Auf Stellen für Gymnasiallehrkräfte an Gemeinschaftsschulen gibt es nur wenige Bewerber/innen. Sogar auf die, die mit A14 ausgeschrieben sind. Viele vermuten, dass in Gemeinschaftsschulen der Arbeitsaufwand hoch und die Zusammensetzung der Schüler/innen schwierig ist. Dort muss auf unterschiedlichen Niveaustufen unterrichtet werden, was niemand in der Ausbildung gelernt hat. Das Deputat liegt bei 27 Stunden, zwei Stunden mehr als im Gymnasium. Warum sollte unter diesen Voraussetzungen eine Gymnasiallehrkraft an eine Gemeinschaftsschule gehen?
Farina Semler wollte es wissen und wechselte. „Die Klassen sind sehr heterogen und der zeitliche Aufwand ist wirklich hoch“, berichtet die gymnasiale Mathelehrerin. Der Dokumentationsaufwand sei beträchtlich, es gebe mehr Konferenzen und sie stimme sich häufig mit Kolleg/innen ab. Teamarbeit sei gefragt. Wochenpläne, Lernwegelisten und Lernzirkel müssen erarbeitet und kontrolliert werden. „Klassenarbeiten für drei Stufen zu konzipieren, ist schon aufwändig“, erklärt sie.
Trotzdem macht Semler im neuen Schuljahr in der Vogt-Heß-Gemeinschaftsschule in Herrenberg weiter. Begonnen hat sie in der 5. Klasse mit fünf Deputatsstunden. Ihre Stammschule, das Andreae-Gymnasium, liegt auf demselben Campus. „Ich habe zehn Jahre Gymnasialerfahrung und komme aus der Freiarbeit, die am Andreae-Gymnasium seit Jahrzehnten praktiziert wird“, erzählt sie. Individuelles Lehren und Lernen sei ihr demnach vertraut. Sie stehe hinter dem gemeinsamen Lernen. Als ihre Nachbarschule um Gymnasiallehrkräfte warb, ließ sie sich als einzige Lehrkraft des Gymnasiums teilabordnen. „Ich fand es spannend und wollte wissen, wie die Gemeinschaftsschule funktioniert und wächst“, begründet sie ihre Entscheidung. Nun fühlt sie sich sehr wohl in der neuen Schule, schätzt das ganz andere Arbeiten, den kollegialen Umgang und den regen Austausch auch mit anderen Gemeinschaftsschulen.
Die gymnasiale Expertise von Semler ist in unteren Klassen vor allem für die Außenwirkung wichtig. „Meinen Kolleg/innen aus der Hauptschule fehlen keine Mathekenntnisse“, stellt die Gymnasiallehrerin fest. Für die Eltern sei es aber wichtig, dass auch Gymnasial-lehrkräfte an der Schule unterrichten und das erweiterte Niveau absichern. „Im städtischen Umfeld müssen wir uns neben guten Gymnasien und Realschulen behaupten. Es ist jedes Jahr aufs Neue eine Herausforderung, zweifelnde Eltern davon zu überzeugen, dass wir an der Gemeinschaftsschule auch das gymnasiale Niveau abdecken“, berichtet Dr. Wolfgang Graf-Götz, Schulleiter der Vogt-Heß-Gemeinschaftsschule. „Eltern, die uns kennen, sind meistens begeistert“. Aber nicht nur Eltern, sondern auch Grundschullehrer/innen würden sich mit dem Konzept der Gemeinschaftsschule schwertun. Bei den Beratungsgesprächen im Vorfeld zur Grundschulempfehlung griffen Lehrkräfte von Viertklässler/innen eher auf altbekannte Schulformen zurück. „Wir laden Lehrkräfte zu Hospitationen ein, damit sie Einblicke in Lernwerkstätten bekommen und wir miteinander reden können“, erklärt Graf-Götz. „Wir können sicher nicht alle überzeugen, aber viele können ihre vorgefasste Meinung überdenken.“ Die Heterogenität sei keine Erfindung der Gemeinschaftsschule, sondern ein Thema für alle Schulen. Graf-Götz kann sich weitere Abordnungen von Gymnasial- und Reaschullehrer/innen an Gemeinschaftsschulen gut vorstellen. Von einem Austausch würden auch die anderen Schularten profitieren.
Erweitertes Fachwissen fließt vor allem in die Unterrichtsvorbereitung
Die Mathelehrerin aus dem Gymnasium kann sich mit ihrem Fachwissen vor allem in der Vorbereitung, mit Materialien und mit Aufgaben für Klassenarbeiten einbringen. „Wir treffen uns in den Ferien und besprechen den Unterricht und die Materialien für die nächsten Wochen“, erzählt Farina Semler. Vorbehalte, die es im Kollegium anfangs ihr gegenüber gegeben habe, seien schnell verschwunden.
Ihre Deputatsstunden sind gleich geblieben. Solange eine Gymnasialkraft weniger als die Hälfte ihres Deputats an der Gemeinschaftsschule arbeitet, gilt das Deputat des Gymnasiums. Semler unterrichtet nach wie vor auch gerne am Gymnasium. Ihre Sicht auf die Kinder hat sich aber verändert. Auch im Gymnasium seien die Schüler/innen sehr unterschiedlich. Sie habe jetzt mehr Ideen, stärkeren und schwächeren Schüler/innen gerecht zu werden. „Das Coaching, das wir den Schüler/innen alle vier bis sechs Wochen an der Gemeinschaftsschule anbieten, zeigt mir, dass jedes Kind eine individuelle Ansprache braucht. Diese Unterstützungsangebote nehme ich mit ins Gymnasium, auch wenn dort kaum Zeit dafür bleibt.“
Auf die Frage, was sich ändern müsste, damit die Gemeinschaftsschule für Gymnasiallehrkräfte attraktiver wird, sagt Farina Semler: „Für Gymnasiallehrkräfte ist es wichtig, dass sie Positives aus Gemeinschaftsschulen hören und mehr über das Konzept und die Arbeitsweise erfahren.“ Sie selbst macht viel Werbung für das gemeinsame Lernen. „Ich sehe mich aber auch verpflichtet, die Schwierigkeiten zu benennen.“ Der Lehrer-Arbeitsmarkt werde in den nächsten Jahren viel regeln, prognostiziert sie. Vor allem Deutschlehrer/innen fänden zurzeit in Gymnasien nur schwer eine Stelle und nähmen dann Angebote aus Gemeinschaftsschulen an. Den Dienstanfänger/innen werde dort aber extrem viel abverlangt. „Eine junge ehemalige Kollegin hat an einer Gemeinschaftsschule eine 5. Klasse übernommen und muss nun Fächer, die sie nie studiert hat, auf drei Niveaustufen unterrichten. Das ist der Hammer“, urteilt die erfahrene Lehrerin. Semler fände es besser, wenn Lehrkräfte aus Überzeugung an Gemeinschaftsschulen arbeiten würden und nicht aus der Not heraus. Sie wünscht sich mehr Gymnasialkolleg/innen, die wie sie ein paar Stunden an Gemeinschaftsschulen mitarbeiten. Eine Französischkollegin ist ihr inzwischen gefolgt.