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Ort der Demokratiegeschichte

Können Grundschüler*innen den Wert von Demokratie erkennen?

Im Bildungsplan der Grundschulen ist Demokratiebildung festgeschrieben. Doch was davon ­begreifen 8- bis 10-jährige Kinder? Die 4.-Klässler*innen der Anne-Frank-Grundschule in Offenburg besuchten die „Werkstatt Demokratie“ im Salmen. Ein Einblick.

„In dieser Werkstatt tasten sich die Schüler*innen spielerisch an die Bedeutung demokratischer Werte heran und erspüren, wie diese ihren eigenen Alltag beeinflussen.“ So lautet der Ankündigungstext auf der Internetseite des Salmen. Inga Rosenkranz, die die zweistündige Werkstatt Anfang Oktober mit den 4.-Klässler*innen im Offenburger Salmen leitet, meint das „Erspüren“ ernst. „Ihr müsst nichts wissen“, betont sie mehrmals „ihr könnt hier selbst entscheiden, was euch wichtig ist.“ Im Rollenspiel wird das deutlich. Jedes Kind soll sich dabei in einen familiären Kontext einfühlen: Ein Kind beispielsweise wohnt behütet bei Pflegeeltern; eines hat vier jüngere Geschwister, die Mutter arbeitet nachts, der Vater ist als Lkw-Fahrer oft unterwegs; ein anderes hat Professoreneltern, die keine Zeit haben; andere sind nach Deutschland gezogen. Die Schüler*innen sollen in ihrer Rolle immer dann einen Schritt nach vorne machen, wenn sie auf Fragen von Rosenkranz „ja“ sagen würden. Bei der Frage „Habt ihr einen Fernseher und Internet zu Hause?“, machen alle Kinder einen Schritt nach vorne, bei „Fahrt ihr regelmäßig in Urlaub?“ bleiben Kinder stehen. „Werdet ihr gehänselt?“ führt auch zu unterschiedlichen Reaktionen. Am Ende stehen die Kinder verteilt im Raum. Einige entscheiden sich für viele Schritte, einige bleiben weit zurück. Wobei auch manche Quatsch machen und nicht alle mit der gleichen Ernsthaftigkeit dabei sind. Trotzdem entsteht ein klares Bild: Die Herkunft führt zu unterschiedlichen Schritten nach vorne. „Wie fühlt sich das an?“ will die Leiterin danach wissen. Die Kinder spüren, das ist ungerecht. Vor allem für unterschiedliche finanzielle Möglichkeiten haben sie eine Antenne.

„Am Ende ergibt das Rollenspiel in jeder Gruppe ein anderes Bild“, erklärt Rosenkranz. Die Bildungsreferentin für Globales Lernen und Demokratiebildung leitet seit September 2022 regelmäßig die „Werkstatt Demokratie“ und die „Werkstatt Freiheit“, die für Schüler*innen ab Klasse 8 konzipiert ist. Zwei Jahre lang wurde der Salmen umgebaut. Seit der Wiedereröffnung im Mai 2022 ist vieles neu und mehr möglich. Die Ausstellung wurde größer und moderner, im historischen Saal gibt es viele politische und kulturelle Veranstaltungen und zu Öffnungszeiten wird dort ein teilfiktiver Film gezeigt, der die beiden wichtigen historischen Ereignisse in diesem Haus erlebbar macht: Aufbruch zur Demokratie und Zerstörung der Nazis (siehe Kasten). Das museumspädagogische Angebot des Salmen wird weiter ausgebaut.

Was Grundschüler*innen verstehen

Dass der Salmen eine Wiege der Demokratie ist, das verstehen auch die Grundschüler*innen. Die dort proklamierten Forderungen und die Grundgesetze brauchen abgewandelte Formulierungen, damit auch 8- bis 10-Jährige etwas damit anfangen können. Im Workshop geht es auch darum, welche Gesetze sie selbst wichtig finden. Und ganz wichtig, dass unsere heutigen Rechte nicht selbstverständlich sind. „Vor rund 200 Jahren durften die meisten Kinder nur in die Grundschule gehen, ihre Eltern besaßen kein eigenes Land, der Großherzog bestimmte, wer was tun durfte“, erklärt Rosenkranz. Heute gebe es Gesetze, die regeln, wie wir miteinander leben wollen. Mit Murmeln können die Kinder abstimmen, welche Gesetze ihnen für ihr Leben besonders wichtig sind. Artikel 6 GG „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung“ vereinfacht ausgedrückt in „Jeder darf heiraten und eine Familie gründen“ wird Favorit der Klasse. „Es wäre blöd, wenn Eltern bestimmen würden, wen man heiraten darf“, erklärt ein Junge. Ein Mädchen erzählt, dass ihre Urgroßoma jemanden heiraten musste, den sie nicht wollte. Die Wahl der Kinder überrascht und freut ihre Lehrerin Doro Thaens. Für Rosenkranz ist das keine Überraschung. „Das ist der Klassiker für Kinder in dem Alter“, weiß sie aus Erfahrung. Wobei Kinder aus anderen Grundschulklassen das Gesetz auch anderes interpretieren. Sie sehen eher den Aspekt, dass sie sich in ihrem Alter ein Leben ohne Familie, egal wie diese aussieht, nicht vorstellen können.

Der Salmen in Offenburg war ursprünglich ein Wirtshaus, ab 1806 gehörte ein großer Festsaal dazu. Am 12. September 1847 wurden dort 13 Forderungen des Volkes in Baden verkündet – der erste Grundrechtekatalog auf deutschem Boden. 900 Menschen waren in dem Saal versammelt. Männer, Frauen, Kinder, dicht gedrängt, zornig, enthusiastisch und mutig. Das Volk verlangte Meinungs- und Pressefreiheit, Gleichheit, persönliche Freiheit. Religions- und Lehrfreiheit gehörten ebenfalls dazu. „Keine Gewalt dränge sich mehr zwischen Lehrer und Lernende. Den Unterricht scheide keine Confession“ proklamierte die Versammlung schon vor über 175 Jahren. Verlesen wurden sie von den späteren Revolutionären Gustav Struve und Friedrich Hecker. Viele der Forderungen sind gut 100 Jahre später ins Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland eingeflossen.

Für Gräueltaten dazwischen, auch dafür steht der Salmen. Eine Dauerausstellung erinnert an rund 300 jüdische Offenburger*innen, die zwischen 1933 und 1945 Opfer nationalsozialistischer Verfolgung wurden. 1875 erwarb die jüdische Gemeinde das Haus und nutzte es als Synagoge. In der Pogromnacht am 9. November 1938 verwüsten die Nationalsozialisten den Gebetsraum.

Seit 2002 ist der Salmen Erinnerungs- und Veranstaltungsort und seit seiner Neueröffnung im Mai 2022 auch fester Sitz des Gemeinderats der Stadt Offenburg.

Das Haus ist an drei Vormittagen von 9 bis 14 Uhr für Schulklassen reserviert. So stehen Foyer, Saal und die Ausstellungen den Klassen zur Verfügung.


Terminbuchungen über: salmen(at)offenburg(dot)de oder telefonisch unter 0781 82 2702

Thaens ist mit ihrer Klasse in den Salmen gekommen, weil der Besuch die demokratische Bildung an der Schule unterstützen und erweitern soll. Bei der Wahl der Klassensprecher*innen erst vor ein paar Wochen ging es um praktische Erfahrungen in demokratische „Prozesse“. „Wir hatten eine echte Wahl mit Wahlbeobachtung, Kabine und allem was dazu gehört, damit die Wahl geheim, frei und gleich ist“, erzählt die Lehrerin. Die Anne-Frank-Grundschule fühlt sich auch ihrem Namen verpflichtet. Wer Anne Frank war, das können die Schüler*innen schon sehr genau schildern. Wobei der Ausstellungsteil zur Geschichte der Jüdischen Gemeinde Offenburgs an diesem Tag ausgespart wird. „Wir sprechen in der Klasse später darüber, wenn es um Judengesetze geht“, sagt die Lehrerin. Sie erinnert dann wieder an demokratische Werte, dass bei den Judengesetzen nicht alle Menschen gleich wertvoll waren.

Rosenkranz führt die Klasse durchs Haus. Sie sollen sich umsehen, beobachten, achtsam sein. Was die Schüler*innen im Rundgang wahrnehmen und an Wissen mitbringen, ist sehr unterschiedlich. Die einen entdecken die deutsche Flagge, ein Junge erkennt an der Bestuhlung des Saals, dass es hier wie im Parlament aussieht. Manche wissen, was eine Partei ist, anderen ist das fremd. Dass der Offenburger Gemeinderat mittwochs und freitags im historischen Saal tagt, ist eine Besonderheit des Hauses, für die Schüler*innen aber weit weg. Der Wunsch von Inga Rosenkranz: „Ich freue mich, wenn die Kinder erkennen, wie wertvoll Demokratie ist“ könnte aber in Erfüllung gehen.

Kontakt
Maria Jeggle
Redakteurin b&w
Telefon:  0711 21030-36