Wiedereinführung neunjähriges Gymnasium (G9)
G9 nicht ohne Veränderungen in der Sekundarstufe
Das Land will ab dem Schuljahr 2025 /20 26 zu G9 als Regelform zurückkehren. Wem Bildungsgerechtigkeit und Qualität wichtig sind, darf G9 nicht einführen, ohne gleichzeitig ein Konzept für eine strukturelle Veränderung der Sekundarstufe vorzulegen.
Das von der Landesregierung einberufene Bürgerforum zur Dauer des allgemeinbildenden Gymnasiums hat sich für die Rückkehr zu G9 als Regelform ausgesprochen. Gleichzeitig empfiehlt die große Mehrheit der Teilnehmenden des Bürgerforums dringend eine ganzheitliche, schulartübergreifende Schulreform für die bessere Umsetzung der Bildungsziele und für mehr Bildungsgerechtigkeit.
Die Diskussion darüber wurde auch in den Gesprächen der Parteien über einen möglichen Bildungskonsens für Baden-Württemberg geführt, die Anfang Mai gescheitert sind. Vorher hatten Grüne und CDU ein Konzept für Verbundschulen in der Sekundarstufe I vorgelegt. In den Verhandlungen spielte die Sorge eine große Rolle, dass die Übergänge in ein neunjähriges Gymnasium deutlich steigen könnten, mit nachteiligen Auswirkungen für andere Schularten in der Sekundarstufe. Grüne und CDU wollen den Zugang zum Gymnasium begrenzen, indem sie die Grundschulempfehlung wieder verbindlich machen. In der Diskussion geht es allerdings nicht so sehr um die Qualität und die Leistungsfähigkeit unseres Schulsystems. Vielmehr scheint die Befürchtung zu überwiegen, dass die Exklusivität der Gymnasien weiter abnehmen könnte.
Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung beeinflusst nicht Zulauf zu Gymnasien
In der Bildungswissenschaft besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass die Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung ein wenig taugliches Instrument ist. Ihre prognostische Zuverlässigkeit im Hinblick auf den weiteren Bildungsweg eines Kindes ist zu gering. Zur Abschaffung der Verbindlichkeit vor mehr als zehn Jahren hat vor allem die immer weiter sinkende Akzeptanz der Eltern für eine staatliche Bevormundung bei der Wahl der weiterführenden Schule beigetragen. Auf den steigenden Zulauf zu Gymnasien hatte die Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung keinen maßgeblichen Einfluss und wird ihn auch in Zukunft nicht haben. Bei der Schulwahl geht es oft mehr um die Zugehörigkeit zu bestimmten gesellschaftlichen Milieus, um Aufstiegschancen und nicht so sehr um Begabungspotenziale. Wenn der Druck staatlicher Bevormundung zu groß wird, bieten Nachhilfeinstitute und private Schulen einen Ausweg, zumindest für die Eltern, die es sich leisten können und wollen.
Wer Qualität und Bildungsgerechtigkeit in unseren Schulen fördern möchte, muss Chancen eröffnen, statt neue Bildungsschranken zu errichten. Die Wiedereinführung von G9 muss deshalb mit einer umfassenden Schulstrukturreform in der Sekundarstufe verbunden werden. Im Zentrum einer solchen Reform steht die Stärkung der „zweiten Säule“. Heute konkurrieren Gemeinschaftsschulen, Realschulen und Werkrealschulen untereinander und mit den Gymnasien um Ressourcen und um leistungsstarke Schüler*innen. Diese Konkurrenz bindet viel Energie. Gleichzeitig sinken die Leistungen Baden-Württembergischer Schüler*innen in internationalen und nationalen Leistungsvergleichen ab.
Die Konkurrenz der Schularten ist bildungsökonomisch teuer und ineffizient. Ein Bildungskonsens für Baden-Württemberg ist zunächst gescheitert. Damit wurde die Chance verpasst, sich partei- und legislaturübergreifend auf eine zukunftsfähige Schulstruktur zu einigen. Eine Schulstrukturreform in der Sekundarstufe müsste zu mehr Qualität und weniger Konkurrenz führen. Dabei müssen auch die Auswirkungen auf die beruflichen Schulen beachtet werden.
Zweigliedrigkeit führt zu besseren Ergebnissen
Erfahrungen in anderen Bundesländern – insbesondere in Schleswig-Holstein und in Hamburg – zeigen, dass eine durchgängige Zweigliedrigkeit des Schulsystems zu besseren Ergebnissen führen kann. In beiden Bundesländern gibt es neben dem Gymnasium eine weiterführende Schulart, die zu allen allgemeinbildenden Schulabschlüssen einschließlich des Abiturs führt. In Hamburg sind das die Stadtteilschulen und in Schleswig-Holstein die Gemeinschaftsschulen. Baden-Württemberg braucht ein Konzept, wie sich Realschulen und Gemeinschaftsschulen zu einer weiterführenden integrativen Schulart weiterentwickeln können. Angesichts der geringen Übergangszahlen in die Werkrealschule muss überlegt werden, welche Entwicklungsmöglichkeiten die Werkrealschulen zu integrativen Bildungsgängen oder durch die Fusion mit anderen weiterführenden Schulen haben. Auch die regionale Schulentwicklung muss von der Schulverwaltung und den Schulträgern stärker genutzt werden.
Die zukünftige integrative Schulform neben dem Gymnasium in Baden-Württemberg braucht zukunftsfähige Qualitätsmerkmale: Lernen und Leistungsbewertung finden auf der Grundlage des kompetenzorientierten Bildungsplans auf verschiedenen Niveaustufen statt. Fordern und fördern, individuelles Lernen und differenzierte Rückmeldungen zum Lernerfolg sind handlungsleitend für den Unterricht. Ein Kind, ein*e Jugendliche*r kann in einem Fach auf grundlegendem Niveau lernen, in anderen Fächern auf mittlerem oder erweitertem Niveau. Die integrative Schulart führt zu allen allgemeinbildenden Schulabschlüssen, zum Hauptschulabschluss, zum Realschulabschluss oder zum Abitur. Je nach Lage vor Ort sind auch Kooperationen mit beruflichen oder allgemeinbildenden Gymnasien sinnvoll. Die Anmeldung zu einer Abschlussprüfung setzt voraus, dass die Leistungen zuvor überwiegend auf dem entsprechenden Niveau erbracht wurden. Eine Ganztagsschule mit rhythmisiertem Schultag ermöglicht mehr Lernzeit und Unterstützung. Der Ganztagsbetrieb sollte für alle integrativen Schulen ermöglicht werden. Personell und räumlich gut ausgestattet müssen integrative Schulen auch inklusive Schulen sein.
Attraktive Alternative zum Studium
Eine Schulstrukturreform muss darauf achten, dass der Einstieg in eine berufliche Ausbildung mit dem Hauptschulabschluss oder mit dem Realschulabschluss, aber auch mit dem Abitur als attraktive Alternative zum Studium wahrgenommen werden kann. Nur wenn der integrative Bildungsgang neben dem Gymnasium als gleichwertig wahrgenommen wird, wird er für eine ausreichende Zahl junger Menschen den erfolgreichen Weg in eine berufliche Ausbildung ebnen. An allen Schularten der Sekundarstufe, auch der Gymnasien, muss die Berufsorientierung ein wichtiger Baustein sein. Eine Schulstrukturreform ist auch wichtig, um zukünftigem Fachkräftemangel vorzubeugen. Handwerk, Handel und Industrie weisen darauf seit langem hin.
Die Erfahrungen in Hamburg und in Schleswig-Holstein zeigen, dass die Stadtteil- oder Gemeinschaftsschulen von Eltern nur dann als gleichwertige Alternative zu Gymnasien wahrgenommen werden, wenn sie den Weg zum Abitur in einem durchgehenden Bildungsgang ermöglichen. Heute gibt es in Baden-Württemberg an neun Gemeinschaftsschulen gymnasiale Oberstufen. Parallel zur Einführung von G9 muss ein flächendeckendes Netz gymnasialer Oberstufen an Gemeinschaftsschulen ausgebaut werden. In dieses flächendeckende Netz könnten auch Realschulen eingebunden werden, die sich zu integrativen Schulen weiterentwickeln.
Überall in Baden-Württemberg, auch im ländlichen Raum, muss es möglich sein, das Abitur an einer integrativen Schule oder an einem allgemeinbildenden oder beruflichen Gymnasium zu erwerben. Im zukünftigen G9 und in der Gemeinschaftsschule umfasst die gymnasiale Oberstufe die Klassenstufen 11 bis 13. Damit sind insbesondere in kleinen Kommunen oder in bevölkerungsschwachen Regionen auch gemeinsame gymnasiale Oberstufen von Gemeinschaftsschulen und Gymnasien möglich – bei räumlicher Distanz auch mithilfe digital-hybrider Formate.
Chance für mehr Durchlässigkeit
In Verbindung mit einer Schulstrukturreform kann das neunjährige Gymnasium zu einer pädagogischen Annäherung der Schularten in der Sekundarstufe und zu mehr Durchlässigkeit beitragen. In Gymnasien mit neunjährigem Bildungsgang bis zum Abitur gehören die Klassenstufen 5 bis 10 wie in den anderen allgemeinbildenden Schularten wieder zur Sekundarstufe I. Die Kontingentstundentafel kann neu verteilt werden. Damit können die von Elterninitiativen vehement geforderten zeitlichen Entlastungen erreicht werden. Die gewonnene Zeit steht Kindern und Jugendlichen einerseits für kulturelle, musische und sportliche Aktivitäten zur Verfügung. Sie kann auch für vertieftes Lernen und Üben und für Projekte im Rahmen ganztägiger Lernsettings genutzt werden. Für die Sekundarstufe I der Gymnasien kann im neunjährigen Bildungsgang der gemeinsame Bildungsplan für alle allgemeinbildenden Schulen in Kraft gesetzt werden. Er beschreibt im erweiterten Niveau die Ziele, Kompetenzen und Inhalte gymnasialer Bildung mit dem Ziel der Hochschulreife. Für die Schüler*innen in der Mittelstufe tritt eine Entlastung vor allem dadurch ein, dass für die Kursstufe notwendige Kompetenzen teilweise in die Klassenstufe 11 verlagert werden können. Zur Entlastung würde auch beitragen, wenn die zweite Fremdsprache nach Wiedereinführung von G9 in allen Schularten wieder im 7. Schuljahr beginnt.
Mit der Einführung von G8 hat sich die horizontale Durchlässigkeit zwischen den Schularten in der Sekundarstufe I sehr einseitig entwickelt. Ein Wechsel ist derzeit praktisch nur noch weg vom Gymnasium möglich. Mit der Rückkehr zu G9 kann wieder eine echte Durchlässigkeit zwischen den Schularten entstehen. Diese Durchlässigkeit kann weiter gefördert werden, wenn in der Orientierungsstufe auf eine hohe Übereinstimmung der Stundentafeln geachtet wird. Weitere Entwicklungsmöglichkeiten würden sich für Gymnasien ergeben, wenn dort auch eine Leistungsbewertung auf mittlerem Niveau und eine Realschulabschlussprüfung am Ende des 10. Schuljahres möglich würden. Das würde Übergänge in die berufliche Ausbildung stärken.
Frühe Bildungsphasen in den Blick nehmen
Ein Bildungskonsens für Baden-Württemberg ergibt nur dann Sinn, wenn er zu mehr Qualität und zu mehr Bildungsgerechtigkeit führt. Dazu muss unser gesamtes Bildungssystem in den Blick genommen werden. Besonders wichtig sind die frühen Bildungsphasen vor der Einschulung und die Grundschule.
Bedeutsam wird sein, ob die Wiedereinführung von G9 die Nachteile unseres gegliederten Schulsystems weiter verstärkt oder in Verbindung mit einer Schulstrukturreform abmildert. In einem zweigliedrigen Schulsystem aus Gymnasien und einer starken integrativen zweiten Säule können sich die Schularten in der Sekundarstufe I pädagogisch annähern, wodurch die Komplexität sinkt und die Qualität zunimmt.