GEW-Fachtag
Gymnasium als Lernort und Arbeitsplatz der Zukunft
Beim Gymnasialtag im Februar bohrte die GEW die beiden dicksten Bretter am Gymnasium: die qualitätvolle Weiterentwicklung gymnasialer Bildung sowie die Frage nach den Arbeitsbedingungen an den Schulen, vor allem in Hinblick auf die Arbeitszeit.
Anne Sliwka, internationale Bildungsforscherin und Professorin für Schulpädagogin in Heidelberg, stellt auf dem GEW-Gymnasialtag ihre Forschungsergebnisse vor. Sie ermutigt, bestehende Freiräume für notwendige Veränderungen in den Schulen selbstbewusst zu nutzen. Sliwkas Analyse lautet: „Wir befinden uns in einer Phase, in der (analog zur industriellen Revolution) die institutionelle Weiterentwicklung des Bildungswesens nicht mehr mit der technologischen Entwicklung Schritt hält (Goldin & Katz 2009). Die Herausforderungen der veränderten Lebenswelt, die von Unbeständigkeit, Unsicherheit, Komplexität und Vieldeutigkeit geprägt ist, können im Bildungswesen nicht mehr adäquat adressiert werden.“ Als Zielmarke gibt Sliwka für die Gymnasien eine klare Fokussierung vor: „Im Jahr 2030 sollte das Gymnasium eine ganzheitliche Bildungseinrichtung sein, die sich (datenbasiert) an den drei strategischen Zielen orientiert: Erfolg (Regel-/Optimalstandards), Gerechtigkeit und Persönlichkeit & Wohlbefinden.“
Die Gymnasien stünden im Moment vor zwei fundamentalen Herausforderungen: Die Lernprozesse müssten stärker an „individuelle Schülerbedürfnisse und -interessen“ angepasst werden. Lernangebote müssten passgenau in der „Zone der nächsten Entwicklung“ (Vygotskij), also knapp über dem aktuellen Leistungsstand gemacht werden: Gymnasiale Bildung müsse flexibler und adaptiver werden. Sliwka bewies im Rahmen internationaler Beispiele, wie dies gelingen kann: Lernbänder zur Stärkung der Basiskompetenzen in Deutsch und Mathematik in der Unterstufe, eine kriteriale (das heißt an den Bildungsstandards orientierte) Leistungsmessung, die dem Lernprozess dient („assessment is for learning“).
„Deeper Learning“ – Sliwkas eigenes Unterrichtskonzept – greift wesentliche Elemente einer weiterentwickelten Lernkultur am Gymnasium auf: Gemeinsame Vorbereitung durch die Lehrkräfte, Instruktionsphase, selbstreguliertes Arbeiten der Schüler*innen (Ko-Konstruktion) und als Abschluss ein authentisches Arbeitsergebnis sowie eine Reflexion des Arbeitsprozesses.
In der Aussprache zeigten sich die Tagungsteilnehmenden von Sliwkas Ausführungen inspiriert und nachdenklich. Die Freiheitsgrade für Veränderungen innerhalb der bestehenden hierarchischen Strukturen am Gymnasium werden als sehr gering ausgeprägt, ja sogar innovationsfeindlich empfunden.
Die GEW-Fachgruppe Gymnasien setzt sich daher dafür ein, dass die zeitlichen Freiräume, die durch eine verlängerte Schulzeit am Gymnasium generiert werden könnten, tatsächlich für eine zeitgemäße Weiterentwicklung gymnasialer Bildung nach (bildungs-)wissenschaftlichen Standards aufgewendet werden.
Abschied vom Deputatsmodell?
Der Nachmittag des Gymnasialtages widmet sich unserer stetig mehr entgrenzten Arbeitszeit. Im 21. Jahrhundert arbeiten Lehrkräfte nach einem circa 150 Jahre alten System, das die realen Anforderungen nicht mehr annähernd abbildet.
Bei seiner Einführung war das Deputatsmodell eine echte Weiterentwicklung im Sinne der Lehrkräfte: Es begrenzte die Arbeitszeit nach oben. Seither kommt nach nicht-disponibler Unterrichts-/Konferenzzeit ein großer Anteil an disponibler Arbeitszeit zur Vor- / Nachbereitung des Unterrichtes und sonstigen Tätigkeiten dazu. Der Erholungsurlaub liegt in den Ferien, die als unterrichtsfreie Zeit individuell und spontan zu Arbeit oder Freizeit genutzt werden. In den letzten Jahrzehnten sehen wir uns mit einer enormen Menge stetig steigender verpflichtender sonstiger Tätigkeiten konfrontiert, die alle irgendwie während der disponiblen Arbeitszeit erledigt werden sollen, ohne dass dafür irgendeine Entlastung gewährt würde. Zusätzlich wurde sogar die Unterrichtsverpflichtung um zwei Stunden erhöht.
Wissenschaftlich valide Untersuchungen der GEW (zum Beispiel die Studien der Göttinger Arbeitsgruppe um Professor Mußmann) weisen nach, dass die nicht im Zusammenhang mit dem Unterricht stehenden sonstigen Tätigkeiten bereits über ein Drittel der Arbeitszeit darstellen und strukturell in jeder Woche zu Überstunden führen. Gleichzeitig ist der Trend ungebrochen, immer weitere Aufgaben aufzusatteln, obwohl das Deputatsmodell unsere Arbeitsrealität bereits jetzt bei weitem nicht mehr abbildet. Die Folgen von Burnout über innere Kündigung, Flucht in die Teilzeit oder den vorgezogenen Ruhestand sind bekannt.
Was tun gegen immer mehr Arbeit?
Der Referent der Tagung, Mark Rackles, Strategieberater und ehemaliger Berliner Staatssekretär für Bildung, ist überzeugt, dass das Deputatsmodell zwangsläufig zu den hohen Belastungen im Schulalltag führt. Es biete nun die Steilvorlage zur Entgrenzung der Arbeitszeit. Die Nicht-Definition der disponiblen Vertrauensarbeitszeit verführe den Arbeitgeber geradezu, Lehrkräften immer neue (Pflicht)Aufgaben zu geben, die zwangsläufig nichterfasste und nichtbezahlte Überstunden nach sich ziehen. Das Land als Arbeitgeber werde diesen Zustand nicht ändern, da es vom System der strukturellen Mehrarbeit profitiert. Rackles attestiert dem Deputatsmodell außerdem eine geringe Effizienz, ungerechte Pauschalisierungen sowie eine einseitige Unterrichtsfixierung und fehlende Agilität. Es sei prinzipiell völlig ungeeignet, den Erfordernissen der modernen Pädagogik Rechnung zu tragen und das reale Arbeitsvolumen der Lehrkräfte abzubilden oder gar zu begrenzen.
Eine neue Rechtslage auf europäischer und auf Bundesebene bringt aktuell Bewegung in die Situation. Sie zwingt dazu, den IST-Stand der Arbeitszeit aller Beschäftigen zu erheben. Das Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) schrieb am 3. August 2023 an die KMK, im Rahmen des Arbeitsschutzes sei die Arbeitszeit aller Beschäftigten zu erfassen, die beantragte Ausnahmeregelung werde abgelehnt. „Der europäische Arbeitnehmerbegriff (schließt) auch Beamtinnen und Beamte ein.“ Unsere Arbeitszeit muss also erfasst werden – mindestens Beginn und Ende sowie die Pausen. Es geht nur noch um das Wie.
Rackles schlägt vor, die Situation für einen Systemwechsel hin zu einem Jahresarbeitszeitmodell mit definitiven arbeitsschutzrechtlich vorgeschriebenen Höchstgrenzen von 48 Zeitstunden / Schul(!)Woche) zu nutzen. Die schlichte Erfassung der Arbeitszeit ist keine Leistungs- und Verhaltenskontrolle. Arbeitsort und Tageszeit sind unerheblich.
Allerdings stehen neue Fragen im Raum: Wie soll eine Differenzierung nach Schulstufen und Fächern aussehen? Führt sie nicht zu zwangsläufiger Entsolidarisierung und großem Unmut in den Kollegien? Wie steht es um die freie Zeiteinteilung in den Ferien? Muss dann Urlaub genommen und kann dieser verweigert werden? Wie wird sich die Autonomie der Schulleitungen auswirken, die nach diesem Modell eigenständig die Arbeit im Kollegium verteilen? Und: Wird das neue Modell unseren Arbeitsplatz tatsächlich attraktiver machen, so dass der Lehrkräftemangel eingedämmt wird?
Die Erfassung unserer Arbeitszeit ist rechtlich zwingend – ein Systemwechsel zu einem Jahresarbeitszeitmodell ist es nicht. Rackles positionierte sich auf dem Gymnasialtag klar: „Kleben Sie nicht am Deputat!“ Die GEW sollte ausführlich und in Ruhe die Vor- und Nachteile eines Systemwechsels diskutieren, um die Spielregeln für eine dringend notwendige Begrenzung der Arbeitszeit verhandeln zu können. In der Fachgruppe Gymnasien ist die Diskussion angestoßen – es bleibt auch nach dem Gymnasialtag spannend!
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