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Abitur 2022

GEW sieht dringenden Handlungsbedarf bei mündlicher Abiturprüfung

Die GEW-Landesfachgruppe Gymnasien konstatiert: Nie war das mündliche Abitur in Baden-Württemberg formalisierter, nie wurden die Vorgaben restriktiver gehandhabt, nie wurde der Professionalität der Lehrkräfte mehr Misstrauen entgegengebracht.

Ein Schild mit der Aufschrift „Abiturprüfung! Kein Durchgang“ hängt an einer Glastür.
Foto: © imago

Zum ersten Mal fanden die mündlichen Abiturprüfungen planmäßig nach der neuen AGVO (Abiturverordnung Gymnasien der Normalform) statt. Der Praxistest hat deutlich gemacht: Es muss noch an vielen Stellen nachgebessert werden, bevor wir eine alltagstaugliche Prüfungsorganisation haben. Aber genau diese muss das Ziel sein. In diesem Jahr ist es alles andere als rund gelaufen.

Durchführung der Prüfungen

Größtes Ärgernis: Als Fachkolleg*innen konnten wir erst kurz vor dem Prüfungsbeginn erfahren, welche Aufgaben tatsächlich ausgewählt worden waren.

„Landauf landab haben wir als Fachlehrkräfte Erwartungshorizonte und Prüfungsverläufe vorbereitet – und diese dann weggeworfen, weil die entsprechenden Aufgaben gar nicht ausgewählt worden waren“, sagt Markus Riese, Vorsitzender der GEW-Landesfachgruppe Gymnasien. An vielen Schulen wurde die Aufgabenauswahl erst beim Eröffnungskonvent mitgeteilt, teilweise kurz vor der Prüfung selbst, und dann begann das hektische Herumwühlen in den vorbereiteten Prüfungsunterlagen:

  • Überflüssige Aufgaben mussten aussortiert werden,
  • die Prüfungsaufgaben in die richtige Reihenfolge gebracht werden,
  • zum Teil wurden zwar die Nummern der ausgewählten Prüfungsaufgaben mitgeteilt, aber nicht die konkrete Zuteilung zu den einzelnen Prüflingen in den Prüfungsblöcken,
  • Aufgabenkopien für Protokollführer*innen fehlten,
  • farbige Abbildungen in Prüfungsaufgaben waren nur in schwarz-weiß kopiert worden.

Eine professionelle Prüfungsvorbereitung sieht anders aus. „Als prüfende Fachlehrkraft muss ich ohne Hektik und mit geordneten Prüfungsunterlagen in einen langen Prüfungstag gehen dürfen. Und als protokollführendes Mitglied eines Fachausschusses brauche ich ausreichend Vorbereitungszeit, um die Prüfungsaufgaben mit allen Materialien in Ruhe vorbereiten zu können. Denn auch von den protokollführenden Lehrkräften wird bei der Notenfindung ein fachlich fundiertes Urteil erwartet“, findet Riese.

Die GEW-Landesfachgruppe Gymnasien fordert, dass spätestens einen Arbeitstag vor der jeweiligen Prüfung allen Mitgliedern eines Fachausschusses der Inhalt der Prüfung bekannt sein muss, das heißt die getroffene Auswahl der Prüfungsaufgaben sowie deren konkrete Zuordnung zu den einzelnen Prüflingen.

Außerdem ist eine Höchstgrenze von neun Prüfungen pro Tag (jeweils drei Prüfungen in maximal drei Prüfungsblöcken) verbindlich vorzuschreiben.

Wegen der neuen Verpflichtung, den Erwartungshorizont vor jedem Prüfungsblock vorzutragen, hat sich der Zeitumfang der Prüfungspläne zusätzlich ausgeweitet. Spätestens nach vier bis fünf Stunden lässt in diesem kräftezehrenden Wechsel von Erwartungshorizont, Prüfungsdurchführung und Bewertung die Konzentration nach.

Indiskutabel ist in diesem Zusammenhang die Verpflichtung der Lehrkräfte zu sonstigem Unterricht an Prüfungstagen. „Wer vormittags fünf Stunden unterrichtet, kann nachmittags nicht noch acht Abiturprüfungen abnehmen! Wir brauchen praxistaugliche arbeitsorganisatorische Standards, die eine qualitätvolle Durchführung der Prüfungen ermöglichen“, betont der GEW-Fachgruppenvorsitzende.

Das gelte ebenso für die einzelnen Prüflinge: Wenn von einzelnen Abiturient*innen aus schulorganisatorischen Gründen zwei oder sogar drei Prüfungen in großer zeitlicher Enge zu absolvieren sind, kann die Vergleichbarkeit innerhalb eines Prüfungsjahrgangs infrage stehen.

Prüfungsvorbereitung

Größtes Ärgernis: Der Aufwand zur Erstellung der Prüfungsaufgaben ist immens.

Mit der neuen AGVO haben sich die Prüfungsleistungen verändert: Abiturient*innen in Baden-Württemberg müssen nun generell eine schriftliche Abiturprüfung weniger, dafür eine zusätzliche mündliche Prüfung ablegen. Aber: Für die Korrektur der schriftlichen Prüfungen dürfen die Lehrkräfte mit einer punktuellen Entlastung durch Korrekturtage rechnen, während die aufwändige Erstellung der Prüfungsaufgaben von vielen Kolleg*innen in den Pfingstferien geleistet wurde.

Die GEW fordert deshalb, dass analog zur Korrekturtageregelung eine deutliche zeitliche Entlastung für die Vorbereitung der mündlichen Prüfungen erfolgen muss.

Die Zeitplanung war unrealistisch eng. Denn erstens fielen Vorbereitung und Durchführung der mündlichen Abiturprüfungen genau in die intensive Endphase des Schuljahres, in dem die letzten Klassen-arbeiten korrigiert, die Jahresnoten erstellt werden und traditionell viele schulische Zusatzveranstaltungen stattfinden.

Für die Abiturient*innen bringt es organisatorische Probleme mit sich, denn sie halten ihr Abgangszeugnis erst im Monat Juli in Händen. So konnten an Schulen mit später Terminierung der mündlichen Prüfungen Abiturient*innen, die wegen der Null-Punkte-Regelung beim Mündlichen auf eine weitere Nachprüfung angewiesen waren, den DoSV-Termin bei der Hochschulbewerbung (15. Juli) nicht einhalten.

Außerdem konnten die tatsächlichen Prüfungspläne für das mündliche Abitur erst sehr kurzfristig erstellt werden, es mussten ja auch die Wünsche der Abiturient*innen nach weiteren Zusatzprüfungen eingearbeitet werden. So kam es zum Beispiel vor, dass Lehrkräfte ganz kurz vor der Prüfung noch aufgefordert wurden, eine zusätzliche Prüfungsaufgabe einzureichen, weil eine ursprünglich geplante Aufteilung in Prüfungsblöcke nicht umgesetzt werden konnte.

Lehrkräfte, Oberstufenberater*innen, Schulleitungen und Abiturient*innen dürfen bei der Durchführung des neuen komplexen Prüfungssystems einen Zeitrahmen erwarten, der es zulässt, dass auftretende Probleme (zum Beispiel Rückfragen zu Prüfungsaufgaben) oder krankheitsbedingte Ausfälle routiniert abgearbeitet werden können.

„Nie waren mündliche Abiturprüfungen in Baden-Württemberg formalisierter, nie wurden die Vorgaben restriktiver gehandhabt, nie wurde der Professionalität der Lehrkräfte mehr Misstrauen entgegengebracht“,

kritisiert Riese.

Die Qualität der Prüfungsdurchführung leidet, wenn jedes Kennenlernen, jeder klärende Kontakt zwischen den Mitgliedern der Fachausschüsse im Vorfeld der Prüfungen untersagt wird beziehungsweise über die Schulleitung laufen muss. Die Qualität leidet, wenn in einem Fachausschuss ein Streit darüber entbrennt, ob auch im zweiten Prüfungsteil Fragen nur noch in der Form vorgegebener Operatoren gestellt werden dürfen. Die Qualität leidet, wenn beim Vortrag des Erwartungshorizontes unterschiedliche Ansprüche deutlich werden, aber die Enge des Prüfungsplans keine sachgerechte Aussprache mehr zulässt.

„Es konnte für uns Kolleg*innen der Eindruck entstehen, als solle das legitime Ziel der Rechtssicherheit bei der Prüfungsdurchführung durch eine verstärkte Reglementierung zu unseren Lasten gewährleistet werden. Das wäre fatal“, mahnt der Gewerkschafter. Eine demokratische Prüfungskultur setze vielmehr auf die Eigenverantwortung aller Beteiligten, auf die kommunikative und fachliche Kompetenz der Ausschussmitglieder und auf sachliche begründete Ermessensentscheidungen des Prüfungsteams.

Wie geht es weiter?

Wir bitten alle Kolleg*innen, der GEW-Landesfachgruppe Gymnasien weitere Praxiserfahrungen mit dem neuen Format der mündlichen Abiturprüfung mitzuteilen. Je konkreter und detailreicher wir Probleme im Kultusministerium ansprechen können, desto größer ist die Chance auf entsprechende Nachbesserungen. Diese müssen bis zum Abitur 2023 auf den Weg gebracht werden!

GEW-Vertreter*innen haben über den Hauptpersonalrat Gymnasien angeregt, die Arbeitsbelastung der Lehrkräfte bei der Durchführung der neuen mündlichen Abiturprüfungen landesweit zu erfassen und zu evaluieren.

Das Ministerium hat diese Anregung tatsächlich aufgegriffen. Mit Ergebnissen ist im Herbst zu rechnen. Wir sind gespannt.

Kontakt
Markus Riese
Vorsitzender Fachgruppe Gymnasien
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