Zum Inhalt springen

Interview

„Lehrkräfte haben das Letzte schon gegeben“

Seit Corona stehen sie im Fokus: Nina Großmann, Vorsitzende des Landesverbands Schulpsychologie und GEW-Personalrätin, gibt einen Einblick in die Arbeit von Schulpsycholog*innen – und sagt, was sich an den Rahmenbedingungen ändern muss.

Nina Grossmann, Vorsitzende des Landesverbands Schul­psychologie Baden-Württemberg und GEW-Personalrätin
Nina Grossmann, Vorsitzende des Landesverbands Schul­psychologie Baden-Württemberg und GEW-Personalrätin (Foto: privat)

Schulvermeidung und Ängste haben bei Schüler*innen in der Corona-Zeit zugenommen. Auch Lehrkräfte sind vermehrt erschöpft, und Konflikte im Kollegium weiten sich aus. Nina Großmann beschreibt, wie Schulpsycholog*innen unterstützen können und welche Bedingungen sie brauchen, um ihre Arbeit gut zu machen.

Mit Corona ist der Bedarf von Schulpsycholog*innen gestiegen. Was hat sich verändert?

Nina Großmann: Jetzt, wo sich die Schulen wieder stabilisieren, gibt es Schüler*innen, die es nicht mehr schaffen, in die Schule zu gehen. Nicht, dass sie keine Lust auf Schule hätten, sie leiden unter psychosomatischen Beschwerden wie Übelkeit, haben Angstzustände oder körperliche Probleme, die es verhindern, dass sie in die Schule gehen können.

Zwei Jahre lang wurde Kindern und Jugendlichen gesagt, sie müssten vor Begegnungen mit anderen Menschen Angst haben, vor allem in großen Gruppen oder in geschlossenen Räumen. Manche Schüler*innen finden aus dieser Angst schwer wieder raus.

Auch Prüfungsängste sind gestiegen. Es gibt Schüler*innen, denen es schwerfällt, wieder in Präsenz zu sein. In der Schule können sie nicht mehr in einem ruhigen, abgeschlossenen Rahmen ihre Arbeit abliefern, sondern müssen mit Geräuschen, mit Gerüchen zurechtzukommen und sollen noch Leistung erbringen. Sie haben das Gefühl, sie hätten so viel verpasst, dass sie gar nicht gut sein können. Das kann in Prüfungsklassen große Angst verursachen.

Schüler*innen neues Zutrauen zu vermitteln und für Entspannung zu sorgen, ist eine gemeinsame Aufgabe von Eltern und Lehrkräften. Wir Schulpsycholog*innen unterstützen dabei.

Zu Corona kommen jetzt geflüchtete ukrainische Kinder und Jugendliche dazu. Sie haben Dinge erlebt, die sie belasten. Weil wir ihre Sprache nicht sprechen, schafft das eine große Distanz. Ich bin begeistert, mit welchem Elan Schulen jetzt diese Herausforderung annehmen, und trotzdem ist eine psychologische Unterstützung für die Kinder wichtig. Und für die Lehrkräfte. Was können sie tun, wenn ein Kind unterm Tisch sitzt und nicht hervorkommen will?

„Schüler*innen ­neues ­Zutrauen zu vermitteln und für Entspannung zu sorgen, ist eine gemeinsame Aufgabe von ­Eltern und Lehrkräften. Wir Schulpsycholog*innen unterstützen dabei.“ (Nina Großmann)

Wie viele Schüler*innen sind betroffen?

Großmann: Man kann davon ausgehen, dass in normalen Zeiten ungefähr 20 Prozent aller Schüler*innen im Lauf ihrer Schulzeit psychische Auffälligkeiten zeigen. Jetzt sind es doppelt so viele, wie verschiedene Studien aufzeigen.

Wie macht sich das bei euch bemerkbar?

Großmann: Das merken wir an dem sehr hohen Fallaufkommen. Schüler*innen, die jetzt in der 3. Klasse sind, haben zwei nicht normale Schuljahre erlebt. Zu uns kommen Kinder, die können in der 2. Klasse nicht auf dem für die zweite Klasse zu erwartendem Niveau lesen, schreiben oder rechnen. Wenn Eltern ihre Kinder dann bei uns anmelden, vermuten sie eine Lese-Rechtschreibschwäche. Wir stellen aber fest, es geht um fehlenden Unterricht.

Zurzeit können Änderungen, wie ein Schulwechsel, weil die Eltern umgezogen sind, schon zu großen Problemen führen. Es ist viel Vertrauen verloren gegangen, und die entwickelten Ängste bremsen bei den betroffenen Kindern die weitere Entwicklung.

Könnt ihr das auffangen?

Großmann: Wir schauen uns das Kind an, dann überlegen wir, welche Helfersysteme und Einrichtungen wir einschalten können. Wir prüfen, ob wir für das Kind einen Stufenplan oder eine therapeutische Begleitung brauchen, die dann externe Psychotherapeuten*innen übernehmen. Oder Hilfen für die ganze Familie. Im Einzelfall, beispielsweise bei Prüfungsängsten oder Störungen im Sozialkontakt, arbeiten wir mit den Kindern. Dafür gibt es viele systemische und beraterische Ansätze.

Das dauert doch bestimmt seine Zeit.

Großmann: Das stimmt. Zurzeit müssen wir mit den vielen Fällen unser Netzwerk nutzen, damit die Kinder beziehungsweise Jugendlichen schnell Hilfe bekommen. Leider sind auch die anderen Helfersysteme stark überlastet.

Bei Schulverweigerung stärken wir die Eltern, dass sie ganz konsequent ihr Kind unterstützen, in die Schule zu gehen. Eltern fragen sich oft, ob es überhaupt richtig ist, ihr Kind mit Zwang in die Schule zu schicken. Dabei geht es meist nicht um Zwang, sondern um die Steigerung des Selbstwerts und Selbstvertrauens beim Kind. Es muss geklärt werden, wie die Bedingungen sein müssen, damit das Kind den Weg zurück in die Schule findet. Das ist nicht einfach und gelingt auch nicht immer.

Ein Kommentar von Christina Horn, Mitglied im HPR außer­schu­lischer Bereich (asB) und im ÖPR des ZSL

Was es angesichts von Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg mehr denn je braucht, sind stabile Unterstützungssysteme: Für die Kinder und Jugendlichen, die unter der Pandemie den Anschluss verloren haben, die sozial isoliert waren, die unter Ängsten leiden und sich schwer tun, wieder in die Schule zu gehen. Unterstützung brauchen aber auch geflüchtete Schüler*innen, die traumatisiert und ohne Sprachkenntnisse in unser Schulsystem integriert werden müssen. Nicht zuletzt dürfen auch Lehrkräfte und Schulleitungen, die einer immer heterogeneren Schülerschaft gegenüberstehen, nicht alleine gelassen werden. Gut, dass die Schulpsychologie seit vielen Jahren so breit aufgestellt ist: Egal ob es um Lern- und Leistungsschwierigkeiten, psychische Auffälligkeiten in der Schule, Mobbing oder um Schulabsentismus geht, Schulpsycholog*innen können helfen. Nicht nur, indem sie Schüler*innen und Eltern beraten, sondern auch weil sie Lehrkräften schulpsychologische Expertise vermitteln und Coaching und Supervision anbieten.

Aber die Ressourcen sind knapp: Weil Stellen(anteile) unbesetzt sind, weil es an Verwaltungsstellen fehlt und Schulpsycholog*innen diese Arbeiten erledigen und weil die Regionalstellen des ZSL mit zu wenig Personal zu viel leisten sollen. Aber auch weil schulpsychologische Vertretungsstellen aufgrund kurzer Laufzeiten allenfalls für Studienabgänger*innen attraktiv und mit viel Einarbeitungsaufwand für die Kolleg*innen vor Ort verbunden sind. Und weil das Land selbst Personen, die schon jahrelang in der Schulpsychologie arbeiten, keine Perspektive bietet.

Als Gewerkschafterin, als Personalrätin und nicht zuletzt als Schulpsychologin wünsche ich mir, dass Forderungen nach einer Entlastung von Verwaltungsaufgaben und Schaffung von (Pool)Stellen für die Schulpsychologie von Entscheidungsträger*innen ernst genommen und nicht nur durch die Brille der Kostenneutralität betrachtet werden. Hoffnung macht die jüngste Ankündigung von Ministerpräsident Winfried Kretschmann, dass die Zahl der Schulpsycholog*innen im Land in Folge des Ukraine-Krieges erhöht werden soll. Mit Spannung beobachten wir, was aus der Ankündigung wird. Würden 100 neue Schulpsycholog*innenstellen geschaffen, wäre immerhin die Forderung der KMK aus den 1970er (!) Jahren für die schulpsychologische Versorgung in Baden-Württemberg erfüllt.

Wie geht es den Lehrkräften, die sich an euch wenden können?

Großmann: Hier geht es um Themen wie Burnout oder Konflikte im Kollegium. Die Kraft vieler Lehrkräfte ist am Ende. Die ständig neuen Corona-Regelungen, die nicht voraussehbar sind und waren, belasten sie. Unterschiedliche Haltungen, was richtig ist und wie der Weg aus der Krise möglich wird, führte in Kollegien zu mehr Konflikten. Dazu kommt, dass Schulleitungen erwarten, dass die Kollegien gut funktionieren und sie das Letzte geben. Das Letzte haben sie aber schon gegeben. Das zu akzeptieren und damit umzugehen, ist für die Schulen natürlich sehr schwierig, zumal jetzt bereits die nächste Krise auf die Schulen zurollt.

Wir beraten auch Schulleitungen, wie sie für sich selbst sorgen können. Auch ihnen schlagen Konflikte aufs Gemüt. Manchmal laden wir Teile eines Kollegiums in die Beratungsstelle ein, um aus einer verfahrenen Situation einen Ausweg zu finden. Dabei geht es nicht darum, wer Recht hat, sondern wie sie aufeinander zugehen und zusammen arbeiten können.

Bekommt ihr hier auch Unterstützung aus einem Netzwerk?

Großmann: Wir bräuchten hier Unterstützung aus den Regionalstellen, die aber wie in Stuttgart oder auch anderswo, unterbesetzt sind. Nach drei Jahren Umbau im Rahmen des Qualitätskonzepts ist das Personal immer noch nicht so aufgestellt, um für Schulen da sein zu können. Es ist dringend erforderlich, dass dort neue Stellen für Psychologische Schulberater*innen geschaffen werden!

Beispielsweise war das Arbeitsfeld Beratung der Regionalstelle Stuttgart lange Zeit chronisch unterbesetzt. Jetzt konnte der Berg an Aufgaben verständlicherweise nicht unmittelbar bewältigt werden. Für dieses große Gebiet mit präventiven und beraterischen Aufgaben braucht es wenigstens fünf Personen, die was anpacken und voranbringen können. Die Schulen sind auf die gute Arbeit und die Ressourcen angewiesen.

Gibt es Aussichten, dass es besser wird?

Großmann: Nicht wirklich. Von den 218 Stellen für Schulpsycholog*innen waren im Sommer in Baden-Württemberg nur zwei Drittel besetzt. Ein Viertel fehlt jetzt immer noch. Ein Grund liegt in der sehr schleppenden Stellenbesetzung. Wenn Kolleg*innen, die ähnlich wie bei den Lehrkräften oft jung sind, in Elternzeit gehen, wartet man, bis der Antrag eingereicht wurde, bevor man überhaupt ausschreibt. Bis zur Besetzung dauert es dann nochmal ein halbes bis dreiviertel Jahr. Die Stellen sind somit oft ein ganzes Jahr lang oder länger nicht besetzt.

Im Gespräch mit Kultusministerin Theresa Schopper haben wir Lösungsvorschläge erarbeitet. Zum einen schlagen wir vor, das Besetzungsverfahren bei den befristet zu besetzenden Stellen zu vereinfachen, zum anderen entstand die Idee, in den sechs Regionalstellen des Landes einen Stellenpool mit 40 Stellen einzurichten, aus dem die 28 Beratungsstellen flexibel versorgt werden können.

„Die Kraft vieler Lehrkräfte ist am Ende. Die ständig neuen Corona-Regelungen, die nicht voraussehbar sind und waren, belasten sie.“ (Nina Grossmann)

Das Kultusministerium hat aber abgelehnt.

Großmann: Ja, weil der Pool nicht kostenneutral sei. Wenn Kolleg*innen aus der Elternzeit zurückkommen wollen, würden zu viele Stellen besetzt sein. Wir sind enttäuscht. So bleiben wir über Jahre unterbesetzt. Dabei wäre das ein sehr eleganter Weg, die vakanten Stellen erst aufzufüllen und dann Stück für Stück aufzustocken. Das Poolmodell ist ideal, um Fachkräfte zu halten und die Schulpsychologie zu stärken.

Die Ministerin hat beim Schulleitungstag der GEW betont, die sozial-emotionale Entwicklung der Kinder sei wichtiger als binomische Formeln. Es kann nicht daran liegen, dass die Ministerin das nicht wichtig findet.

Großmann: Die Ministerin hätte es gerne, dass hier mehr passiert. In ihrem Haus oder in der Landesregierung gibt es aber Bremser.

Im Rahmen von „Lernen mit Rückenwind“ soll es zusätzlich 23 Stellen für Beratung geben, allerdings befristet auf zwei Jahre.

Großmann: Inzwischen nur noch auf ein Jahr, weil wir es aufgrund der Besonderheit der Stellen mit neuen Anforderungen und Prozessen nicht schaffen, frühzeitiger Personal einzustellen.

Bei 4.500 Schulen im Land werden 23 Stellen an Schulen nicht viel bewirken können.

Großmann: Das sind nicht mal 23. Davon werden Beratungslehrkräfte abgezogen, die aus dem Ruhestand zurückkommen. Wenn es hochkommt, bekommen wir 15 Psychologen*innen, die im Rahmen von Lernen mit Rückenwind tätig sein werden.

Wir haben beispielsweise in der Regionalstelle Stuttgart 8 Stellen beantragt. Wir konnten davon zweieinhalb besetzen. Wir werden die bereitgestellten Mittel nie und nimmer so schnell ausschöpfen können. Es sollte eine Verlängerung geben. Dass zwei Jahre lang kein normaler Schulbetrieb stattfand, wird uns noch viele Jahre beschäftigen.

Wäre alles gut, wenn die 218 Stellen besetzt wären?

Großmann: Das wäre ein guter Sockel, es würde aber nicht reichen. Es muss ein stetiger Ausbau geplant werden. Die Schulpsychologie hat mittler­weile viele Aufgaben übernommen: Fortbildung von Lehrkräften, die Beratungslehrerausbildung, Unterstützung von sozial-emotionalem Lernen, Umgang mit geflüchteten Kindern, Kriseneinsätze – auch Überwindung von Traumata und vieles andere mehr.

Das Land muss darüber nachdenken, zeitnah mindestens noch 100 Schulpsycholog*innen einzustellen. Und dann an den Strukturen arbeiten, dass die Beratungsstellen im Land besser verteilt sind.

Vor knapp vier Jahren hast du dich vehement dafür eingesetzt, dass die gekürzten Stellen für die Verwaltungskräfte wieder aufgebaut werden und Schulpsycholog*innen nicht auch noch das Telefon bedienen müssen. In der Zwischenzeit wurde das Qualitätskonzept umgesetzt. Musst du immer noch ans Telefon?

Großmann: Wir in Ludwigsburg müssen nicht mehr ans Telefon. Wir haben eine 100-Prozent-Stelle bekommen und konnten sie auch kompetent besetzen. Für alle 28 Beratungsstellen gibt es aber nur 23 Verwaltungsstellen, davon sind nur 17 oder 18 besetzt. Wir fordern eine Verwaltungskraft für fünf Schulpsycholog*innen. Vor allem jetzt bei dem großen Fallaufkommen benötigen wir dringend diese Unterstützung.

„In Krankenhäusern wird von Triage gesprochen. Bei uns ist es ähnlich. Wir müssen auswählen. Früher hatten Schulverweiger*innen immer Vorrang und haben sofort einen Termin bekommen. Selbst das können wir im Moment nicht leisten.“ (Nina Grossmann)

Ihr seid doch eine gute Investition. Wenn beispielsweise mit eurer Unterstützung Schulverweiger*innen wieder regelmäßig in die Schulen gehen und nicht abrutschen, ist viel Geld gespart.

Großmann: Es wird in Krankenhäusern von Triage gesprochen. Bei uns ist es ähnlich. Wir müssen auswählen. Früher hatten Schulverweiger*innen immer Vorrang und haben sofort einen Termin bekommen. Selbst das können wir im Moment nicht leisten. Wenn sich eine Schulverweigerung eingeschlichen hat, wird es immer schwerer, Schüler*innen zurückzubringen. Ein stationärer Aufenthalt oder eine lange Psychotherapie verursacht viel mehr ­Kosten, als wenn wir zeitnah reagieren könnten.

Was kommt zurzeit noch zu kurz?

Großmann: Dass wir Schulen bei Pädagogischen Tagen oder Fortbildungen nicht mehr unterstützen können. Neu angefragte Supervisionen können wir zurzeit nicht anbieten. Bei Mobbingfällen müssen die Betroffenen auch deutlich länger auf Unterstützung warten. Wir müssen unsere Kraft darauf konzentrieren, Einzelfälle zu bearbeiten, die Beratungslehrkräfteausbildung durchzuführen und Schulen beim Umgang mit Krisenereignissen zu unterstützen. Es tut uns weh, dass wir nicht mal mehr das Nötigste machen können.

Du bist auch Bezirkspersonalrätin. Welche Themen sind hier wichtig?

Großmann: Warum sind so viele Stellen nicht besetzt und warum sind die Stellenbesetzungsverfahren so langsam? In der Pandemie mussten wir sehr viel online beraten. Da gab es Probleme mit der Datensicherheit oder mit der Verbindung. Das ist immer eine Berg- und Talfahrt und oft eine Zumutung. Inzwischen läuft es aber immer besser. Wichtig ist, dass uns hier die Mittel nicht wieder entzogen werden.

Das Interview führte Maria Jeggle, b&w Redakteurin.

Kontakt
Christina Horn

Schulpsychologin

SPBS Singen