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Die Kinder in der letzten Reihe

7,5 Millionen Erwachsene in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben – obwohl sie eine Schule durchlaufen haben. Die Rede ist von sogenannten „funktionalen Analphabeten“. Was läuft hier schief?

Die alarmierenden Zahlen stammen aus der leo. – Level-One-Studie der Universität Hamburg (2010/2011). Im Auftrag des Bundesbildungsministeriums testete die Studie Lese- und Schreibkompetenz von deutschsprechenden Erwachsenen. Demnach können 4 Prozent der Erwachsenen nur einzelne Buchstaben und Wörter erkennen, weitere 10 Prozent erfassen keine längeren Sätze oder einen Textzusammenhang. Ob Beipackzettel, Arbeitsanweisung oder Elternbrief, im Alltag stoßen diese Menschen auf vielfältige Hindernisse.

Analphabetismus wurde lange Zeit totgeschwiegen oder als individuelle Schwäche abgewertet. Nun haben Bund, Länder und Kommunen für die Jahre 2016 bis 2026 eine nationale Dekade der Alphabetisierung ausgerufen. Um Netzwerkarbeit, Kursangebot und Öffentlichkeitsarbeit zu fördern, stellt der Bund jährlich 19 Millionen Euro zur Verfügung. In Baden-Württemberg sollen die Anstrengungen vom Landesbeirat für Alphabetisierung und Grundbildung koordiniert werden. Der Startschuss fiel auf dem Grundbildungstag 2017 mit der Unterzeichnung einer Verpflichtungserklärung, in der sich alle Partner im Landesbeirat bereit erklären, das Thema zu forcieren.

Betriebliche Weiterbildung löst das Problem nicht

Dass das Thema gerade jetzt Aufmerksamkeit erhält, hängt nicht nur mit der Level-One-Studie zusammen. Auch immer weniger Jobs kommen ohne Dokumentation, PCs oder Touchscreens aus. Stefan Küpper, Geschäftsführer des Arbeitgeberverbands Baden-Württemberg, sagte auf dem Podium, die Wirtschaft brauche Fachkräfte und wolle in die eigenen Mitarbeiter/innen investieren. „Aber wer nicht lesen und schreiben kann, den kann ich auch nicht in eine betriebliche Weiterbildung schicken, um sich für die Umbrüche fit zu machen“, erklärt Küpper. Deshalb richten nun auch einige Vorzeigeunternehmen Lese- und Schreibkurse im Betrieb ein.

In der Pause berichtete Ulrike Schmid (Name geändert), eine Deutschlehrerin, aus ihrem Kurs. Eine türkischstämmige Frau habe sich von ihrem Arbeitgeber für ihren Schreibkur einen Abend pro Woche befreien lassen wollen. „Wieso, die kann doch genug Deutsch“, habe es geheißen. In der Tat beherrscht die Frau genug Deutsch zum Putzen, nicht aber, um den Schichtplan zu lesen, geschweige denn ihren Arbeitsvertrag. Noch lange nicht alle Arbeitgeber brauchen Lesekompetenz ihrer Mitarbeiter/innen dringend genug. Flächendeckende Angebote sind von diesem Akteur auch nicht zu erwarten.

„Ich kenne keine Analphabeten“, stellte die Moderatorin gleich zu Beginn klar, „zumindest keine, die sich geoutet haben.“ Prof. Anke Grotlüschen, Mitautorin der Level-One-Studie, hakte ein: „Funktionale Analphabeten sind zwar oft gut angepasst, unsichtbar bleiben sie aber vor allem für ein bestimmtes Milieu.“ In einer Umfrage geben 40 Prozent der Hamburger an, einen funktionalen Analphabeten zu kennen. „Das sind aber nicht die 40 Prozent, die heute hier sitzen“, stellte Grotlüschen trocken fest. Funktionale Analphabet/innen arbeiten vor allem in Berufen, die kein größeres Textverständnis erfordern. So wird die Analphabetenquote unter Bauhilfsarbeitern auf 56 Prozent geschätzt, unter Köchen und Küchengehilfen auf 27 Prozent. Die meisten funktionalen Analphabeten haben Mitwisser/innen an ihrer Seite, die ihnen die gelegentliche Bewältigung von komplexeren Listen, Notizen oder schriftlichen Arbeitsanweisungen abnehmen. Doch nur 2 Prozent der Mitwisser/innen in der Hamburger Umfrage verwiesen die Betroffenen auch auf einen Alphabetisierungskurs, noch weniger melden sich dazu an. Eine Rolle spielen dabei Vorurteile („Der ist doch zu alt dafür“) und negative Selbstbilder („Das hab ich schon in der Schule nicht geschafft“).

Um diese Menschen zu erreichen, müssen Milieus und Stigmata durchbrochen und (Selbst)Vertrauen wiederhergestellt werden. Dafür bestehen einige Ansätze: Grotlüschen betont, wie wichtig sensibilisierte Fachkräfte in Schulen, Kindergärten, Ämtern oder Reha-Kliniken seien. Ein ESF-Projekt, das städtische Mitarbeiter/innen für die Thematik sensibilisiert, läuft 2018 aus. Das DGB-Projekt MENTO setzt auf persönliche Ansprache im Betrieb. Mitarbeiter/innen werden sensibilisiert und dafür geschult, Analphabet/innen in ihrem Umfeld zu erkennen und behutsam anzusprechen. Die Kampagne „Lesen und Schreiben – Mein Schlüssel zur Welt“ schaltet regelmäßig einen Fernsehspot, in dem ein Mann buchstäblich „ins kalte Wasser springt“. „Der nächste Schritt lohnt sich“, betont der Spot und bietet eine Telefonhotline an.
Im Moment läuft der sicherste Weg in den Alphabetisierungskurs wohl über die Lebenskrise: Neue Anforderungen im Job, Scheidung, Arbeitsunfähigkeit, aber auch die Beförderung, all das können Anlässe sein, die die Betroffenen zum Handeln zwingen.

Prekär beschäftigte Lehrkräfte

Sind die Menschen erst einmal in einem Kurs, kommen die nächsten Hürden. „Entscheidend für den Lernerfolg in den Alphabetisierungskursen ist die Lehrkraft“, betont Prof. Cordula Löffler von der PH Weingarten. „Die Lehrkraft benötigt sehr viel Fingerspitzengefühl und viele Kompetenzen – fachlich, sozialpädagogisch und psychologisch – um die Teilnehmenden auf Augenhöhe abzuholen, wo sie stehen.“ Gerade Kursteilnehmende mit negativen Lernerfahrungen ziehen sich bei Enttäuschungen schnell zurück. Löffler betont, zur Qualitätssicherung seien feste Arbeitsverhältnisse der Lehrkräfte zwingend erforderlich. Wie überall in der Erwachsenenbildung arbeiten Lehrkräfte überwiegend auf Honorarbasis mit zu niedrigen Stundensätzen, ohne Absicherung im Krankheitsfall und ohne Kündigungsschutz.

Die Volkshochschulen sind ein wichtiger Träger von Alphabetierungskursen, aber chronisch unterfinanziert. Im Bundesdurchschnitt stammen 13,7 Prozent der Mittel für die VHS-Arbeit vom jeweiligen Bundesland (2015), in Baden-Württemberg liegt der Anteil dagegen bei 10 Prozent. Dabei hatte das Land im Weiterbildungspakt das Ziel gesetzt, die Landesmittel an den Bundesdurchschnitt anzugleichen. Zwei Jahre vor Auslaufen des Paktes befürchtet der VHS-Verband Baden-Württemberg nun, dass das Versprechen nicht mehr eingehalten wird. Fehlende Planungssicherheit und Geldmangel sind Gründe, warum die Arbeitsbedingungen in der Weiterbildung so schlecht sind.

Arbeitsauftrag an alle Institutionen

Auf dem Grundbildungstag wurde wenig über die Gründe für funktionalen Analphabetismus gesagt. In „Politik und Zeitgeschichte (ApuZ)“ wird man fündig: Funktionaler Analphabetismus entsteht aus dem Zusammenwirken mehrerer Belastungen, wie etwa Krankheit, familiäre Probleme, finanzielle Unsicherheit oder das berühmte bildungsferne Elternhaus. Einzelne Belastungen lassen sich noch bewältigen, doch beim Zusammenspiel mehrerer Faktoren ist ein Ausgleich nicht mehr ohne Weiteres möglich. Bildungseinrichtungen oder Ämter stellen sich nicht immer auf die Belastungssituation ein, so dass das Problem unkorrigiert bleibt oder noch verschärft wird. Dies ist der Ausgangspunkt eines Teufelskreises: „Mit den ersten Schulschwierigkeiten stellen sich begleitend häufig ein negatives Selbstbild und ein geringes Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten ein. Dies wiederum lässt Lernerfolge immer unwahrscheinlicher werden. Gelingt jedoch der Einstieg in den Schriftspracherwerb nicht in den ersten Jahren der Grundschule, sieht das Schulsystem in den höheren Klassen keine weiteren Möglichkeiten vor, die Grundlagen der Schrift zu erwerben.“ (ApuZ)

Was passiert in den Schulen, dass Kinder so zurück bleiben? Ulrike Schmid, die nicht nur in der Alphabetisierung, sondern auch 15 Jahre lang an einer Grundschule gearbeitet hat, erklärt: „Das sind die Kinder in der letzten Reihe“. Überforderung, zu große Klassen und zu wenig Zeit seien Gründe. Sie kritisiert den Druck von oben, gute Versetzungsquoten vorzuweisen. Cordula Löffler bestätigt im Vortrag, die Grundlagen der Sprachförderung seien mittlerweile in der Lehrerausbildung berücksichtigt, doch die Lehrer/innen gäben einvernehmlich an, sie hätten dafür keine Zeit.

Der Grundbildungstag ist auf die An-alphabet/innen und auf einzelne Projekte fokussiert. Die Institutionen und Strukturen, welche Analphabet/innen erst hervorbringen, bleiben ein Nebenschauplatz. Dabei stellen die Probleme in der Erwachsenenbildung immer auch einen Arbeitsauftrag an die Schulen dar. Haben neue pädagogische Konzepte in den Schulen das Problem gelöst, oder bringt unser System gerade die nächste Generation funktionaler Analphabeten hervor? Welche Chancen bieten die Gemeinschaftsschule oder die Schulsozialarbeit? Welchen Rahmen benötigt die Grundschule? Und für die Erwachsenenbildung: Was sagt es über den Stellenwert von Lebenslangem Lernen aus, wenn Erwachsenenbildner/innen für ihren Einsatz immer noch mit Unsicherheit und Altersarmut bestraft werden?
Die GEW ist auf allen Gliedern der Bildungskette aktiv. Gerade sie sollte die nationale Dekade für Alphabetisierung nutzen, um die richtigen Fragen zu stellen. Es geht um die Kinder in der letzten Reihe

 

Quellen

• Sven Nickel: Funktionaler Analphabetismus. bpb.de /Aus Politik und Zeitgeschichte (ApuZ), 2014. www.bpb.de/apuz/


• Anke Grotlüschen, Wibke Riekmann (Hrsg.): „Funktionaler Analphabetismus in Deutschland. Ergebnisse der ersten leo. - Level-One Studie“, Waxmann 2012.

• Deutscher Volkshochschulverband Baden-Württemberg: Drei Minuten Weiterbildungspolitik, www.vhs-bw.de/drei-minuten-weiterbildungspolitik_erneut_web.pdf

www.alphadekade.de/
www.mein-schlüssel-zur-welt.de