Zum Inhalt springen

Koalitionsvertrag 2021 bis 2026

Lobenswerte Ziele, zweifelhafte Umsetzung

Die neue Regierung spricht von einem ganzheitlichen Verständnis von Leistung und Bildung, von Mindeststandards und von anregender Lernatmosphäre. Das klingt gut. Allerdings finden sich auch Widersprüche – und alles steht unter Finanzierungsvorbehalt.

Foto: GEW / Shutterstock
Foto: GEW / Shutterstock

Die Leitlinien des Kapitels „Frühkindliche Bildung und Schule“ sind Chancengerechtigkeit und Qualität. Aus GEW-Sicht sind das die richtigen Parameter, umso mehr, da die Bearbeitung der Corona-Defizite ansteht. Jedoch offenbart sich hier gleich ein zentraler Widerspruch im Schulkapitel: „Es besteht Einigkeit, dass keine grundlegenden Strukturdebatten geführt werden“, heißt es in der Koalitionsvereinbarung. Die Bildungsgerechtigkeit endlich zu verbessern und über Strukturveränderungen noch nicht einmal reden zu wollen, passt jedoch nicht zusammen. Dass in Deutschland und in Baden-Württemberg die selektiven Schulstrukturen die Chancengleichheit nicht verbessern, sondern sogar verstärken, ist seit Jahren gut belegt. Eine Tabuisierung dieses Zusammenhangs hilft den Benachteiligten nicht.

Hilfreich ist hingegen das Vorhaben, mit der Orientierung an Mindeststandards ein implizites Recht auf eine grundlegende Bildung für jede*n Schüler*in zu schaffen. Das hat die GEW bereits 2004 im Zuge der Bildungsplanreform gefordert. Die Stärkung der Exzellenz ist ein legitimes Ziel der Bildungspolitik. Sie ist aber nur dann kein elitäres Projekt, wenn hier besonders für den starken Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungsbenachteiligung sensibilisiert wird.

Der umfassende Bildungsbegriff ist zu begrüßen, ebenso, dass eine gute Lernatmosphäre in den Blick genommen wird. Evidenzorientierung kann helfen, Verbesserungsmöglichkeiten zu identifizieren. Jedoch müssen die Grenzen einer Messbarkeit von Bildung anerkannt werden: Pädagogik ist auch und vor allem Beziehungsarbeit! Das muss die Landesregierung bei Veränderungen der Arbeit an den Schulen stärker berücksichtigen.

Die GEW stützt ausdrücklich die Stärkung des wissenschaftlichen Beirats. Dies muss vor allem bedeuten, die Aufträge und Ergebnisse des Beirats transparenter zu gestalten, als das in den letzten fünf Jahren der Fall war. Dringlich sind offene Debatten, bei denen am Ende klar wird, ob und wie wissenschaftlichen Empfehlungen gefolgt wird, oder eben auch nicht. Einen Beirat, den niemand bemerkt, braucht man nicht.

Digitalisierung wird ganz wichtig

Erwartungsgemäß nimmt die Digitalisierung im Koalitionsvertrag einen breiten Raum ein. Die Potenziale des digital-gestützten Lehrens und Lernens konsequent zu erschließen, ist ein richtiges Ziel. Hierfür die Erfahrungen im Unterricht während der Pandemie auszuwerten und auch die gute Praxis der Schulen in anderen Bildungssystemen auf der Welt zu Rate zu ziehen, weitet den Blick.

Wichtig ist, dass die technischen und personellen Voraussetzungen für die Digitalisierung und Medienbildung geschaffen werden. Nur so können die festgelegten Inhalte auch umgesetzt werden. Die stetige Weiterentwicklung der Medienbildung ist aufgrund der dynamischen technischen Entwicklungen unabdingbar.

Mit höchster Priorität sollte die geplante Positivliste („Whitelist“) für datenschutzkonforme Materialien und Datenschutzlösungen versehen werden. Die Schulen sind darauf angewiesen. Dies gilt auch für die Rechtssicherheit bei der digitalen Übertragung aus dem Unterricht.

Die Ausstattung aller Lehrenden mit digitalen Endgeräten ist ebenso essentiell. Schon lange verweist die GEW darauf, dass das Arbeiten mit privat finanzierten Geräten nicht zumutbar ist. Es ist gut, falls dies bald und endgültig beendet wird.

„Support und Wartung“ – ist ein Dauerthema an den Schulen und in den Kommunen. Dies jetzt anzugehen und zu regeln, ist wichtig. Allerdings ist der Zielkorridor bis 2023 ein langer Zeitraum. In der Zwischenzeit müssten sowohl die Zusatzvereinbarung „Administration des Digitalpakts“ schnell umgesetzt als auch die Anrechnungsstunden für schulische Netzwerkbetreuer*innen erhöht werden. Die Schulen brauchen wesentlich mehr interne und externe personelle Kapazität, um die vielen digitalen Geräte an den Schulen, die Netzwerke und die Software verwalten zu können. Das leidige Thema „Bildungsplattform“ bleibt eine grundlegende und notwendige technische Voraussetzung für gute Bildung.

Qualitätsentwicklung braucht Strukturdebatten

Die Qualität des Bildungssystems steht laut Koalitionsvertrag im Fokus. Was, wie und bis wann verbessert werden soll, kann man daraus nicht ableiten. Den Fokus auf Qualität statt auf Strukturdebatten zu setzen, mag gut für das Koalitionsklima der Regierungsparteien sein, es ist aber bildungspolitisch nicht haltbar. So wurde zum Beispiel bei der Einführung des Qualitätskonzepts auf das Vorbild von Schleswig-Holstein verwiesen, das in einschlägigen Vergleichsstudien relativ gut abgeschnitten hat. Dort wurde allerdings eine grundlegende Strukturreform durchgeführt und ein Zwei-Säulen-Modell etabliert. Diesen Aspekt hat man in Baden-Württemberg immer ausgeblendet, wohlwissend, dass die Qualitätsentwicklung durch eine zersplitterte und unübersichtliche Schulstruktur erschwert wird.

Die angekündigte Evaluation des Qualitätskonzepts darf nicht auf die lange Bank geschoben werden. Änderungsbedarf zeichnet sich schon jetzt ab: Autonomie für die Seminare, die Angebote der Lehrerfortbildung in Schulnähe entwickeln sollen und eine weniger zentrale Steuerung durch das Zentrums für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL) und dessen von der Schulrealität weit abgehobenen Regionalstellen, die trotz des Namens oft auch geographisch weit weg sind, sind zwei konkrete Beispiele. Auch hier sind zusätzliche Ressourcen notwendig.

Evaluation und Wirksamkeitsprüfungen sind grundsätzlich legitime Instrumente auch im Schulbereich. Aber: Schulen brauchen dann auch Unterstützung und Ressourcen, um identifizierte Probleme wirklich bearbeiten zu können. Bisher gibt es immer noch keine schulnahen Fortbildungsreihen und begleitete Schulentwicklungsprozesse. Auch der soziologische Hintergrund der Schüler*innen muss als eine wichtige Bedingung für Schule und Unterricht als Parameter einfließen. Dies allein auf den Migrationshintergrund zu beziehen, wie das im Koalitionsvertrag steht, wird diesem Ansatz jedoch überhaupt nicht gerecht. Benachteiligung und Privilegierung ist komplexer. All diese Überlegungen dürfen sich außerdem nicht nur auf die Grundschule beziehen, sie müssen unverzüglich und in allen Stufen der Bildung angegangen werden.

Die Folgen der Pandemie erschweren den Anspruch, jedem Kind die bestmögliche Bildung zu bieten. Hierzu braucht es vor allem gut ausgebildetes Personal. Zusatzangebote und so genannte Lernlückenprogramme sind ohne ausreichend Lehrkräfte kaum umzusetzen. Als Gewerkschaft achten wir darauf, dass diese Vorhaben nicht zu einem Einfallstor für prekäre Arbeitsverhältnisse im Bildungsbereich werden. Generell sind Lerngelegenheiten, die zusätzlich zum regulären Unterricht angeboten werden, genau zu prüfen. Eine Überforderung der Schüler*innen mit womöglich noch größerem Lernfrust ist unbedingt zu vermeiden. Sinnvoller wäre es, den Unterricht zu individualisieren, vor allem kleinere Lerngruppen einzurichten oder, wo immer möglich, mehrere Pädagog*innen pro Gruppe beziehungsweise Klasse einzusetzen.

Konzepte für den Einsatz von multiprofessionellen Teams in den Grundschulen entsprechen GEW-Forderungen. Auch der Einstieg in eine sozialindexbasierte Ressourcenzuweisung ist eine gute Sache. Sie berührt unmittelbar die Bildungsgerechtigkeit mit dem Grundsatz, Ungleiches ungleich zu behandeln und besondere Belastungen der Schulen sowie herkunftsbedingte Benachteiligungen der Schülerinnen und Schüler abzufedern. Dafür müssen zusätzliche Stellen an den Grundschulen geschaffen werden, eine Umverteilung der Stunden wäre für die GEW ein falscher Ansatz. Dieser Grundsatz muss jedoch möglichst zügig Eingang an allen Schulen finden. Was den Grundschulen auf jeden Fall fehlt, sind verbindliche Poolstunden in der Pflichtstundentafel, wie sie an den weiterführenden Schulen umgesetzt sind. Dies darf keinesfalls in die nächste Legislaturperiode geschoben werden.

Den Konsulatsunterricht abzuschaffen und den muttersprachlichen Unterricht in staatliche Verantwortung zu überführen, verdient Lob. Seit vielen Jahren weist die GEW auf diese Black-Box im Bildungsbereich hin.

Die pädagogische Freiheit soll gestärkt werden, allerdings recht zaghaft. Grundschulen ohne Ziffernnoten nur an einzelnen Schulen zuzulassen, ist nach einem Modellversuch unverständlich. Die Einführung von Ethik an den Grundschulen ist positiv, sie muss jedoch ein schnelleres Tempo an den Tag legen, als es bei den weiterführenden Schulen der Fall war. Hier muss sich die Landesregierung mehr vornehmen.

Die neue Landesregierung bekennt sich klar zum verbindlichen Ganztag als Bedingung für die Umsetzung einer pädagogisch wertvollen Rhythmisierung. Die angekündigten Anpassungen lassen hoffen, dass auch die Gesetzes- und Verordnungslage dieser Bedeutung entsprechen wird. Eine schulgesetzliche Grundlage für den Ganztag an den weiterführenden Schulen war schon in der letzten Legislaturperiode angekündigt, jetzt muss sie endlich kommen!

Das schulische Ganztagsangebot soll weiter durch flexible Betreuung am Nachmittag ergänzt werden. Dieses kommunale Betreuungsangebot erhält vom Land lediglich einen Zuschuss und lässt verbindliche Regelungen und Standards zur pädagogischen Qualität, räumlichen Situation oder ein Fachkräftegebot vermissen. Wenn das Land ernsthaft gerechte Bildungschancen und vergleichbare Lebensbedingungen für Kinder herstellen will, braucht es an den Bedürfnissen und dem Wohl der Kinder ausgerichtete Standards. Der bisher unzureichende und unverbindliche „Qualitätsrahmen Betreuung“ muss ganztägige Bildung, Erziehung und Betreuung umfassen und an den „Qualitätsrahmen Ganztagsschule“ angeglichen werden.

Weiterführende Schulen

Die Absage an Strukturdebatten bezieht sich dezidiert auf G8. Im Koalitionsvertrag wird klargestellt, dass es hier in den nächsten fünf Jahren keine Änderung gibt. Dies sollte Überlegungen zu Flexibilisierungsmodellen der Schulzeit wie zum Beispiel „Abitur im eigenen Takt“ nicht verhindern.

Gemeinschaftsschulen können weiterhin Oberstufen einrichten. Dies ist für die Entfaltung des Potenzials der Gemeinschaftsschulen unerlässlich. Die GEW erwartet, dass das Kultusministerium darin nicht nur eine lästige Option sieht, sondern die Gemeinschaftsschule überzeugend unterstützt. An dieser Unterstützung hat es in den letzten fünf Jahren leider allzu oft gefehlt.

Evaluation und Weiterentwicklung sind Stichworte, die sich auch bei den weiterführenden Schulen finden. Das Realschulkonzept soll unter Qualitätsaspekten angeschaut, das G8 pädagogisch weiterentwickelt werden. Ein erfreulicher Vorsatz: Das Coaching soll beim Deputat berücksichtigt werden. Dies könnte ein Anreiz für alle Schulen sein, diese sinnvolle pädagogische Maßnahme einzuführen. Leider relativiert die Koalition im nächsten Satz: „Wir werden intensiv nach Lösungen suchen, wie allen Schularten der Sekundarstufe I diese Option im Rahmen der zur Verfügung stehenden Ressourcen ermöglicht werden kann.“ Ohne zusätzliche Ressourcen kann das Coaching nicht eingeführt werden.

Die Inklusion läuft nicht rund. Diese Erkenntnis spiegelt sich im Koalitionsvertrag wieder: Die Umsetzung der Inklusion soll analysiert und angepasst, die Rahmenbedingungen verbessert werden. Ein ehrenwertes Anliegen. Aber gute Ansätze sind nur gut, wenn sie auch umgesetzt werden. Ein Qualitätsrahmen allein verändert nichts. Für das akzeptierte und pädagogisch sinnvolle Zwei-Pädagog*innenprinzip müssen zügig Stufenpläne für die Einführung vereinbart werden. Ähnliches ist auch für den inklusiven Schulentwicklungsprozess in jedem Schulamtsbezirk vorgesehen. Die Überprüfung der Kapazität der Studienplätze für das Lehramt Sonderpädagogik, die ebenfalls im Vertrag steht, dürfte dagegen wenig Zeit beanspruchen: Der Mangel ist so offensichtlich, dass ihn niemand bestreitet. Allerdings ist das Problem seit Jahren bekannt und die grün-schwarze Landesregierung hat bisher nichts dagegen getan. Dadurch herrscht inzwischen an den Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) und in der Inklusion ein strukturelles Personaldefizit von neun Prozent – für die GEW ein Skandal mit Ansage. Immerhin führt Ministerpräsident Winfried Kretschmann die Landesregierung seit zehn Jahren, solange ist das von Theresia Bauer geführte Wissenschaftsministerium für die Studienplätze zuständig.

Demokratische Bildung, Bildung für nachhaltige Entwicklung, Bildung für Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt und Friedensbildung sind gesellschaftlich relevante und auch brisante Themen. Es ist ein gutes Zeichen, dass sie explizit im Koalitionsvertrag benannt werden. In der Schulwirklichkeit sind diese Themen aber noch zu wenig verankert. Die konzeptionelle und personelle Umsetzung muss dringend gestärkt und im Unterricht wirksam werden. Die Lehreraus- und -fortbildung hat hierbei eine wichtige Aufgabe.

Schulische Rahmenbedingungen verbessern

Schulsozialarbeit unterstützt junge Menschen mit psychosozialen Problemen und Notsituationen und leistet einen erheblichen Beitrag zum Ausgleich sozialer Benachteiligung. Die GEW begrüßt daher, dass die Landesregierung zu einer Drittelfinanzierung der Schulsozialarbeit zurückkehren will und dieses Jugendhilfeangebot an Schulen damit institutionell stärkt. Der vorgesehene Dialog mit den Trägern sollte sicherstellen, dass Schulsozialarbeit ihrem originären Auftrag nachkommen und ihren Fokus auf individuell beeinträchtigte, sozial benachteiligte und auf besondere Unterstützung angewiesene junge Menschen richten kann. Leider sieht der Koalitionsvertrag keine gesetzliche Regelung im Schulgesetz zur Kooperation von Schule und Schulsozialarbeit vor.

Für Schulleitungen soll die zweite Stufe des Schulleiterkonzepts umgesetzt und die Leitungszeit erhöht, zusätzliche Anrechnungsstunden für Außenstellen gewährt und die Schülerzahl bei der Berechnung der Leitungszeit an SBBZ und allgemeinen Schulen berücksichtigt werden. All dies sind richtige Maßnahmen, damit Schulleitungen ihre Aufgaben gut erfüllen können. Für die Kollegien ist außerdem sehr wichtig, dass die Kürzung des allgemeinen Entlastungskontingents rückgängig gemacht werden soll. Angesichts der coronabedingten Überlastungen muss dies in den ersten Regierungsmonaten zurückgenommen und bei Bedarf auch ausgebaut werden.

Ob die angekündigten Erneuerungen des Koalitionsvertrags Wirklichkeit werden, wird man in den nächsten fünf Jahren sehen. Wenn die Schuldenbremse wichtiger ist als gute Bildung, und die Landesregierung es nicht schafft, für die Bildung mehr Geld auszugeben, kann sie die selbstgesteckten Ziele nicht erreichen.

Kontakt
Ute Kratzmeier
Referentin für allgemeinbildende Schulen
Telefon:  0711 21030-25