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Ein einziges peinliches Foto genügt

In jeder Schulklasse leiden ein bis zwei Kinder unter ständigen Attacken ihrer Mitschüler/innen. Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter/innen sind oft unsicher, wie sie mit Cyber-Mobbing umgehen sollen. Auf einer Tagung am 9. März werden Interventionsmöglichkeiten vorgestellt. Franz Hilt, Tagungsleiter und Ausbilder, spricht über Fallstricke und was man gegen Mobbing tun kann.

Herr Hilt, Sie haben als Leiter des Referats Prävention des AGJ-Verbandes in der Erzdiözese Freiburg e. V. und als Leiter des Programms Konflikt-Kultur viel Erfahrung im Umgang mit Mobbing, Mediation und Tatausgleich. Cyber-Mobbing betreiben Schüler/innen meist außerhalb von Schule und Unterricht. Warum sollen sich Lehrkräfte darum kümmern?
Mobbing und Cyber-Mobbing gehen Hand in Hand. Meist treten die analoge und digitale Schikane gemeinsam auf. Beides ist Mobbing und es tritt vermehrt in Schulen auf, weil es Mobbing vor allem in Zwangskontexten gibt, einem Kontext wie ihn die Schulpflicht schafft. Das „Opfer“ kann Mobbing nicht alleine beenden. Mobbing zu überwinden gehört zum schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrag.
Permanente Abwertungen und Ausgrenzungen machen dem Betroffenen das Leben zur Hölle. Leistungsabfall, Schlafstörungen, Verhaltensauffälligkeiten, psychosomatische Erkrankungen, Suizidgedanken bis hin zum Suizid spiegeln das enorme Leid. Und ich rede hier nicht vom ausufernd gebrauchten Begriff Mobbing für gelegentliches Ärgern, sondern von systematischer Schikane und Herabwürdigung mit dem Ziel, seinen eigenen Status auf Kosten eines Opfers zu erhöhen. Vier Prozent aller Schüler/innen sind in Deutschland davon betroffen.   

Wie bemerken Lehrkräfte, dass sich Schüler/innen gegenseitig im Netz bloßstellen oder anderweitig schikanieren?
Grundsätzlich gibt es zwei Zugänge. Entweder das Opfer, eine Freundin oder die Eltern suchen selbst den Kontakt zur Lehrkraft oder die Klassenleitung führt eine geschützte Abfrage durch, wie wir das im Rahmen unserer Sozialtrainings tun. Das Thema ist sehr schambesetzt, daher scheuen viele Kinder und Jugendliche, sich direkt an Lehrer/innen zu wenden. Sie fürchten Vorwürfe, warum beispielsweise ein bestimmtes Bild überhaupt im Netz auftauchen konnte. Außerdem trauen sie uns Erwachsenen häufig nicht zu, ihre Situation zu verbessern. Dabei bemängeln sie nicht unser technisches Wissen, sondern die Fähigkeit positiv auf das soziale Verhalten und das Klassenklima Einfluss zu nehmen.

Können Lehrkräfte präventiv wirken, dass es erst gar nicht zu Mobbing im Netz kommt?
Gift für Mobbing sind Zivilcourage, Transparenz und eine rechtsstaatliche Öffentlichkeit. Wenn in Schulklassen eine Erzählkultur besteht, Sorgen und Wünsche zur Sprache kommen können und Lehrkräfte dies moderieren, wirkt das präventiv gegen jede Form von Gewalt. Gleichzeitig braucht es eine Orientierung an den Grund- und Menschenrechten. Mobbing und Cybermobbing sind eine Verletzung dieser Rechte. In einem Klima von Transparenz und Respekt können die Verteidiger zu Wort kommen. Verteidiger werden in der Fachliteratur jene Schüler/innen  genannt, denen das schikanierende Verhalten von Klassenkamerad/innen nicht passt und die Stellung beziehen, wenn es gute Gelegenheiten dafür gibt. Die Gruppe der Verteidiger ist in aller Regel größer als die der Schikanierenden, nur wissen sie meist nichts von ihrer Macht. Deshalb braucht es Erwachsene, die eine respektvolle Erzählkultur entwickeln und aufrechterhalten. Solche Erwachsene genießen im konkreten Fall dann auch das Vertrauen der Hilfesuchenden. Ihnen erzählt man was.


Wie können Eltern einbezogen werden?
Auch Eltern erfahren häufig erst spät von Bloßstellung, Herabwürdigung und Schikane gegen ihre Kinder. Sie empfinden Verzweiflung, Wut und Scham und haben den Drang ihre Kinder zu beschützen. Sie wollen erfahren, wer hinter den Attacken steht und nicht selten nehmen sie Kontakt auf mit den vermeintlichen Tätern oder deren Eltern. Die Eltern der Täter stellen sich dann entweder schützend vor ihre Kinder und stärken ihnen damit den Rücken oder sie drohen ihren Kindern. Das führt meist dazu, dass sie den Druck an die Opfer weitergeben – sie zahlen es den Petzern heim. Im schlimmsten Fall eskaliert das Mobbing von der Schüler- auf die Eltern-
ebene, indem die Eltern der Täter sich Verbündete unter den anderen Eltern suchen und dann die Eltern der Opfer angreifen. Eine Dynamik, die leicht an Elternabenden auftreten kann, an denen über das Problem geredet werden soll.
Haben Eltern dagegen den Eindruck, dass die Profis in der Schule ihrem Kind auf kompetente Art helfen, können sie sich mehr oder weniger entspannt zurücklehnen. Eltern können sich dann auf das begrenzen, was sie zu einer Lösung beitragen können: ihrem Kind alle Liebe schenken, die sie haben, ihm deutlich machen, dass es die Schikane, die es erfährt, nicht verdient hat, und für ihr Kind alternative, wertschätzende Erfahrungen in anderen Gruppen ermöglichen.

Wie können Lehrkräfte Cybermobbing gezielt bearbeiten und auf Dauer verhindern?

Mobbing ist ein systemisches Phänomen, das nur auf systemische Weise, also mit allen Beteiligten verstanden und nachhaltig bearbeitet werden kann. Aus Mangel an geeignetem Handwerkszeug arbeiten Erwachsene jedoch nicht selten nur in Einzelgesprächen allein mit dem Opfer oder bloß mit Teilgruppen. Das ist zu wenig, der Kreis ist zu klein.
Wenn Schüler/innen im Kreis aller Beteiligten, in der Regel der ganzen Klasse, berichten, was ein schikanierter Mitschüler im Einzelnen abbekommt, können sie als Beobachter mit Händen greifen, wie Mitgefühl wächst – eine intrinsische Motivation dem gemobbten Mitschüler zu helfen. Erforderlich hierfür sind Transparenz und Vertrauen in die Klassenleitung, die eine entsprechende Schulung braucht und sich jeglicher Schuldzuweisung enthält. Wenn eine systemische Intervention unter Strafandrohung stünde, würde die notwendige Ehrlichkeit der Schüler, alles schikanierende Verhalten zu benennen, nicht entstehen. Auch das Mitgefühl könnte nicht wachsen. Mitgefühl ist der Kern der Intervention. Daneben muss die Leitung der Intervention den Werte-Rahmen der Klasse stabilisieren, Rechtfertigungen begegnen, ein Helfersystem etablieren, Kontrolltermine durchführen etc., um Nachhaltigkeit zu erzielen.
Das Besondere an Cybermobbing liegt daran, dass mit den technischen Möglichkeiten eine Attacke massenhaft vervielfältigt werden kann und ständig präsent ist. Ein einziges peinliches Foto birgt die Gefahr eines Mobbingprozesses. Es kann rund um die Uhr und überall verbreitet werden. Hier ist Gefahr im Verzug. Für solche krisenhaften Situationen haben wir eine Systemische Kurzzeitintervention entwickelt. Sie funktioniert nach den gleichen Prinzipien, die ich für die Systemische Mobbingintervention beschrieben habe, und berücksichtigt besonders die Scham, die bei Cybermobbing sehr häufig im Vordergrund steht.

Welche Fehler beobachten Sie am häufigsten?
Die wesentlichen Fehler sind, mit Einzelnen statt mit allen Beteiligten zu arbeiten, Tätern gleich mit Strafe drohen und so die notwendige Ehrlichkeit verhindern, fehlende Kontrolle nach der Intervention und den Schüler/innen zu viel Verantwortung überlassen, in dem man sie auffordert, Mobbing selbst zu lösen.

Was haben Lehrkräfte und auch Schul-sozialarbeiter/innen davon, wenn sie ihre Fortbildung besuchen?
Die 10-tägige Fortbildung Sozialtraining und systemische Mobbingintervention verhilft zu einem vertieften Verstehen der Mobbingdynamik und vermittelt die Haltungen und Fähigkeiten zur Leitung eines mehrtägigen Sozialtrainings inklusive einer Systemischen Mobbing-
intervention. Die Demonstration der Methoden, findet in einer Schulklasse statt, wird also live von den Teilnehmenden der Fortbildung miterlebt. Der erfolgreiche Abschluss wird zertifiziert. Pädagogen und Pädagoginnen bekommen Werkzeuge an die Hand, um Schulklassen zu unterstützen, eine vertrauensvolle Klassengemeinschaft zu werden, in der Ehrlichkeit, Respekt und Mitgefühl gelebt werden.