Berufliche Schulen
Kein Bock auf Schule?
Die Fehlzeiten bei den Schüler*innen (nicht nur) in den Beruflichen Schulen sind sehr hoch. Ingrid Holl, Lehrerin an einer Beruflichen Schule, benennt Gründe, sucht nach Lösungen und beschreibt, was das mit der Arbeitszeit der Lehrkräfte zu tun hat.
Schülerinnen kommen zu spät, Schüler gar nicht, fehlen tagelang und stundenweise. Entschuldigungen trudeln ein, vielleicht. Eltern entschuldigen ihre minderjährigen Jugendlichen aus den unterschiedlichsten Gründen, Volljährige tun dies selbst. Betriebe brauchen die Azubis als Arbeitskraft und befreien sie eigenmächtig vom Berufsschulbesuch. Die Ursachen des „Schwänzens“ sind so vielfältig wie unsere Schülerschaft und betrifft alle Schularten der Beruflichen Schulen. Im Extremfall spricht man von Schulabsentismus.
Aus Sicht der Lehrkräfte hat die häufige Abwesenheit von Schüler*innen zwei Seiten – mindestens. Da schlägt einmal unser Pädagogenherz. Wir wollen ja, dass die jungen Menschen in die Schule kommen, dass sie gerne kommen, die Schule nicht abbrechen. Von einem regelmäßigen Schulbesuch hängt so vieles ab: soziale Kontakte, Tagesstruktur, Erfolgserlebnisse, Bewältigung von Schwierigkeiten, letztlich bestimmt der Bildungserfolg die spätere berufliche Existenz.
Dem Kultusministerium ist die Thematik nicht fremd, in seiner Broschüre dazu (siehe Ende des Textes) finden sich Ideen und Handlungsschritte, die viele Berufliche Schulen bereits umsetzen: Am Anfang des Schuljahres kommunizieren die Klassenleitungen klare Fehlzeiten-Regeln, die für die gesamte Schule verbindlich sind, da sie zuvor in einer GLK abgestimmt wurden. Lehrkräfte und die Verantwortlichen im Umgang mit Schwänzen müssen konsequent handeln. Maßnahmen sind reichlich vorhanden, wirken aber oft zu spät. Am Beginn stehen in jedem Fall immer Gespräche.
Vertrauen als Basis von Gesprächen
Damit sich die Schüler*innen der Lehrkraft gegenüber öffnen, muss eine Vertrauensbasis da sein; schwierig, wenn etwa Sprachkenntnisse fehlen oder Schule verbunden wird mit negativen Erlebnissen in der Vergangenheit. Der Schulbesuch an den zahlreichen Schularten der Beruflichen Schulen dauert ein bis drei Jahre. Nicht gerade viel, um sich mit einer Schule zu identifizieren. Keine lange Zeit, um Schüler*innen und Lehrkräfte richtig kennenzulernen und ihnen zu vertrauen.
Jede Schülerin und jeder Schüler will als Mensch wahrgenommen, gesehen und gehört werden. Wir leisten also Beziehungsarbeit, hören zu und versuchen dem Grund für die hohen Fehlzeiten auf die Spur zu kommen. Warum wird die Schule gemieden? Eine ganze Bandbreite von möglichen Ursachen steht hier zur Auswahl: Das können schlechte Erfahrungen an der vorherigen Schule sein, verursacht etwa durch Mobbing, oder zu starker Leistungsdruck und Überforderung. Die Zahl der Schüler*innen mit psychischen Problemen ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen, vielleicht sind hier noch Corona-Nachwirkungen zu spüren. Besteht eine Spielsucht, nicht selten leider, vor allem bei den Jungs? Fehlen die Freund*innen, deretwegen man früher gerne und regelmäßig die Schule besucht hat, die aber jetzt einen anderen Bildungsweg eingeschlagen haben? Was ist mit den Eltern? Hat der Schulbesuch keinen hohen Stellenwert bei ihnen oder bekommen sie gar nicht mit, dass ihr Kind häufig fehlt, weil es volljährig ist und sich selbst entschuldigt? Muss der junge Mensch zuhause Geschwister versorgen, früh morgens die Zeitung austragen, helfen beim Putzjob? Die individuelle Situation, in der sich der Jugendliche befindet, muss berücksichtigt werden, Beschuldigungen und Ermahnungen alleine helfen jedenfalls sicher nicht weiter.
Der Maßnahmenkatalog ist bekannt
Die Reihenfolge der Gespräche mit Schulvermeider*innen und den für sie Verantwortlichen sollte geklärt sein. Und sie müssen schnell geführt werden, denn sie sind eine Vorstufe zu § 90 Schulausschluss. (Im GEW-Jahrbuch kann man das Verfahren wunderbar nachlesen und sollte das auch tun.) Zunächst ist die Klassenlehrkraft zu nennen und die Klassenkonferenz, dann das hoffentlich vorhandene, schulinterne Unterstützungssystem (Beratungslehrkraft, Sozialarbeit, Schulpsychologie) und externe Hilfen.
Der Informationsaustausch ist wichtig, Lehrkräfte, Schulleitung, beratende Stellen, Therapeut*innen, alle ziehen an einem Strang mit dem Ziel, dass der junge Mensch die Schule wieder regelmäßig besucht. Dazu werden Vereinbarungen getroffen, die man schriftlich festhält. Wenn er oder sie sich nicht an die Abmachungen hält, folgen Konsequenzen: Vom verhängten Ordnungsgeld, das am besten mit Sozialstunden abzuleisten ist, über die Einschaltung des Jugendamtes und sogar der Polizei, die Schulverweigerer*innen morgens zu Hause abholt, alles ist möglich.
Abwesende Schüler*innen kosten die Klassenleitung unendlich viel Zeit
Fehlzeiten müssen dokumentiert werden, keine Frage. Mit Schulvermeider*innen verfährt man im besten Fall wie oben beschrieben. Am ohnehin schon arbeitsintensiven Schuljahresbeginn bedeutet das sehr viel Aufwand, in der Hoffnung, später weniger Abwesenheiten und dadurch weniger Mühe zu haben. Denn sie kostet Zeit, so unendlich viel Zeit – die Erfassung der Fehlzeiten.
Wer Klassenlehrkraft ist, weiß jedenfalls genau, wie viel Aufwand allein diese Verwaltungstätigkeit bedeutet und rechtlich sind wir dazu verpflichtet. Da ist noch kein einziges Gespräch geführt worden, weder mit häufig Fehlenden, deren Eltern, den Kolleg*innen oder der Beratungslehrkraft. Für diese Tätigkeit erhalten Lehrkräfte in der Regel keine Entlastung, obwohl ja längst bekannt ist, dass unsere Schüler*innen häufig fehlen und wir dagegen etwas tun müssen. Eine Klassenleitung sollte deshalb generell mit Deputatsstunden hinterlegt werden, mindestens eine „Verwaltungsstunde“ muss her. Andernfalls ist es wahrscheinlich, dass Schulabsentismus nicht konsequent von allen Lehrkräften angegangen wird – aus Zeitmangel, nicht mangels pädagogischen Interesses!
Gebt uns mehr Beratungsstunden!
Die Schule soll alles auffangen, aber bitteschön ohne zusätzliche Ressourcen - das funktioniert eben nicht. Unterstützungssysteme sind meist vorhanden, aber nicht in ausreichendem Maß.
An erster Stelle sind hier die Beratungslehrkräfte zu nennen. Beratungslehrkräfte brauchen deutlich mehr Zeit, um ihren immer umfangreicheren Aufgaben nachkommen zu können.
Das Gleiche gilt für die Schulsozialarbeit, wir brauchen mehr Stunden!
Schulabsentismus als Schulentwicklungsprojekt
Spätestens wenn ein Kollegium die vielen fehlenden Schüler*innen nicht mehr nur als ärgerliche, zeitfressende Verwaltungstätigkeit wahrnimmt, sondern als Krise, ist es an der Zeit, die Beseitigung dieser Störung anzugehen.
Den Schulabsentismus zu bekämpfen, kann ein Schulentwicklungsziel, ein Schulprojekt werden. Zur Einbeziehung aller dient vielleicht ein Pädagogischer Tag mit einer Information durch Fachleute aus den verschiedenen Hilfesystemen. Dann überlegen die Kolleg*innen, wie die empfohlenen Maßnahmen an ihrer Schule mit möglichst geringem Arbeitsaufwand umgesetzt werden können. Eine GLK kann die Empfehlung an die Schulleitung abgeben, Klassenlehrkräfte in besonders vom Schulabsentismus betroffenen Klassen zu entlasten.
Fazit
Es ist inakzeptabel, dass wir junge Menschen verlieren, weil sie die Schule abbrechen und sich dadurch ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbauen oder gar dauerhaft psychische Störungen entwickeln. Wir können uns das als Gesellschaft nicht leisten. Unsere Schülerschaft (nicht nur) an den Beruflichen Schulen hat sich stark verändert in den letzten Jahren. Sie ist heterogener geworden und viele Jugendliche haben ein schweres biografisches Päckchen zu tragen. Das können sie nicht ablegen, sobald sie das Schulgebäude betreten.
Junge Menschen befinden sich in einer sensiblen Lebensphase und haben das Recht auf Hilfe und Zugewandtheit.
Threema: XBEVP4BD