Gesundheitsschutz
Lehrkräfte stärken, Schule gestalten
Schulleitungen als Impulsgeber*innen für Gesundheitsförderung.
Wie erleben Schulleitungen ihre Rolle für die Gesundheit des Kollegiums? Die Masterarbeit der Lehramtsstudentin Sofie Wirth am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) gibt Einblick in Perspektiven aus Baden-Württemberg – mit klaren Impulsen für die Praxis. Gerade für Schulleitungen stellt sich die Frage, wie sie angesichts steigender Belastungen im Kollegium handlungsfähig bleiben – und welche systemischen und praktischen Ansätze zur Gesundheitsförderung wirklich greifen.
Studien zeigen: Lehrkräfte, die sich erschöpft oder überlastet fühlen, können Klassen weniger effektiv führen – mit Folgen für die Lernzeit und den Lernerfolg der Schüler*innen. John Hattie, ein neuseeländischer Bildungsforscher, der mit seiner Metastudie Visible Learning im Jahr 2009 weltweit Aufmerksamkeit erlangte, ordnet Klassenführung sogar als einen der wirksamsten Faktoren für Lernerfolg ein. Seine Analyse von über 800 Studien zeigt, dass eine klare, strukturierte und konsequente Klassenführung signifikant mit dem Lernerfolg von Schüler*innen zusammenhängt – stärker als viele andere schulische Maßnahmen. Die Qualität der Klassenführung steht damit in direktem Zusammenhang mit dem Arbeits- und Gesundheitszustand der Lehrkräfte. Fehlen Ressourcen oder Unterstützung, steigt nicht nur das Risiko von Burnout, sondern sinkt auch die Lernwirksamkeit im Unterricht.
Trotz dieser Erkenntnisse bleibt Lehrkräftegesundheit in vielen Schulentwicklungsprozessen ein Randthema. Dabei ist klar: Wer gute Bildung will, muss gute Bedingungen für Lehrkräfte schaffen – psychisch wie organisatorisch. Die GEW fordert seit Jahren bessere Arbeitsbedingungen und eine stärkere systemische Unterstützung für Lehrkräfte. Doch wie können Schulleitungen konkret zur Gesundheitsförderung beitragen? Diese Frage stand im Mittelpunkt der Masterarbeit am KIT.
Lehrkräfte unter Druck – ein strukturelles Problem
Die Arbeitsbedingungen von Lehrer*innen in Baden-Württemberg sind vielfach herausfordernd: Hohe Unterrichtsverpflichtungen, wachsende Heterogenität in den Klassen, Inklusion, digitale Transformation, Elternarbeit – all das wird begleitet von einer konstant hohen emotionalen Beanspruchung. Die Handreichung zur Klassenführung (KM-BW, 2018) verweist darauf, dass der Aufwand für eine konstruktive Lernatmosphäre häufig die vorhandenen Kräfte übersteigt. Lehrkräfte berichten von Lärmbelastung, Zeitdruck, Verhaltensauffälligkeiten und einem zunehmenden Gefühl der Erschöpfung.
Diese Belastungen sind nicht nur ein individuelles Problem, sondern haben Auswirkungen auf den Unterricht. Wenn Lehrkräfte überlastet sind, sinkt die Qualität der Klassenführung – das Fundament gelingender Unterrichtsprozesse. Hier greift ein Teufelskreis: Belastete Lehrkräfte führen zu unruhigerem Unterricht, was wiederum den Stress erhöht – für Lehrkräfte und auch die Schüler*innen.
Gesundheit ist aber nicht nur ein persönliches Thema der einzelnen Lehrkraft, sondern auch ein kollektives Gut – mit Bedeutung für das gesamte Schulklima, die Kooperation im Kollegium und die Entwicklung der Schule. Genau hier setzt die Masterarbeit an, die untersucht, wie Schulleitungen mit dieser Verantwortung umgehen.
Wie Schulleitungen Lehrkräftegesundheit wahrnehmen
Im Rahmen dieser Arbeit wurden elf Schulleitungen aus verschiedenen Schulformen in Baden-Württemberg interviewt. Ziel war es, ihre Wahrnehmungen, Einschätzungen und konkreten Maßnahmen zur Förderung von Lehrkräftegesundheit zu erfassen. Die Gespräche wurden zwischen Juni und August 2024 geführt und nach dem Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet.
Viele der befragten Schulleitungen nehmen das Thema Lehrkräftegesundheit durchaus ernst – allerdings wird es oft individuell adressiert, nicht strukturell. Häufige Bezugspunkte sind emotionale Entlastung, informelle Gespräche oder punktuelle Entlastungsangebote. Systematisch verankerte Maßnahmen fehlen meist.
„Manchmal braucht es jemanden, der zuhört“ – Informelle Fürsorge im Schulalltag
Ein Zitat bringt die tägliche Realität vieler Führungskräfte auf den Punkt: „Ab und zu muss man auch ein bisschen sozialer Mülleimer sein, dass die Lehrer sich auskotzen können“. Diese Form der Fürsorge ist gut gemeint – ersetzt aber keine professionellen gesundheitsförderlichen Strukturen. Die emotionale Belastung bleibt letztlich bei der Schulleitung hängen.
Andere Interviewpartner*innen berichten von regelmäßigem Austausch mit dem Kollegium, Sprechstunden oder einem offenen Ohr für persönliche Anliegen. Doch auch hier zeigt sich: Diese Form der Unterstützung ist stark abhängig von der Persönlichkeit und Haltung der Schulleitung. Sinngemäß formulierte eine Schulleitung: Wenn ich das nicht machen würde, würde es niemand tun.
Zwischen Symbolik und Struktur: Wo bleibt die Nachhaltigkeit?
Eine häufig genannte Herausforderung ist die fehlende strukturelle Rückendeckung. Die meisten Maßnahmen bleiben punktuell – etwa einmalige Gesundheitsprojekte oder externe Workshops. „Also grundsätzlich erstmal das Ganze ins Kollegium reinbringen, reintragen, dann eine Struktur auch schaffen […] das bleibt dann natürlich bei der Schulleitung“. Nachhaltige Strategien fehlen vielerorts.
Einige Befragte erkennen die symbolische Kraft ihrer Rolle: „Man kann durch Projektskizzen manches erreichen, aber die symbolische Wirkung von Schulleitung ist wichtiger“. Doch ohne Verankerung im Schulentwicklungsprozess verpuffen viele Initiativen.
Führung unter Druck: Gesundheit als Balanceakt
Schulleitungen bewegen sich im Spannungsfeld zwischen Fürsorgepflicht und organisatorischem Druck. Sie sind Ansprechperson, Konfliktlöser*in und Verwaltungsleitung in einer Person – und sollen zugleich gesundheitsförderliche Rahmenbedingungen schaffen. Mehrere Interviewte machten deutlich, dass sie vieles auffangen, aber eine gesundheitsförderliche Schulstruktur nicht allein stemmen könnten.
Ein weiterer Befund aus der Masterarbeit: Schulleitungen verorten Gesundheitsförderung oftmals nicht explizit im Kontext von Bildung für nachhaltige Entwicklung oder systematischer Schulentwicklung. Nur vereinzelt wurde auf strategische Konzepte oder schulweite Leitlinien verwiesen. Dabei kann das schulische Umfeld – etwa durch geregelte Kommunikationsstrukturen, klar definierte Verantwortlichkeiten und gemeinsames Gesundheitsverständnis – wesentlich zur Entlastung beitragen.
Ein Beispiel aus der Praxis: Eine Schulleitung berichtet von einer bewusst etablierten Kommunikationsroutine – alle wichtigen Informationen der Woche werden montags gebündelt in einer einzigen Mail verschickt. Dies reduziere Nachfragen, spare Zeit und sorge für Klarheit im Kollegium.
Whole Institution Approach (WIA) als Orientierungsrahmen
Hier setzt der Whole Institution Approach (WIA) an, der in der Masterarbeit als theoretischer Bezugsrahmen genutzt wurde. Er betrachtet Gesundheit nicht als Zusatz, sondern als Teil einer ganzheitlichen, nachhaltigen Schulentwicklung. WIA steht für das Zusammendenken von Unterricht, Organisation, Personalentwicklung und Schulkultur – ein Ansatz, der gesundheitsförderliche Bedingungen strukturell verankern kann. Genau hier fehlt es aber an Klarheit, Unterstützung und Umsetzung auf Systemebene.
Hemmnisse und Handlungsspielräume
Die Interviews zeigen mehrere Barrieren: Zeitmangel, fehlende Ressourcen, geringe Unterstützung durch Schulträger oder Kultusbehörden. Gleichzeitig gibt es Ansatzpunkte: Dort, wo Gesundheitsförderung in Steuergruppen, Leitbildprozesse oder Fortbildungskonzepte eingebunden ist, entstehen tragfähige Strukturen.
Ein Beispiel: Eine Schulleitung berichtet, dass sie Gesundheit aktiv in die Schulentwicklung integriert hat – mit festen Zuständigkeiten, einem Steuerungsteam und klar definierten Zielen. Sinngemäß formulierte sie: Das hat lange gedauert, aber inzwischen ist das kein Einzelprojekt mehr, sondern Teil unserer Kultur.
Andere Schulleitungen berichten, dass sie gezielt Verantwortung an Fachschaften und engagierte Lehrkräfte delegieren, um Kapazitäten zu bündeln und Motivation im Kollegium zu stärken. Dabei wird wiederholt betont, wie wichtig ein starkes Team für gesundheitsförderliche Prozesse ist: „Allein einer kann das auf gar keinen Fall leisten“.
Neben internen Strukturen betonen einige Schulleitungen auch die Rolle externer Netzwerke und Partner – etwa aus dem sozialen, kulturellen oder kommunalen Bereich –, die Impulse geben und entlasten können. Diese Erkenntnisse zeigen: Handlungsspielräume entstehen dort, wo Schulleitung auf Teamprozesse setzt, externe Ressourcen nutzt und Gesundheitsförderung strategisch in die Schulentwicklung einbettet.
Was die Praxis braucht – Empfehlungen für Schulleitungen
Die Erkenntnisse der Masterarbeit zeigen, dass Gesundheitsförderung nicht allein auf das individuelle Verhalten von Lehrkräften abzielen darf. Sie muss vielmehr als kollektive, strukturell eingebettete Aufgabe verstanden werden. Die Handreichung zur Klassenführung des Kultusministeriums Baden-Württemberg (2018) betont: Gute Klassenführung, Motivation und Lernfreude hängen eng mit dem Gesundheitszustand von Lehrkräften zusammen. Überforderung und emotionale Erschöpfung können die Qualität des Unterrichts massiv beeinträchtigen – mit Auswirkungen auf das gesamte Schulklima.
Daraus lassen sich mehrere Empfehlungen ableiten – ergänzt durch Beispiele aus der Praxis der interviewten Schulleitungen:
- Gesundheitsförderung als Teil von Schulentwicklung denken: Lehrkräftegesundheit sollte kein Nebenthema, sondern Teil einer lernförderlichen Schulkultur sein. Dazu gehört z. B. die Einführung kollegialer Hospitation mit Fokus auf Belastungssituationen oder Klassenführung – ein Format, das auch zur Qualitätsentwicklung beiträgt. Einzelmaßnahmen entfalten wenig Wirkung, wenn sie nicht eingebettet sind. An einer Schule wurde ein Gesundheitsziel fest im Leitbild verankert und ein Steuerungsteam mit klaren Zuständigkeiten eingerichtet – so wurde die Initiative Teil der Schulstruktur.
- Strukturelle Rahmenbedingungen schaffen: Während die Handreichung des KM wichtige Impulse zur Selbstreflexion und zur Klassenführung gibt, bleiben Maßnahmen zur institutionellen Entlastung – etwa durch Ressourcenzuweisung oder Zeitbudgets – bislang weitgehend unbenannt. Die Frage, wie systemische Verantwortung übernommen wird, bleibt offen.
- Schulleitungen gezielt unterstützen: Für gesundheitsförderliche Führung braucht es konkrete Hilfen – etwa Austauschformate mit anderen Schulleitungen, Supervision oder Fortbildungen, die nicht nur Problembewusstsein schaffen, sondern Handlungsoptionen aufzeigen.
- Verantwortung auf mehrere Schultern verteilen: In mehreren Schulen arbeiten Steuergruppen, die aus Kolleg*innen verschiedener Bereiche bestehen und die Schulentwicklungsprozesse mitgestalten – etwa auch in Gesundheitsfragen. Diese Strukturen ermöglichen Beteiligung und entlasten gleichzeitig die Schulleitung.
- Kommunikationsstrukturen entlasten: Einige Schulen setzen auf gebündelte Informationsweitergabe, z. B. eine wöchentliche E-Mail mit allen wichtigen Mitteilungen. Frühzeitige und transparente Kommunikation hilft, Unsicherheiten im Kollegium zu vermeiden und trägt zur Entlastung bei.
Fazit: Leitungshandeln mit gesundem Blick
Die Interviews zeigen eindrücklich: Lehrkräftegesundheit ist eine zentrale Aufgabe – aber keine, die allein im Verantwortungsbereich der Einzelperson oder Schulleitung liegen darf. Was fehlt, sind verlässliche Rahmenbedingungen, systemische Unterstützung und eine klare Priorisierung im Bildungssystem.
Für Schulleitungen bedeutet das: Wer eine gesunde Schule gestalten will, braucht sowohl strategische Unterstützung als auch kollegiale Netzwerke – denn auch Leitung darf keine Einzelleistung sein.
Quellen:
Hattie, J. (2009). Visible Learning. Routledge.
Holst, J. (2023). Whole Institution Approach – ein Ansatz für transformatives Lernen in der Schule. In R. Tippelt & B. Schmidt-Hertha (Hrsg.), Handbuch Bildung für nachhaltige Entwicklung (S. 1–14). Springer VS.
Kultusministerium Baden-Württemberg (2018). Handreichung Klassenführung. Stuttgart.
UNESCO. (2021). Education for Sustainable Development: A roadmap. Paris: UNESCO.
Autorinnen:
Dr. Olivia Wohlfart, Institut für Schulpädagogik und Didaktik, KIT
Sofie Wirth, ehemal. Lehramtsstudentin, KIT