Nicht nur historische Erfahrungen in Deutschland zeigen, dass Demokratie und demokratisches Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger keine Selbstverständlichkeit sind. So ist eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung 2019 zu dem Ergebnis gekommen, dass 26 Prozent der Nachwendekinder im Osten, aber auch 23 Prozent im Westen der Meinung sind, dass es „einen starken Führer“ geben sollte, „der sich nicht um Parlamente und Wahlen kümmern muss“. Außerdem ist die Politikverdrossenheit in beiden Gruppen beängstigend hoch. Mehr als 60 Prozent aller Befragten glauben, dass sie „keinen Einfluss darauf haben, was die Regierung macht“. Was bedeutet „Demokratiebildung“ im Schulalltag?
Herausforderungen der Demokratieerziehung
Im Demokratieverständnis des Grundgesetzes wird deutlich, dass es keineswegs ausreicht, sich lediglich auf Mehrheitsentscheidungen eines Volkes zu berufen. Zur Demokratie gehören mindestens genauso die Achtung der Menschenrechte, der Minderheitenschutz, die Gewaltenteilung sowie Verfahren des unabhängigen Rechtsstaates, um nur einige wesentliche Aspekte anzusprechen. Gerade in Zeiten vermehrter globaler Migration und ökonomischer Globalisierung stehen die Schulen vor einer besonderen Herausforderung: das Miteinander unterschiedlicher Ethnien und Kulturen zu ermöglichen, ohne die zentralen Grundsätze der liberalen Demokratie zu verleugnen beziehungsweise aus falsch verstandener Liberalität nicht nachhaltig einzufordern. Die Kultusministerkonferenz (KMK) spricht davon, „Empathie, Respekt, Achtung und Toleranz“ (KMK, 2018) müssten insbesondere an den Schulen gelehrt, gelernt und erfahren werden. Meinungsfreiheit, Minderheitenschutz, Achtung der Menschenrechte, Gewaltenteilung, Mehrparteiensystem sowie die Achtung rechtsstaatlicher Verfahren gehören dabei ebenso dazu wie das Berufen auf den Willen einer Mehrheit in der Bevölkerung.
Mit zunehmender Digitalisierung bieten sich zudem nicht nur umfangreiche gesellschaftliche und politische Möglichkeiten der Partizipationen an, es lauert auch die Gefahr, dass sich Kontroversen zum?Beispiel durch Fake News, Hate Speeches oder Social Bots verschärfen, zumal die sozialen Medien die Möglichkeit bieten, Vorurteile und Hassbotschaften – vermeintlich – anonym vorzutragen. Die Auseinandersetzung in der digitalen Welt muss deshalb möglichst rasch mit einer Förderung der kritischen Medienkompetenz bei allen Beteiligten einhergehen.
Der Beutelsbacher Konsens
Die KMK und die meisten Bildungspläne der Bundesländer beziehen sich explizit auf den Beutelsbacher Konsens. Er wurde 1977 auf einer Tagung der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (LbB) formuliert und ist inzwischen weit über die politische Bildung hinaus akzeptiert. In den 1970er-Jahren standen auf der einen Seite emanzipatorische Ansätze, die die Aufgabe der Schule vornehmlich darin sahen, gesellschaftlich benachteiligte soziale Gruppen durch die schulische Bildung zu emanzipieren. Auf der anderen Seite standen die Traditionalisten, die die Aufgabe schulischer Bildung insbesondere in der Sozialisation zu patriotischen Staatsbürgerinnen und -bürgern sahen. Solche nationalistische, identitätsstiftende Ziele prägen nach wie vor zahlreiche Bildungspläne innerhalb und außerhalb der Europäischen Union. Es bleibt das Verdienst des damaligen Leiters der LpB Baden-Württemberg, Dr. Siegfried Schiele, mit der Formulierung des Beutelsbacher Konsenses zwischen diesen Lagern vermittelt und einen weithin akzeptierten Konsens erreicht zu haben.
Grundsätze des Beutelsbacher Konsenses
- Überwältigungsverbot. Es ist nicht erlaubt, den Schüler beziehungsweise die Schülerin – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der „Gewinnung eines selbstständigen Urteils“ zu hindern. Hier genau verläuft die Grenze zwischen politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers beziehungsweise der Lehrerin in einer demokratischen Gesellschaft und der – rundum akzeptierten – Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers und der Schülerin.
- Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen. Diese Forderung ist mit der vorgenannten aufs Engste verknüpft. Wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten.
- Die Schülerin beziehungsweise der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen.
Zumindest im Gemeinschaftskunde- und Geschichtsunterricht dürften inzwischen das Überwältigungsverbot (Punkt 1) und das Kontroversitätsgebot (Punkt 2) weitgehend akzeptiert sein. Andere Fachbereiche beginnen gerade erst, sich mit diesen Forderungen auseinanderzusetzen. Dies betrifft auch gut gemeinte Projekte zum Beispiel zur Zukunftsfähigkeit des Planeten Erde oder zur Antidiskriminierung. Die politische Auseinandersetzung zeigt auch hier, dass es beispielsweise beim Umweltschutz, beim fairen Handel oder bei der Antidiskriminierung zumeist deutlich unterschiedliche Lösungsansätze gibt und dass die Schülerinnen und Schüler sehr sensibel sind, wenn sie den Eindruck bekommen, überwältigt zu werden. Auch hier sollten das Kontroversitätsgebot und die Priorität der selbstständigen Suche der Schülerinnen und Schüler nach Lösungen, die ihren eigenen Interessen entsprechen, gelten.
Im Lehrerbegleitheft zu den baden-württembergischen Bildungsplänen 2016 fordert Hans Anand Pant den Beutelsbacher Konsens offiziell und explizit für alle Fächer sowie den Schulalltag.
Häufig wird im Schulalltag allerdings der dritte Teil des Beutelsbacher Konsenses unterschätzt, enthält er doch direkte Konsequenzen für die Methodik des Unterrichts. Schülerinnen und Schüler sollen durch den Unterricht nämlich in die Lage versetzt werden, ihre eigenen Interessen zu analysieren und in ihrem Interesse zu beeinflussen. Dies bedeutet zunächst, dass sich die Unterrichtenden an didaktischen Methoden und Modellen, zum Beispiel Multiperspektivität, orientieren sollen, die es den Schülerinnen und Schülern ermöglichen, ein eigenes Urteil mit Urteilskriterien zu entwickeln. Dabei ist das Urteilen keineswegs schularten- oder altersabhängig. Auch in der Primarstufe urteilen Schülerinnen und Schüler. Dies aufzugreifen und pädagogisch zu begleiten, ist im Schulalltag keineswegs immer ganz einfach.
Die Bildungsinhalte und Unterrichtsmethoden sind nicht von jeder Schule willkürlich festlegbar. Sie sind in den Bildungsplänen fixiert, die durch die Abgeordneten im Landtag demokratisch legitimiert werden. Demokratie und Schule ist deshalb stets ein schwieriges Mit- und Gegeneinander. Die Demokratiebildung bleibt jedoch ein zentrales Anliegen schulischer Sozialisation.