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Kommentar

Lasst sie rollieren, die Ferien

Michael Rux hat für die GEW drei Jahrzehnte lang die „Ferienfrage“ gegenüber dem Kultusministerium und der Öffentlichkeit verantwortet. Seiner Meinung nach braucht Deutschland keine Extrawürste, sondern einen Jahresrhythmus.

Michael Rux
Michael Rux

Jahrzehntelang habe ich mich darüber geärgert, dass ich so gut wie nie die Chance hatte, einmal die Mitternachtssonne in Skandinavien zu erleben. Als Lehrer im Schuldienst des Landes Baden-Württemberg und als Vater schulpflichtiger Kinder gehörte ich in den Jahrzehnten meiner Berufstätigkeit zu den Millionen von Menschen, deren Urlaubsmöglichkeiten von den amtlich festgesetzten Schulferien abhängen. Bei uns im Ländle beginnen die Sommerferien immer erst Ende Juli, anderswo Mitte/Ende Juni.

Das ist kein Naturgesetz, sondern das Ergebnis eines Beschlusses der Kultusministerkonferenz (KMK) aus dem Jahr 1972. Ich weiß das noch genau, denn ich war dabei. Vor ziemlich genau 50 Jahren, im Frühjahr 1969, war ich von der GEW als Vertreter der Lehrerschaft zur Vorbereitungstagung nach Bonn entsandt worden, in der die Kultusministerkonferenz mit allen Beteiligten und Interessierten, den Eltern und den Lehrkräften, den Tourismusverbänden, den Verkehrsfachleuten, die Frage erörterte, wie denn die Schulferien in Deutschland künftig geregelt werden sollten.

Unter dem Vorsitz des damaligen Kultusministers von Rheinland-Pfalz, Bernhard Vogel, diskutierten die Anwesenden vor allem auch das Für und Wider einer neuen Idee: Während bis dahin ein bundesweiter Wirrwarr herrschte, jedes Land machte, was es wollte (und in Baden-Württemberg der Dorfbürgermeister entscheiden konnte, ob ab dem nächsten Montag für die Kartoffelernte oder die Weinlese Herbstferien angesetzt wurden), wollte man zukünftig bundesweite Maßgaben einführen. Kernstück war der Gedanke, dass alle Länder sich einem System „rollierender“ Sommerferien unterwarfen.

Und so kam es dann auch: Die Kultusminister der Länder haben sich 1970 darauf geeinigt, dass die Bundesländer mal früh mit den Sommerferien beginnen und mal spät, und deshalb kommt einmal die eine Ländergruppe zuerst dran und einmal die andere. Das dehnt den Zeitraum, in dem Eltern mit ihren Kindern in den Sommerurlaub fahren, weit über jene gut sechs Wochen hinaus aus, die jedes Bundesland für seine Sommerferien in Anspruch nimmt. Dafür sind vor allem zwei Gründe maßgebend: Einmal werden damit (anders als in Frankreich, wo sich das ganze Volk am 1. Juli auf die Autobahnen und die Strände stürzt) die Belegungszeiträume für die touristischen Ziele weiter gespannt und zugleich wird der Urlaubs-Reiseverkehr entzerrt.

Baden-Württemberg und Bayern beharren auf Sonderstellung

Im Sommer 2020 beginnt die erste Ländergruppe am 22. Juni** und die letzte endet am 28. August. Das sind immerhin zehn und nicht nur sechs Wochen. Mehr noch: Die beiden Bundesländer Baden-Württemberg und Bayern braten sich seit jeher eine Extrawurst. Sie nehmen nicht an der Rotation teil, sondern belegen immer die letzten Sommerwochen. Baden-Württembergs Sommerferien enden im Jahr 2020 am 12. September, in Bayern dauern die Sommerferien bis zum 7. September; insgesamt spreizen sich die Sommerferien in Deutschland dadurch heute auf rund zwölf Wochen.

Die beiden Südländer begründeten ihre Sonderstellung (und damit ihr Ausscheren aus der Solidarität aller Länder) damit, dass sie sehr stark touristisch orientiert seien; es geht ihnen dabei nicht um die Tourismus-Interessen der Eltern und ihrer Kinder, sondern um die wirtschaftlichen Belange der heimischen Tourismusbetriebe. Außerdem behaupten sie, nur so sei ihr Alleinstellungsmerkmal gesichert: die von allen so geliebten Pfingstferien.

Das ist ein vorgeschobenes Schein-Argument. Denn an den „Pfingstferien“ hängen zwar auch die Interessen eines Teils der Schulkinder und ihrer Eltern, die in diesen Wochen auf günstiges Wetter und erträgliche Hotel-Preise hoffen (alle anderen deutschen Schulkinder sind in dieser Phase als Konkurrenten abgemeldet), aber tatsächlich war die ursprüngliche Entscheidung für das Ausscheren vom Wunsch einiger Interessengruppen bestimmt, die traditionell in den „christlichen“ Pfingstferien ihre Freizeiten und Seminare veranstalten. Denn den genannten Entzerrungs- und Kostendämpfungs-Effekt könnte man auch mit „Frühjahrsferien“ erzielen, wie sie die anderen Länder in einer Art von Parallelverschiebung mit ihren rollierenden Sommerferien zeitlich synchronisieren.

Lösungsvorschlag der GEW lag bereits 1970 vor

Als damals, 1969, die Idee mit den rollierenden Sommerferien aufkam, hat man ein Problem verkannt (oder einfach beiseite geschoben), an dem wir in Deutschland noch heute kranken. Die „rollierenden“ Länder rutschen seitdem in der Regel einige Jahre lang jeweils um eine Woche weiter, aber dann kommt der Kehrpunkt und sie springen im Jahr darauf wieder ganz nach vorne. Die Folge: Alle paar Jahre entsteht ein Kurz-Schuljahr, in dem die Lehrkräfte das unveränderte Pensum schneller durchpauken müssen beziehungsweise in dem die Schülerinnen und Schüler weniger Zeit zum Lernen haben.

Wir, die GEW***, haben das damals erkannt und der Kultusministerkonferenz einen Lösungsvorschlag unterbreitet. Nach unserem Modell käme es nicht zu solchen abrupten, belastenden Wechselsprüngen, sondern alle Ländergruppen würden in einer sanften Sinuskurve vor- und zurückschwingen. Dieser Gedanke einer pädagogisch verkraftbaren, regelmäßigen Gliederung des Schuljahres stand auch bei dem zweiten Vorschlag Pate, den die GEW der KMK vor 50 Jahren unterbreitete: Wir schlugen vor, das Schuljahr in drei etwa gleich große Arbeits-Abschnitte zu gliedern, die jeweils durch einen ausreichend großen Erholungszeitraum („Winterferien“ und „Frühjahrsferien“) unterbrochen werden sollten. Zu diesem Zweck hätte man – 1970 im christdemokratisch dominierten Südweststaat eine fast ketzerische Forderung – die Bindung der Osterferien an den kirchlichen Feiertagskalender auflösen sollen (konsequenterweise wären hiervon auch die traditionellen Pfingstferien betroffen worden).

Vorschlag der GEW zur Neuregelung der Ferienordnung aus dem Jahr 1970
Vorschlag der GEW zur Neuregelung der Ferienordnung aus dem Jahr 1970 (Ländergruppe I: HB, HH, NI, SH; Gruppe II: BE, NW; Gruppe III: HE, RP, SL; Gruppe IV: BW, BY)

Die Herren der Kultusministerkonferenz (Damen rückten damals noch nicht auf solche Posten vor) haben es besser gewusst: Sie richteten ein rollierendes System mit immanenten Mängeln ein und fanden sich damit ab, dass die beiden Südländer sich eine Extra-Wurst brieten (dass Bayern und Baden-Württemberg Ende 2019 mit ihrer überraschenden Absage an einen nationalen Bildungsrat gerade wieder aus einer gemeinsam verantworteten und aufeinander abgestimmten Bildungspolitik aussteigen, hat eine lange und unrühmliche Tradition). Dieses System wurde nach Beendigung der deutschen Teilung auf die neuen Bundesländer übertragen. Im Jahr 2020 funktioniert es eher schlecht als recht seit genau 50 Jahren.

Neuerdings, nämlich bei der anstehenden Entscheidung, wie denn die bundesweite Ferienregelung ab 2023 aussehen soll, wird diese Sonderrolle Bayerns und Baden-Württembergs von den anderen Ländern infrage gestellt. Ich finde das gut. Denn dann könnte endlich auch der fortdauernde Missstand beseitigt werden, dass sich die Ferienregelung gerade bei uns im Südwesten nicht an den Interessen der Kinder orientiert. Die bräuchten nämlich ein unter pädagogischen Gesichtspunkten rhythmisch gegliedertes Schuljahr, wo sich Arbeitsphasen und Erholungszeiten sinnvoll abwechseln. Das ist aber gegenwärtig wegen der Bindung der Oster- und der Pfingstferien an den christlichen Feiertagskalender oft kaum machbar. Die von Jahr zu Jahr erheblich schwankenden Oster- und Pfingstferien kollidieren ständig mit den am weltlichen Kalender orientierten Sommerferien. Unsere Schülerinnen und Schüler, die Eltern und auch die Lehrkräfte stöhnen unter diesem partikularistischen Unfug. Etwas mehr Säkularisierung täte uns auch hier gut.

* Michael Rux gehörte ab 1968 als verantwortlicher Redakteur der Landesverbandszeitung dem Geschäftsführenden Ausschuss der GEW Baden-Württemberg an und war dort mehr als drei Jahrzehnte lang für die „Ferienfrage“ gegenüber dem Kultusministerium und der Öffentlichkeit verantwortlich.

** Genannt ist immer der jeweils durch „Ferien“ belegte erste beziehungsweise letzte Schultag, hinzu kommt immer noch das jeweilige Wochenende.

*** Genauer: die Arbeitsgemeinschaft der GEW Baden-Württemberg mit dem Lehrer-Verein Württemberg-Hohenzollern, der sich erst 1972 mit der GEW zum heutigen GEW-Landesverband vereinigte.