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Brief an den Ministerpräsidenten

Herr Kretschmann, wir müssen einige Punkte zu bedenken geben

Winfried Kretschmann hat mit seiner Forderung nach Mehrarbeit für Teilzeitlehrkräfte aufhorchen lassen. Susanne Posselt und Andrea Wagner von der GEW erklären, warum seine Idee zur Lösung des Lehrkräftemangels keine gute ist.

Verzweifelte Lehrerin im Klassenzimmer
Foto: © imago

Sehr geehrter Herr Kretschmann,

Sie haben vor zwei Wochen in einem Interview gefordert, dass die vielen Teilzeit-Lehrkräfte, übrigens zu 75 Prozent Frauen, doch einfach alle ein Stunde mehr arbeiten sollten, dann wäre das Problem mit dem Lehrer*innenmangel gelöst.

Schön, wenn es so einfach wäre, allerdings müssen wir doch einige Punkte zu bedenken geben.

Die Bedingungen an der Schule sind nicht mehr so, wie zu den Zeiten, als Sie noch unterrichtet haben.

Schulentwicklung, Ganztagsentwicklung, Inklusion, Elternarbeit, Fortbildung, Zusammenarbeit mit außerschulischen Stellen (Erziehungshilfe, Jugendamt, Berufsorientierung), Kooperation mit Schulsozialarbeit, Organisation und Kooperation als Klassenleitung im Team und vieles mehr haben sich massiv verändert. Schüler*innen wollen mitreden, teilhaben am Schulleben, das nicht nur aus Unterricht besteht. Schüler*innen nach Corona haben Bedürfnisse, die weit über den Unterricht hinausgehen. Diese Veränderungen betreffen sowohl Vollzeitkräfte als auch Teilzeitkräfte.

Menschen haben aber Gründe, Teilzeit zu arbeiten – und dabei geht es oft nicht darum, mehr Freizeit zu haben. Hier eine Aufzählung:

  • Sie haben kleine und betreuungsbedürftige Kinder: Der Ausbau des Ganztags hinkt hinterher, Eltern mit Kindern bekommen die ganztägigen Betreuungsangebote nicht auf dem Tablett serviert; Kinder brauchen Zeit, Aufmerksamkeit und familiäre Beziehungsangebote.
  • Sie haben Angehörige, die gepflegt werden müssen: Viele Frauen, leider immer noch fast nur Frauen, kümmern sich um ihre Eltern oder andere Angehörige.
  • Das Thema Corona hat in den letzen zwei Jahren viel Zeit und Kraft gekostet: Zeitweise musste mehrmals wöchentlich getestet und Kinder nach Hause geschickt werden; Versäumtes musste nachgeholt, der Unterricht immer wieder neu an die Situation angepasst werden, Förderbedarfe für den „Rückenwind“ erfasst und organisiert werden.
  • Auch die Digitalisierung von nahezu 0 auf 100 Prozent kostet Zeit, etwa die Pflege und Wartung dienstlicher Endgeräte sowie die eigene Weiterqualifizierung bezüglich der Digitalisierung.
  • Gesundheit: Viele Lehrkräfte haben auch aus gesundheitlichen Gründen ihre Arbeitszeit reduziert und müssen dafür ein Attest vorlegen. Eine solche Entscheidung macht man sich nicht leicht, sie hat Einbußen bei der Besoldung und bei der Pension zur Folge.

In der GEW und in den Personalräten sehen wir, dass Beratungen zur Frage „Wie schaffe ich es noch bis zum Antragsruhestand?“ (63, nicht Regelaltersgrenze von 67 Jahren) zunehmen. Leider auch Beratungen zum Burn-Out.

Der jahrzehntelang verschlafene Ausbau von Studienplätzen und der daraus entstandene Fachkräftemangel, vor allem an Grundschulen und an SBBZ, wird mit Ihrem Ratschlag leider nicht gelöst werden.

Und abgesehen davon: Baden-Württemberg rühmt sich für sein Ehrenamt und seine intakten Familien- und Vereinsstrukturen: Wer soll denn diese ganze Care-Arbeit übernehmen, wenn nicht die Angehörigen, die ihre Arbeitszeit reduzieren? Pflegekräfte gibt es keine und auch das Ehrenamt in THE LÄND braucht Menschen, die sich für diese Arbeit Zeit nehmen. Und stellen Sie sich vor, alle Teilzeitkräfte erhöhen auf Vollzeit und geben Ihre Ehrenämter ab. Was geschieht dann mit unserem gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Am Rande bemerkt – wenn wir die gesellschaftlichen Entwicklungen im Blick haben: Bitte fordern Sie doch im gleichen Zug die Männer auf, ihre Arbeitszeit zu reduzieren, damit sie auch Care-Arbeit übernehmen können. Es würde allen Beteiligten helfen, wenn in Krisensituationen und bei einem eklatanten Fachkräftemangel in Baden-Württemberg nicht vorschnell „Schuldige“ ausgemacht werden, sondern mit diesen gesprochen wird. Vielleicht haben Frauen in Teilzeit ja die ein oder andere Idee, wie man die Situation verbessern könnte. Eines ist aber sicher: Belehren lassen, wollen sie sich ganz sicher nicht.

Susanne Posselt, Vorsitz GEW-Landesfachgruppe Gemeinschaftsschulen
Andrea Wagner, Vorsitz GEW-Landespersonengruppe Frauen

Kontakt
Susanne Posselt
Vorsitzende Fachgruppe Gemeinschaftsschulen
Privat:  01520 2903121
Kontakt
Andrea Wagner
Vorsitzende Personengruppe Frauen