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Darstellung von Vielfalt in Schulbüchern

Aber uns gibt es doch!

Was in Schulbüchern steht, gilt als „normal“. Doch ihr großes Potenzial, Vielfalt wertschätzend darzustellen, wird noch viel zu wenig genutzt. Wir zeigen gelungene Beispiele und Qualitätskriterien, wie Vielfalt dargestellt werden kann.

Illustration: Katja Rosenberg

Der achtjährige Dario kommt weinend aus der Schule nach Hause. Stolz hatte er seine Hausaufgabe vorgelesen, einen Aufsatz zum Thema „Ein schönes Erlebnis am Wochenende“. Aber seine Lehrerin sagte nur, er solle nicht fantasieren, nachdem er seinen Bericht über die Wanderung mit Papi und Papa vorgelesen hatte. Dario meint traurig zu seinen Vätern: „Im Deutschbuch ist auch kein Bild von einem Jungen mit zwei Papas, aber uns gibt es doch!“. Das war im Jahr 2011.

Wo und wie finden sich Kinder aus gleichgeschlechtlichen Partnerschaften heute im Unterricht wieder? Und wie unterstützt die Schule LSBTIQ*-Schüler/innen auf dem Weg, ihre Identität zu finden? Laut Bildungsplan 2016 sollen alle Kinder an einen wertschätzenden Umgang mit Vielfalt herangeführt werden.

Einen wesentlichen Beitrag zur Umsetzung des Bildungsplanes leisten die Schulbücher. In Bild und Text schaffen sie die Lehrbuchwelt, die im Idealfall die Vielfalt von Identitäten und Lebensentwürfen selbstverständlich zeigt. So sollten neben heterosexuellen Familienkonstellationen auch LSBTIQ*-Familien, Personen unterschiedlicher Ethnien oder Religionen, Menschen mit unterschiedlichen körperlichen Befähigungen dargestellt sein.

Allerdings hinkt die Realität dieser Forderung häufig hinterher. Laut der Schulbuchanalyse von Bittner (2011) (PDF) thematisieren Schulbücher die Vielfalt sexueller Orientierungen und Identitäten nur in seltenen Fällen. So kommen beispielsweise in den Lehrbüchern für Englisch weder lesbische noch schwule oder bisexuelle Menschen vor. In vielen Biologiebüchern wird Heterosexualität als Norm dargestellt. Aber auch im Lese-, Schreib- und Rechenunterricht wird implizit das Bild von der „Vater-Mutter-Kind-Familie“ vermittelt.

Welche Fortschritte gibt es bei neueren Schulbüchern? Auf Anfrage der GEW-Vorsitzenden Doro Moritz im Jahr 2018 schickten viele Schulbuchverlage Beispiele aus der neuesten Generation ihrer Schulbücher. Die folgenden Beispiele zeigen, wie Vielfalt in Familienformen, Geschlechtsidentitäten und sexueller Orientierung gelungen thematisiert wird.

Oldenbourg Verlag: „Erlebniswelt 1/2“ (Bayern, 2014, S. 20-21)

Das Thema „Familien sind verschieden“ wird in dem Sachbuch für die Grundschule mit sechs Fotos eingeleitet. Diese sind im Familienalltag angesiedelt (Schuhe, Zahnbürsten, Tassen und Teller, Fahrräder, Kleidungsstücke an einer Garderobe, Schwimmutensilien). Die Kinder sollen überlegen, wer hier als Familie zusammenleben könnte. Zur Auswahl stehen 17 Personen verschiedenen Alters, Hautfarbe, Geschlechts. Es gibt eindeutig männlich und weiblich aussehende Menschen, aber auch Kinder und Erwachsene, deren Geschlecht offenbleibt.

Sachbuch „Erlebniswelt 1/2“ aus dem Oldenbourg Verlag, Seite 20 und 21, Erscheinungsjahr 2014

Nun können die Schüler/innen verschiedene Familien zusammenstellen und dabei ihre Erfahrungswelt einbringen. Die fünf Zahnbürsten könnten einer Oma, drei Kindern und einer alleinerziehenden Mutter gehören, oder einem lesbischen Paar mit drei Kindern, oder einer Jugend-WG mit Sozialarbeiter, oder oder oder. Auf die Offenheit dieser Aufgabenstellung wird in der Lehrerhandreichung ausdrücklich hingewiesen. Bewusst soll eine Wertung der unterschiedlichen Lebensformen vermieden werden.

Wahrscheinlich werden die meisten Grundschüler/innen erst einmal nur Papa-Mama-Kind-Familien konstruieren und die Entscheidung, ob eine Person männlich oder weiblich ist oder Migrationshintergrund hat, an Kleidung oder anderen Attributen festmachen. Dies ist eine gute Gesprächsgrundlage, um Stereotype zu hinterfragen, zum Beispiel ob lange Haare immer auf ein Mädchen deuten. Außerdem werden viele Kinder verschiedene Konstellationen durchspielen und damit ihren Blick weiten, was eine Familie ausmacht. Dabei wird eine prinzipielle Problematik der Darstellung sichtbar: einerseits geht es darum, Stereotype zu vermeiden. Andererseits sollen aber auch LSBTIQ* sichtbar sein. Damit diese erkennbar sind, braucht es Stereotypen. Diese Gratwanderung ist unseres Erachtens in diesem Sachkundebuch gut gelungen.

Schroedel/Westermann: Pusteblume 2 (alle Bundesländer, 2015, S. 54-55)

In dem Lesebuch für die 2. Klasse steht die Sichtbarkeit verschiedener Lebensformen im Vordergrund. Unter der Überschrift „Familien können ganz verschieden sein“ werden hier sieben Familien vorgestellt: 

  • Papa, Mama, fünf Kinder;
  • alleinerziehender Vater;
  • lesbisches Paar mit zwei Kindern;
  • Patchworkfamilie;
  • ein heterosexuelles Paar mit Adoptivkind;
  • Mutter mit Sohn, dessen Vater im Ausland ist;
  • SOS-Kinderdorffamilie.

Die Kinder bekommen den Arbeitsauftrag, „Wie unterscheiden sich die Familien?“ und lernen so unterschiedliche Familienkonstellationen kennen. Anschließend malen sie ihre eigene Familie. Zielführend ist hier, dass sich die Kinder zunächst Wissen aneignen und dann die Inhalte mit eigenen Erfahrungen verbinden. Ein nächster sinnvoller Schritt wäre, Gemeinsamkeiten zwischen den vielfältigen Familien zu benennen, um das Verbindende zu sehen. Dies stärkt das Verständnis füreinander. (UNESCO 2017, S. 18, PDF)

Während in der Grundschule die gleichberechtigte Darstellung verschiedener Lebensformen im Vordergrund steht, geht es in der Sekundarstufe darum, den Jugendlichen vielfältige Facetten von Identität anzubieten.

Cornelsen: „Politik entdecken 7/8“ (Baden-Württemberg, S. 116-119)

Das Kapitel „Familie früher und heute“ thematisiert verschiedene Familienformen. Positiv hervorzuheben ist das Bildmaterial, das Familien verschiedener geschlechtlicher Konstellationen zeigt. Zudem können einzelne Personen nicht eindeutig einem Geschlecht zugeordnet werden, was Raum lässt für nicht-binäre Geschlechtsidentitäten. Die Aufgaben sind offen gestellt und ermöglichen eigene Definitionen von Familie. Ein Cartoon zeigt obendrein einen lockeren, entdramatisierenden Umgang mit vom traditionellen Familienbild abweichenden Familienformen. Die Texte sind informativ in Bezug auf die politischen und rechtlichen Grundlagen von Familien.

Schroedel: „Biologie heute 9/10“ (Niedersachsen, S. 92ff.)

Auf der Doppelseite „Vielfalt in Liebe, Sexualität und beim Geschlecht“ werden LSBTIQ*-Personen selbstverständlich und nicht als von der Norm abweichendes Zusatzthema behandelt. Neben dem heterosexuellen Paar sind zwei junge gleichgeschlechtliche Paare (lesbisch und schwul) abgebildet.

Sehr positiv ist, dass diese Einheit nicht nur auf die biologische Dimension, sondern auch auf die psychologische und empfundene Dimension von Geschlecht eingeht. Die Jugendlichen werden hier ebenfalls über die Bedeutung des Geschlechts für die Persönlichkeitsbildung und ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung aufgeklärt.

Cornelsen: „A_tope.com Nueva edición“ – Spanisch (alle Bundesländer, S. 27)

Ein gelungenes Beispiel der gleichwertigen Darstellung aller Lebenskontexte findet sich in einer Hörverstehensaufgabe im Anfängerunterricht Spanisch (Sekundarstufe II): Tarek und Marta unterhalten sich über ihre Familie. Marta hat einen deutschen Vater und eine spanische Mutter. Sie erwähnt unter anderem, dass ihre Tante mit einer Frau zusammen ist. Verschiedene Lebensweisen werden hier nicht als ein eigenes Thema behandelt, sondern beiläufig als gesellschaftliche Gegebenheit dargestellt.

Auf die Lehrkraft kommt es an

Auch wenn diese Beispiele zeigen, dass sich einige Schulbuchverlage auf den Weg gemacht haben, Texte und Bilder inklusiv und diversitätsbewusst zu gestalten (PDF), werden immer noch viele Chancen verpasst, die gesellschaftliche Vielfalt in den Schulbüchern darzustellen. Geht es zum Beispiel im Englischunterricht der Klasse 5 darum, die Vokabeln zum Wortfeld Familienstand einzuführen, so werden im Lehrbuch Acces 1 (Cornelsen 2013, S. 47) nur Bilder von heterosexuellen Konstellationen gezeigt. Da braucht es inklusiv denkende Lehrkräfte, die diese Bilder um gleichgeschlechtliche Paare ergänzen.

Kontakt
Maria Jeggle
Redakteurin b&w
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