellen
Fazit des Fachgesprächs war, dass jetzt die Weichen für eine stringent durchdachtere Schulstruktur gestellt werden muss. Ein Zwei-Säulen-Modell wäre der gangbarste Weg. Erfolg versprechend ist er dann, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:
1. Die integrierte Säule bietet einen gymnasialen Bildungsgang mit regional unterschiedlich konnotierten Anschlüssen zur Oberstufe der allgemeinbildenden und beruflichen Gymnasien. Sie braucht tragfähige Konzeptionen zum Umgang mit Heterogenität, die so flexibel sein müssen, dass nur in den Klassen 5 und 6 eine Verpflichtung zum binnendifferenzierten Lernen besteht. Realschulen müssen auch in der zweiten Säule ihre Profile, z.B. bilinguales Lernen, erhalten können. Ein hoher pädagogischer und didaktischer Anspruch muss mit einer flexiblen Unterrichtsgestaltung einschließlich flexibler Leistungsbeurteilung einhergehen.
2. Die zweite Säule mit G8 bietet ein dezidiert gymnasiales Profil, das sich mit Wissenschaftspropädeutik, mit einem breiten Bildungsbegriff, hoher Fachlichkeit und einem hohen Stellenwert kultureller Bildung auszeichnet. Das G8 müsste dabei als Ganztagsschule gestaltet werden. Beim Übergang von der Grundschule in eine der beiden Säulen bedarf es einer intensiven Beratung.