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„Ich traue mich nicht mehr krank zu werden“

An den Schulen im Landkreis Göppingen herrscht Lehrermangel. Wie in ganz Baden-Württemberg. Schulleiter Thomas Schnell berichtet, wie sich das auf den Schulalltag auswirkt, Schulamtsleiter Jörg Hofrichter lotet aus, was die Verwaltung noch tun kann und wie sich der Mangel erklären lässt, und GEW-Kreisvorstand Holger Kißling nimmt die Politik in die Pflicht. Für alle ein täglicher Kampf.

Thomas Schnell, Rektor der Heinrich-Schickhardt-Schule in Bad Boll beschreibt stellvertretend für viele Schulleitungen der Region die Situation: „Wenn bis zu acht Kolleginnen und Kollegen fehlen, kommt man an die Grenze.“ Klassen müssten zusammengelegt, Kinder von Klassen ohne Lehrkräfte verteilt werden. „Wir sprechen dann nicht über Unterrichtsqualität, sondern wir kämpfen ums Überleben.“ Wenn so viel zusammenkomme, dann gehe es nicht mehr. „Die Lehrkräfte, die noch da sind, tragen so große zusätzliche Pakete, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis diese ausfallen“, fürchtet Thomas Schnell. „Auch wenn wir zu 100 Prozent versorgt sind, ist doch klar, dass es Engpässe gibt, irgendjemand fehlt immer, so sind wir faktisch konstant unterversorgt“, meint Schnell. „Wir bräuchten eine Zuweisung von 120 Prozent, um einigermaßen über die Runden zu kommen.“

„Aktuell“, stellt der Leiter des Staatlichen Schulamtes Göppingen Jörg Hofrichter fest, „können wir nur noch in wenigen Einzelfällen für Ersatz sorgen.“ Einerseits sei der Personalbedarf an den Schulen gestiegen, andererseits gebe es nur eine geringe Zahl an Bewerbern auf dem Arbeitsmarkt. „Dazu kommt eine überraschend hohe Anzahl an Mutterschutzfällen - und das bei gleichzeitiger Pensionierungswelle“, erklärt Hofrichter. Das Staatliche Schulamt versucht, laut Hofrichter, die Ausfälle durch Krankheitsvertretungen aufzufangen. Aber auch mit Maßnahmen wie die Aufstockung von Teilzeitdeputaten, vorzeitige Rückkehr von Lehrkräften aus der Elternzeit oder mit befristeten Vertretungsverträgen. Auch durch die Kürzung oder den Wegfall von ergänzenden Angeboten können Ausfälle kompensiert werden. Möglich, meint Hofrichter, sei auch die Kürzung des Unterrichtsangebotes. „Diese Option versuchen wir nach Möglichkeit zu vermeiden“, erklärt der Amtsleiter. Aber die Grenze der Belastbarkeit sei bei vielen Lehrkräften erreicht. „Seit Jahresbeginn kommt es daher auch zu Unterrichtsausfällen“, räumt Jörg Hofrichter ein.

„So schlimm wie jetzt war es noch nie“, fasst der GEW-Kreisvorsitzende Holger Kißling Gespräche zusammen, die er mit vielen Rektoren im Landkreis Göppingen geführt hat. Die Politik müsse auf diese Entwicklungen reagieren, findet Kißling. „Deshalb fordern wir in unserem Antrag für die Personalversammlung an erster Stelle die Rücknahme der geplanten Streichung von 1.074 Lehrerstellen durch das Kultusministerium“, erklärt Kißling. In Zeiten des akuten Mangels, Lehrerstellen zu streichen sei Wahnwitz. Stattdessen müsse das Ministerium eher dem Nachwuchsmangel gegensteuern. Andererseits sei es unter den gegebenen Umständen kein Wunder, dass weniger junge Leute den Lehrerberuf ergreifen wollten.
Schulamtsleiter Hofrichter plädiert für einen differenzierten Blick auf den Lehrermangel. Diesen einfach mit den Stellenstreichungen und zu wenig Nachwuchs zu erklären, reicht seiner Ansicht nach nicht aus. „Vielmehr stehen einer leichten Abnahme an ausgebildeten Junglehrkräften äußerst hohe Investitionen ins baden-württembergische Schulwesen gegenüber, die zu enorm gestiegenen Personalbedarfen geführt haben“, meint er. Hierfür kann er zahlreiche Beispiele anführen: „Die Ausweitung der Stundentafel in der Grundschule um je eine Stunde in Deutsch und Mathematik, die Sprachförderung an Grundschulen, der Ausbau des Ganztags in nahezu allen Schularten, die Auflösung der Fächerverbünde, also die Rückkehr zu Biologie, Physik, Chemie, das neue Unterrichtsfach „Wirtschaft, Berufs- und Studienorientierung, die zusätzlichen Poolstunden für Gemeinschaftsschulen, Realschulen, Gymnasien und berufliche Schulen zur individuellen Förderung und Binnendifferenzierung des Unterrichts, der Ausbau bilingualer Züge an Realschulen, der Ausbau der Profilbildungen an Gemeinschaftsschulen und Gymnasien und viele weitere bildungspolitische Innovationen.“ Das alles sei durchaus begrüßenswert, führe aber zu steigendem Personalbedarf bei leicht rückläufigen Zahlen der auf den Arbeitsmarkt nachströmenden neu ausgebildeten Lehrkräfte.

Leider lasse es sich auch nicht leugnen, dass der Lehrerberuf offenbar an Attraktivität für junge Menschen verloren habe. Das werde durch die derzeitige Situation sicher nicht besser. „Auf einem immer stärker um die Schulabgängerinnen und -abgänger konkurrierenden Ausbildungs- und Arbeitsmarkt  sollten wir aufzeigen, dass es kaum ein anderes Arbeitsfeld gibt, in dem so kreativ und eigenständig gearbeitet werden kann und in dem das Feed-Back für die eigenen Erfolge so direkt erfahrbar ist“, findet Schulamtsleiter Hofrichter. Man unternehme viel, aber vielleicht nicht genug, um junge Menschen für den Lehrerberuf zu begeistern.
GEW-Kreisvorstand Kißling sieht das anders. „Gut ist, dass sich GEW durchgesetzt hat und die Absenkung der Eingangsbesoldung zurückgenommen wurde“, erklärte er. Auch halte die GEW die Besoldungsstufe A13 statt A12 für Grund- und Hauptschullehrkräfte für angemessen. „Gerade im Süden Baden-Württembergs gibt es eine bemerkenswerte Abwanderung von Lehrkräften in die Schweiz, da finden sie nicht nur bessere Arbeitsbedingungen, sondern sie werden auch wesentlich besser bezahlt“, berichtet Kißling.
„Die Bezahlung für Lehrkräfte liegt insgesamt im oberen Durchschnitt“, erklärt Schulamtsleiter Hofrichter. Man dürfe die Vorteile der Staatlichen Beihilfe für Gesundheitsleistungen und die Beamtenpension ebenfalls nicht vergessen. „Allerdings“, räumt Hofrichter ein, „trifft es zu, dass die Besoldung der Grund- und Hauptschullehrkräfte sowie der Schulleitungen kleiner Schulen deutlich hinter anderen Bundesländern zurückliegt.“

Besonders hart werden die inklusiven Lerngruppen vom Lehrermangel getroffen. „Diese Lerngruppen sind nicht so einfach mit einem Notprogramm zu versorgen, da braucht es Personen, die voll anwesend sind“, erzählt Schulleiter Thomas Schnell. Es dürfe keine einzige Stunde ausfallen. Denn wenn die Kinder früher aus hätten, müssten bei manchen Kindern die Fahrdienste umbestellt werden. „Diese Kosten trägt dann die Schule“, erklärt Schnell.
Eine Sonderpädagogin, die in einem inklusiven Setting arbeitet, berichtet: „Ich traue mich überhaupt nicht mehr krank zu werden, es bleibt ja dann alles an den Kollegen hängen, die nicht dafür ausgebildet sind.“ Die inklusiven Kinder würden dann halt mit durch den Schultag „geschleppt“. Das könne ja aber nicht der Sinn der Sache sein.

Es werde von Jahr zu Jahr schlimmer, meint auch der Sonderpädagoge Andreas Wolfer. „Ich kann den Begriff „Inklusives-Setting“ nicht mehr hören“, schimpft er. Das Zwei-Pädagogen-Prinzip würde funktionieren, das haben wir aber noch längst nicht erreicht und alles andere sei eine Luftnummer. „Die Stimmung bei den Regelschullehrern, die anfangs noch engagiert dabei gewesen sind, kippt, die wollen nicht mehr“, meint Wolfer. Bei der Inklusion habe sich eine „Basar-Mentalität“ eingeschlichen. „Hier ein paar Stunden, da ein paar Stunden“, meint Wolfer, „aber den Kindern werden wir so nicht gerecht.“
Das räumt auch Schulamtsleiter Hofrichter ein. „Der Mangel besonders an ausgebildeten Sonderpädagog/innen erschwert uns natürlich die Versorgung von Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren, wenn gleichzeitig die inklusiven Bildungsangebote ausgebaut werden“, meint Hofrichter. Dennoch ist er der Ansicht: „Wir verfügen über ein flächendeckendes und auch bedarfsdeckendes Netz an Standorten für Inklusion.“ Seit zwei Jahren hätten sich die Neuanfragen von Eltern nach inklusiven Angeboten stabil eingependelt.