Kommentar
Kein großer Wurf
Statt die Kompetenzen der Kinder in den Blick zu nehmen, geht „SprachFit“ nur von den (unterstellten) Defiziten der Kinder aus. Viel sinnvoller und erfolgsversprechender wäre es, von den Kompetenzen der Kinder auszugehen.
Bildungsbenachteiligungen werden oft einseitig auf Eigenschaften der Kinder (können kein Deutsch) und der Familien (lesen keine Bücher vor) zurückgeführt. Außer Acht bleiben sozioökonomische und strukturelle Gründe innerhalb des Bildungssystems. Auch das „katholische Arbeitermädchen vom Land“, das einst der Prototyp für Bildungsbenachteiligte war, konnte erst erfolgreich am Schulsystem teilnehmen, nachdem strukturelle Hindernisse abgebaut wurden.
Statt die Kompetenzen der Kinder in den Blick zu nehmen, was eigentlich schon seit Anfang der 2000er-Jahre pädagogischer Standard ist, geht „SprachFit“ nur von den (unterstellten) Defiziten der Kinder aus. Dabei werden nur sprachliche Defizite erhoben und beruhen auf einer unzureichenden Testung. Viel sinnvoller und erfolgsversprechender wäre es, von den Kompetenzen der Kinder auszugehen und auf der Basis von validen Daten mit den Kindern zu arbeiten. Erschwerend kommt hinzu, dass alle Kinder über einen Kamm geschoren werden. So wird verallgemeinernd Kindern mit Zuwanderungsgeschichte unterstellt, sie könnten kein Deutsch oder noch schlimmer: Sie könnten nicht gut sprechen.
Einschulungsuntersuchung (ESU) verbesserungswürdig
Seit 2006 wird mit der Einschulungsuntersuchung der Sprachstand von vier- bis viereinhalbjährigen Kindern ermittelt. Ärztliche Fachpersonen und ihre Gesundheitsassistent*innen erheben mit dem diagnostischen Verfahren HASE (Heidelberger Auditives Screening zur Einschulung), ob die Kinder drei Aufgaben erfüllen: Sätze nachsprechen, Kunstwörter wiederholen, Zahlenreihe fortsetzen. Bei unzureichenden Ergebnissen wird das Kind mit einer Auswahl von Aufgaben des SETK 3 – 5 (Sprachentwicklungstest für Kinder zwischen drei und fünf Jahren) eingeschätzt.
Die Untersuchung selbst findet im Gesundheitsamt mit den Eltern oder in der Kita statt. In den Kitas ist meist eine pädagogische Fachkraft dabei. Wenn die ESU im Gesundheitsamt stattfindet, kommt es öfter zu Konflikten zwischen Familien und den Mitarbeitenden des Gesundheitsamtes. Da sie vermutlich unter Zeitdruck stehen, scheinen sie oft nicht die notwendige Geduld für die Kinder aufzubringen, die in einer fremden Situation und mit fremden Menschen einen Test ablegen sollen. So verweigern Kinder teilweise die Mitarbeit. Manchmal sind die Mitarbeitenden sehr unsensibel, wenn sie den Familien schlechte Testungsergebnisse mitteilen, was in der Folge eine konstruktive Zusammenarbeit mit den Eltern erschwert. Am schlimmsten ist aber, dass sich die verwendeten Tests nur für einsprachig deutsche Kinder eignen. Viele Kinder wachsen aber mehrsprachig aut. Daher kommt es zu einer Vielzahl von falsch positiven, aber auch falsch negativen Ergebnissen. Die Ergebnisse der ESU, wie sie jetzt erhoben werden, sind eigentlich untauglich.
Das alte Sprachförderkonzept
Unabhängig von der Qualität werden mit den Testergebnissen zwei Wege bestritten: Zum einen kann der Förderbedarf in der alltagsintegrierten Sprachbildung im pädagogischen Alltag der Kita entlang des Orientierungsplans gesichert werden. Zum anderen wird ein Kind bei gravierenden Sprachentwicklungsauffälligkeiten in eine Fördergruppe aufgenommen. Für 80 Förderstunden im letzten Kindergartenjahr und für eine Kleingruppe von drei bis sieben förderbedürftigen Kindern erhält die Kita 2.200 Euro pro Gruppe aus Landesmitteln zu den Sprachfördermaßnahmen „Intensive Sprachförderung plus“ (ISF+) oder „Singen-Bewegen-Sprechen“ (SBS).
Im Rahmen des Pakts für gute Bildung und Betreuung wurde die Gesamtkonzeption „Kompetenzen verlässlich voranbringen (Kolibri)“ zu Fördermaßnahmen im frühkindlichen Bereich erstellt. (…) Gefördert werden Entwicklungsgespräche sowie Sprachfördermaßnahmen für Kinder mit intensivem Sprachförderbedarf (…)“.
Die neuen Konzepte für den Kitabereich sind folglich nicht neu, aber so unzureichend wie die alten. Kolibri beispielsweise erfordert ein immenses Antrags- und Dokumentationsverfahren und hat bis jetzt keine positiven Wirkungen gezeigt. Das liegt auch an der fehlenden Qualifikation der durchführenden Fachkräfte und der mangelnden zeitlichen Ausgestaltung.
Das neue Sprachförderkonzept
Ziel des neuen Sprachförderkonzepts ist: Kinder sollen nur noch schulbereit in die Schule kommen. Der alte Begriff „schulreif“ steckt noch im Projekt „Schulreifes Kind“ und entstammt dem Geist der 60er-Jahre, als man meinte, man müsse nur warten bis biologische Vorgänge dazu führen, dass ein Kind reif für die Schule sei. Die wichtigen Einflüsse durch Lernmöglichkeiten in der Familie und Kitas ließ man außen vor. Dieses alte Denken blitzt immer wieder auf.
Zu Säule 1: Sprachförderung vor der Einschulung
Die Grundsatzfrage lautet: Ist es sinnvoll, Kita-Kinder in Kleingruppen zur Sprachförderung in eine Schule zu transportieren, wo sie in fremder Umgebung und von für sie zunächst fremden Menschen unterrichtet werden sollen?
Wer den Text ab Seite 27 von Prof. Dorothee Gutknecht liest, wird erkennen, wie mäßig sinnvoll Sprachförderprogramme sind. Es ist wissenschaftlich belegt, dass sich die Kluft zwischen Kindern mit und ohne Förderbedarf durch die Arbeit mit Sprach-Förder-Programmen nicht verringert. Mit den Maßnahmen der Säule 1 wird folglich viel Geld für wenig Wirkung ausgegeben.
Da sich die Sprachfördermaßnahmen vor der Einschulung auf das Projekt „Schulreifes Kind“ beziehen, sind die Grundschulen dafür verantwortlich. Auf Kita-Träger hat das Land keinen Einfluss und kann daher die Aufgabe nicht in die Kitas verlagern.
Bisher ist ungeklärt, wie Kitas die Förderbedarfe umsetzen, wenn sie nicht im Projekt „Schulreifes Kind“ beteiligt sind. Bleibt hier alles beim Alten mit Kolibri? Weiterhin ist nicht gewährleistet, ob und wie personelle Kapazitäten vorhanden sind, um Fördergruppen überhaupt anzubieten.
Zu Säule 2: In der Schule
Dass es in den Grundschulen nun verbindliche Stundenzuweisungen zur Förderung von Schüler*innen geben wird, ist eine jahrelange Forderung der GEW, und es ist positiv, dass das SprachFit-Konzept nun dazu führt, dass dies umgesetzt wird.
In den bisherigen Grundschulförderklassen, die jetzt Juniorklassen heißen sollen, sind nicht nur Kinder, die eine Förderung im sprachlichen Bereich brauchen, sondern auch Kinder, die zurückgestellt (also nicht regulär eingeschult) wurden, weil sie anders gelagerte, teils vielschichtige Förderbedarfe hatten. Völlig unklar ist noch, wie diesem Anspruch in den zukünftigen Juniorklassen gerecht werden sollen.
Der Erfolg wird davon abhängen, wie die Fachkräfte, die in den Juniorklassen unterrichten werden, qualifiziert sind, und welche Personen für den Unterricht in der Sprachförderung eingesetzt werden. Originär sollten das Lehrkräfte sein, die Deutsch studiert, Erfahrungen in Deutsch als Fremdsprache und in Vorbereitungsklassen haben. Um eine gelingende Kooperation mit den Kitas zu festigen und nicht in ein Konkurrenzdenken zu verfallen, wäre es zudem nötig, dass diese Lehrkräfte auch an der Kindergartenkooperation beteiligt sind. Eine entsprechende Qualifizierung muss dies im Blick haben und lässt sich sicher nicht nebenbei in einer Fortbildung erwerben.
Um die Schulen zu sensibilisieren und das Thema nicht als weitere Zusatzaufgabe in der Verantwortung einzelner Lehrkräfte oder der Schulleitung zu belassen, ist es dringend notwendig, dass das Sprachförderkonzept in der Unterrichts- und Schulentwicklung jeder einzelnen Grundschule mitgedacht und implementiert wird. Denn auch im Regelunterricht ist es wesentlich, sprachsensibel zu unterrichten und die Sprachkompetenzen der Schüler*innen im Blick zu behalten. Inwieweit das bisherige Konzept und die Diagnostik der bisherigen Vorbereitungsklassen aufgehoben oder integriert werden, ist noch unklar.
Muss die Sprachförderung der Säulen 1 bis 3 von der Kita über die Juniorklassen und dann in den ersten beiden Schuljahren nicht von Teams (Sprachprofis) gestaltet und Hand in Hand und auf Augenhöhe mit dem Fachpersonal in den Schulen und in den Kitas entwickelt und umgesetzt werden? Woher kommt dieses Personal?
Die Gelingensfaktoren sind also Qualifikation, Kooperation und ausreichendes Personal.
Zu Säule 3: Alltagsintegrierte Sprachbildung und Sprachförderung in der Kita
Das Land Baden-Württemberg setzt mit Kolibri seit Jahren auf ein additives Sprachförderprogramm in den Kitas. Die angesetzten vier Schulstunden pro Woche, die im neuen Konzept stehen, sind ebenfalls additiv, ziemlich nutzlos, zumindest unzureichend. Um eine Sprache zu lernen, brauchen Kinder ein “Bad” in der Zielsprache und nicht nur das trockene Lernen von Begriffen in abstrakten Lernsituationen, wie sie jetzt geplant sind. Nötig sind Verknüpfung von (Wort)Bedeutung und Erfahrung und zwar in einer Reihe von ganz unterschiedlichen Situationen. Das gelingt mit alltagsintegrierter Sprachbildung, Projektarbeit, Ausflügen usw. Das neue Programm der Landesregierungen wird solch wertvolle Sprachanlässe vermindern, weil es die zeitlichen Strukturen in den Kitas noch starrer macht und freie Zeit verringert.
Die alltagsintegrierte Sprachbildung, auf die das Bundesprogramm Sprachkita setzt, hat genau solche Vorhaben befördert. Das Programm rückt außerdem die adäquate Schulung der Fachkräfte (nicht die Defizite der Kinder) in den Fokus, da es davon ausgeht, dass Kinder dann die Sprache gut lernen, wenn sie die ganze Zeit von guten Sprachmodellen umgeben sind. Im Gegensatz dazu senkt die Landesregierung die Anforderungen an die Fachkräfte ab und versucht nicht, sie systematisch und flächendeckend auszubauen.
Auch die Evaluationsergebnisse des Bundesprogramms bestätigen die gute Wirkung der alltagsintegrierten Sprachbildung mit den Sprachkitas. Die Expertise „Bundesweite Standards in der sprachlichen Bildung in der Kindertagesbetreuung“ von Yvonne Anders, Katrin Wolf und Charlotte Enß (Universität Bamberg) von 2023 empfiehlt als vorrangige, wichtige und wirkungsvolle Maßnahmen zur Qualitätsentwicklung der Sprachlichen Bildung und Sprachförderung (Seite 110 ff.):
- mindestens 18 Prozent der Arbeitszeit für mittelbare pädagogische Arbeit
- regelmäßige Fortbildung für alle pädagogischen Fachkräfte im Bereich der sprachlichen Bildung
- Einrichtung von Fachberatungsstellen auf Seiten der Träger, die zehn bis 15 Einrichtungen kontinuierlich zur Weiterentwicklung der sprachlichen Bildungsqualität beraten und unterstützen
- eine Fachkraft mit einschlägiger Qualifikation in jeder Kindertageseinrichtung als zusätzliche Funktionsstelle und Multiplikationsstellen für Einrichtungen in besonders herausfordernden Lagen
- verpflichtende externe Evaluationen
- verpflichtende Sprachstandserhebungen und bundeseinheitliches Sprachdiagnostikverfahren
- verbindliche Implementierung und Stärkung der sprachbezogenen Elternzusammenarbeit
- Sicherstellung eines Fachkraft-Kind-Schlüssels in Anlehnung an wissenschaftliche Empfehlungen
Diese Empfehlungen sind ganz im Sinne der GEW. Deshalb raten wir dem Kultusministerium ganz dringend, in Verbesserungen der personellen Ausstattung in den Kitas zu investieren und einen sozialpädagogischen Ansatz zu verfolgen.