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Fallbeispiele der Schulpsychologie

Hilfe von außen

Krisenintervention, Beratung von Lehrkräften und Schüler*innen sowie Unterstützung bei Mobbing: Aus dem Alltag in den Schulpsychologischen Beratungsstellen Stuttgart und Albstadt berichten Anne Niedermeyer und Christian Achnitz.

Ein Kind hat einen roten Ballon vor das Gesicht gebunden.
Ein Luftballon kann der Wut eine Gestalt geben: Die Wut ist ein knallroter Wutballon, der schnell groß wird und dann platzt. (Foto: © markusspiske / photocase)

Anne Niedermeyer ist seit 2007 als Schulpsychologin tätig und weiß aus langjähriger Erfahrung, dass viele Lehrkräfte über ihre Grenzen gehen und versuchen, Probleme allein zu lösen. „Dabei gibt es Unterstützung außerhalb der Schule“, betont die 44-Jährige. Oft kann sie Lehrer*innen schon mit ein, zwei Beratungsgesprächen weiterhelfen. Ein gutes Beispiel dafür ist eine Lehrkraft, die sich an die Schulpsychologische Beratungsstelle Stuttgart wendet, weil sie sich mit einem ihrer Schüler in ihrer Vorbereitungsklasse überfordert fühlt. Der 14-jährige Syrer ist erst wenige Wochen in Deutschland. Er spricht kaum Deutsch, verhält sich ruhig, zurückhaltend und wirkt traurig. Sorgen macht sich die Lehrerin, weil er manchmal ganz unvermittelt anfängt zu weinen und sich dann in ein Regal zwischen Kisten verkriecht, wo er sich nach und nach beruhigt. Hinzukommt, dass er seine Mütze nicht abnehmen will, was an der Schule nicht erwünscht ist. In Situationen, in denen er sich bedrängt fühlt, schlägt er um sich.

Niedermeyer nimmt sich des Falles an. Im ersten Beratungs­gespräch geht es darum aufzuklären: Wie lassen sich die Belastungsreaktionen des Jungen einordnen? „Dafür müssen wir nicht wissen, was der Schüler auf der Flucht oder in seinem Heimatland erlebt hat. Es reicht zu sehen, dass er belastet oder womöglich traumatisiert ist“, erklärt Niedermeyer. Hat der Junge Todesangst und Kontrollverlust erlitten, reagiert er mit Weinen, wenn Bilder oder Erlebnisse ganz unvermittelt wieder vor seinem inneren Auge auftauchen. Um die Kontrolle wieder zu erlangen, verkriecht er sich im Regal, das ihm Schutz und Sicherheit bietet. So kommt er zurück ins Hier und Jetzt. Auch die Mütze bietet ihm Schutz und eine gewisse Abgrenzung. „Die aggressiven Durchbrüche sind ebenfalls ein Versuch, Kontrolle wiederzuerlangen. Dieser Fight-Modus bezieht sich auf vergangene Erlebnisse, nicht auf aktuelle Situationen oder Mitschüler*innen“, macht die Schulpsychologin deutlich. Allein mit diesem Hintergrundwissen fällt der Lehrerin der Umgang mit dem Schüler leichter.

Blick auf die innere Haltung

Zudem gibt Niedermeyer Anstöße, die innere Haltung zu überdenken und womöglich zu ändern. „Es macht einen Unterschied, ob ich denke, dass nur ein Teil und nicht die ganze Person verletzt ist“, hebt sie hervor. Im Fachjargon heißt das Konzept „Teilearbeit“. Die Schulpsychologin erlebt immer wieder, dass Lehrkräfte unbewusst versuchen, das Leid von den Schultern der belasteten Schüler*innen zu nehmen, es ungeschehen zu machen. „Das funktioniert natürlich nicht und ein Umdenken ist hilfreich. Es gilt anzuerkennen, dass es eine krasse Situation ist, und das Beste daraus zu machen“, veranschaulicht sie.

In ihrer Beratung gibt Niedermeyer auch konkrete Tipps für den Schulalltag. Einfache Ablenktechniken wie ein Knackfrosch, scharfe Hustenbonbons oder eine Rechenaufgabe können helfen, wenn der Schüler unruhig wird und droht abzugleiten. Zu den Erste-Hilfe-Maßnahmen zählen auch Atem- und Körperübungen, die die Schulpsychologin der Lehrkraft zeigt.

Grenzen erkennen und akzeptieren

Ein weiterer Baustein ihrer Beratung ist die Selbstfürsorge. „Die kommt bei Lehrkräften oft viel zu kurz, ist aber immens wichtig. Nur wer selbst stabil auf beiden Beinen steht, kann andere stabilisieren“, macht Niedermeyer klar. Sie ermutigt die Lehrkraft, ihre Grenzen wahrzunehmen und diese zu akzeptieren.

Nach dem ersten Beratungsgespräch folgt auf Wunsch der Lehrkraft ein Vor-Ort-Termin an der Schule, damit Niedermeyer sich ein Bild macht, ob die Stabilisierung an der Schule ausreicht, oder eine Therapie empfehlenswert ist. Im Anschluss gibt es ein Nachgespräch, und sie erfährt kurze Zeit später, dass die Lehrkraft nun gut mit dem Schüler klarkommt.

Tom und der rote Wutballon

Zu Niedermeyers Alltag gehört auch die Arbeit mit Schüler*innen, wie zum Beispiel mit dem Erstklässler Tom. Seine Eltern melden sich in der Beratungsstelle, weil ihr Sohn zu heftigen Wutausbrüchen neigt. Von einem Moment auf den anderen fängt er an zu schreien, schlägt um sich, wirft mit Gegenständen, tritt gegen Möbel und Ranzen. Es gibt Beschwerden von Eltern und Fachlehrer*innen, seine Mitschüler*innen sind teilweise eingeschüchtert oder meiden ihn. Zwar fängt die Klassenlehrerin ihn in diesen Situationen gut ein, aber sie kann das nicht ständig leisten, da sie viele Schüler*innen in der Klasse hat.

Nach dem Erstgespräch mit den Eltern lautet Niedermeyers Auftrag: Tom zu helfen, damit er sich besser regulieren kann. Zum ersten Termin kommt Tom – ein kleiner, zarter und pfiffiger Junge – mit seinem Vater. „Tom war sehr zugänglich, und ich konnte gleich heraushören, dass er unter der Situation leidet und sich wünscht, etwas zu ändern“, berichtet die Schulpsychologin. Gemeinsam schauen sie sich an, was aus ihm herausplatzt, um es besser zu verstehen. Niedermeyer wendet dafür die Methode der Externalisierung an, das heißt, sie regt Tom an, seiner Wut eine Gestalt zu geben.

Tom ist sofort klar: Seine Wut ist ein knallroter Wutballon, der schnell groß wird und dann platzt. Da er gern malt, malt er den Ballon. Dann ermutigt Niedermeyer ihn, etwas zu suchen, was ihm helfen könnte. Auch das geht im Handumdrehen. Im Nu bringt Tom einen gelben Friedensballon mit einem lachenden Gesicht zu Papier. In Toms Vorstellung pumpt sich der Friedensballon langsamer als der Wutballon auf und bleibt deswegen kleiner.

Im weiteren ­Verlauf überlegen sie, wie man den Friedensballon unterstützen könne. Prompt hat Tom die Lösung: eine Luftpumpe, die schnell Luft in den Friedensballon pumpt und gleichzeitig Luft aus dem Wutballon saugt. Dann malt Tom noch eine Fernbedienung, damit er die Pumpe auch bedienen kann. „Diese klassische Arbeit aus dem Bereich der Externalisierung ­funktioniert mit Kindern im Grundschulalter oft verblüffend gut“, informiert Niedermeyer.

„Manche ­Lehrkräfte ­versuchen ­unbewusst, das Leid von den ­Schultern der ­belasteten Schüler*innen zu ­nehmen, es ungeschehen zu machen.“ (Anne Niedermeyer)

Zum Abschluss gibt sie ihm die Hausaufgabe, im Alltag zu probieren, rechtzeitig auf den Knopf der Fernbedienung zu drücken, sobald der Wutballon auftaucht. Im Folgetermin bespricht sich Niedermeyer mit den Eltern und optimiert das Bild zusammen mit Tom. „Wichtig ist das Experten­dreieck Kind, Eltern, Lehrkraft. Das hat in diesem Fall wunderbar geklappt, denn alle hatten Freude und die Bereitschaft miteinander zu arbeiten“, sagt Niedermeyer zufrieden. Mit Erfolg, denn die Schulpsychologin hat nichts mehr von Toms Eltern gehört. Ein gutes Zeichen.

Hilfe bei Mobbing und in Krisen

Durch den Lockdown hat sich in vielen Schulen die Stimmung mächtig aufgeheizt. Mobbing, Suizidalität und Schulabsentismus haben zugenommen. Das macht sich auch im Alltag von Christian Achnitz bemerkbar. Der Schulpsychologe arbeitet an der Schulpsychologischen Beratungsstelle Albstadt. Er und seine drei Kolleg*innen haben 150 Schulen in zwei Landkreisen zu betreuen.

Erst vor kurzem hatte Achnitz wieder eine An­frage wegen eines Mobbingfalls. Eltern eines Schülers hatten sich an die Beratungsstelle gewandt, weil ihr Sohn sich von einem ehemaligen Freund drangsaliert und gemobbt fühlte. Nach dem Erstgespräch lautete sein Auftrag, eine No-Blame-Klassenintervention und ein Betroffenencoaching durchzuführen, mit dem Ziel, dass der Junge sich sicherer fühlt und wieder gern in die Schule geht. Denn aufgrund der belastenden Situation war er oft krank und fehlte häufig.

Arbeiten mit Unterstützergruppe

Bevor Achnitz mit der Intervention starten konnte, holte er sich das Einverständnis von der Schulleitung, der Klassenlehrerin, den Eltern und dem betroffenen Schüler ein. Bei der Klassenlehrkraft informiert er sich über positive Charaktereigenschaften des Schülers, der mobbt, des Mittäters und über Mitschüler*innen, die dem Betroffenen freundlich oder neutral gegenüber eingestellt sind. Auf diesem Weg stellt er eine sogenannte Unterstützergruppe zusammen. Dann geht er unangekündigt in die Klasse – nur der Betroffene weiß darüber Bescheid. Achnitz erklärt den Schüler*innen, dass es ein Problem gäbe und lädt die vorher ausgewählten Schüler*innen ein, bei der Lösung zu helfen. Mehr sagt er nicht. „Der Überraschungseffekt war groß und alle sind sofort einverstanden, mitzumachen. Sie waren neugierig, warum sie ausgesucht wurden und worum es ging“, erklärt der 57-Jährige, der seit elf Jahren bei der Beratungsstelle tätig ist.

Beim darauffolgenden Gespräch mit der Unterstützergruppe, erläutert Achnitz jedem Schüler und jeder Schülerin, warum sie in der Unterstützergruppe sind, zum Beispiel: „Peter, du bist mit dabei, weil du dich traust, vor der Klasse deine Meinung zu sagen.“ Das erhöht die Bereitschaft, mitzumachen. Danach erst schildert der Schulpsychologe das Problem: Dass David sich nicht traue, in die Schule zu kommen, weil er gemobbt würde. Achnitz fragt, wie es gelingen kann, dass David sich wieder wohlfühlt, und gemeinsam sammeln sie Ideen, die sie auf Karten festhalten. „Das hat richtig gut funktioniert und auch der Täter hat konstruktive Ideen eingebracht“, berichtet Achnitz.

„Es wird nicht auf einer ­Entschuldigung ­bestanden, vielmehr geschieht ­diese implizit durch die ­Verhaltensänderung des Täters und der Mittäter. Es reicht, wenn sie das ­Opfer in Ruhe lassen.“ (Christian Achnitz)

Wertschätzung statt Konfrontation

Er hat viele gute Erfahrungen mit dieser Methode gemacht, die auf Wertschätzung und nicht auf Konfrontation aufbaut. Dadurch ist das Risiko, dass die Situation eskaliert, gering. „Es wird nicht auf einer Entschuldigung bestanden, vielmehr geschieht diese implizit durch die Verhaltensänderung des Täters und der Mittäter. Es reicht, wenn sie das Opfer in Ruhe lassen“, informiert Achnitz.

Auch das Betroffenencoaching verläuft erfolgreich. Achnitz vermittelt konstruktive, sozialverträgliche Methoden, wie David für sich einstehen, sich abgrenzen und sich Unterstützung holen kann. Er gibt ihm Möglichkeiten an die Hand, wie er sich in unterschiedlichen Situationen am besten verhält und übte diese in Rollenspielen mit ihm. Auch ungünstige Verhaltensweisen werden thematisiert. So weit so gut. Aber anstatt die positiven Strategien einzusetzen, wendet David die negativen an und wird vom Opfer zum Täter. Trotz Gesprächen mit Achnitz, der Mutter und der Klassenlehrerin ändert er sein Verhalten nicht. Die Klassenlehrerin bleibt mit Achnitz in Kontakt und hartnäckig. Immer wieder weist sie David darauf hin, dass sie sein Betragen nicht dulde und die Situation im Blick habe. Sie holt die drei beteiligten Schüler an einen Tisch und gemeinsam suchen sie nach Lösungen, was jeder tun kann, damit sich alle wohlfühlen. Das hat gewirkt und die Drei versuchen nun, wieder freundschaftlich miteinander umzugehen. „Man kann die Dynamik nicht vorhersagen, und so wurde der Fall ein bisschen tricky“, stellt Achnitz fest. Die Ausdauer aller Beteiligten hat sich gelohnt: Die Klasse, die vorher als schwierig und unruhig galt, ist nach der No-Blame-Klassenintervention erstaunlich ruhig, wie Achnitz von der Lehrerin erfährt.

Kontakt
Martin Morgen
Vorsitzender Fachgruppe Schulaufsicht, Schulverwaltung, Seminare