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„G9 kann sich ungewollt zu einer Art Gemeinschaftsschule entwickeln“

Der Tübinger Erziehungswissenschaftler Thorsten Bohl empfiehlt im Interview, dass alle Schulen für anspruchsvolle Reformschritte vielfältige Unterstützungen erfahren sollten. Die Qualität der pädagogischen Arbeit steht für ihn im Vordergrund, nicht die Schulart. Die Rückkehr zu G9 hält er für kontraproduktiv. So könne sich kein stabiles Zwei-Säulen-Modell entwickeln.

Herr Bohl, die Schulstruktur ist zurzeit heftig in Bewegung. Gemeinschaftsschule, Veränderung der Realschule, G8 oder G9 – was denken Sie, warum gerade so viele Veränderungen nötig sind?
Derzeit werden notwendige Strukturmaßnahmen angegangen, die seit vielen Jahren bekannt und offenkundig sind – bei weitem nicht nur in Baden-Württemberg. Wichtige Stichworte sind dabei Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention, die Abwahl der Werkrealschule oder die demographische Entwicklung im ländlichen Raum. Und wenn das Schulsystem in Bewegung kommt, tauchen eben viele erwünschte und unerwünschte Effekte auf, die dann verständlicherweise intensiv diskutiert werden. Leider muss derzeit sehr viel unter massivem Zeitdruck entschieden werden, insbesondere aufgrund der Abwahl der Werkrealschulen. Bei entsprechenden Strukturentscheidungen vor ca. zehn Jahren wäre das einfacher gewesen.

Wie schätzen Sie die Gemeinschaftsschule nach den ersten Jahren ein. Ist die neue Schulart gut gestartet?
Dazu liegen noch keine empirischen Befunde vor, daher muss man vorsichtig sein. Offensichtlich ist: Die Herausforderungen für diese neue Schulart sind immens, allein die Zahl der größeren und kleineren Reformen ist groß. Es ist wirklich bemerkenswert, welche und wie viele Reformen die Lehrerinnen und Lehrer an den Gemeinschaftsschulen umsetzen. Dazu gehören unter anderem Inklusion, Alternativen zur Notengebung oder Individualisierungsprozesse im Unterricht. Es wird noch einige Jahre dauern, bis derartig anspruchsvolle Reformen vollzogen sind. Es geht ja nicht nur darum, etwas zu tun oder es nicht zu tun, entscheidend ist, dass es mit sehr guter Qualität gelingt. Man kann sich dazu beispielsweise die differenzierte Leistungsbeurteilung als Alternative zu Noten anschauen. Hierzu gibt es seit den 70er-Jahren vielfältige Forschungsbefunde und es ist bekannt, dass die Alternativen pädagogisch wichtig und sinnvoll sein können. Aber es ist nicht einfach, die diagnostische Qualität zu steigern.

Was brauchen die Gemeinschaftsschulen, damit sie in den kommenden Jahren erfolgreich werden können?
Trotz der vielfältigen Ressourcendiskussion, die in Baden-Württemberg besteht, gerade auch im Hinblick auf Heterogenität an Realschulen oder an G9-Gymnasien, ist mein Eindruck hier sehr klar: Die Gemeinschaftsschulen benötigen weiterhin vielfältige Unterstützung, um die anspruchsvollen Reformen erfolgreich umzusetzen. Es geht dabei um erweiterte personenbezogene Expertise besonders von Gymnasiallehrkräften oder Sonderschullehrkräften, um die Etablierung multiprofessioneller Kooperationen, um die Weiterentwicklung der Kenntnisse und Kompetenzen der Lehrkräfte insgesamt oder um die Stärkung der Schulleitungen. Als Wissenschaftler wäre mir natürlich sehr wichtig, dass diese Reformen so weit wie möglich auf der Grundlage von Forschungsbefunden vollzogen werden.

Welche Forschungsbefunde müssten bei den Reformen denn berücksichtigt werden?
Zu nahezu allen Reformthemen liegen Vorerfahrungen aus anderen Bundesländern oder Nationen und Forschungsberichte vor, beispielsweise zu Individualisierung, zum kooperativen Lernen, zur Abschaffung der Notengebung oder zunehmend auch zu Inklusion. Dadurch können mindestens auf einer konzeptionellen Ebene Gelingensfaktoren beschrieben werden – die Gefahr des Scheiterns wird geringer.

Den Gemeinschaftsschulen wird unterstellt, dass sie gegenüber den anderen Schulen zu viele Stunden für ihre Entwicklungsarbeit bekommen. Wie sehen Sie das?
Umfassende Reformen brauchen mindestens in einer Einführungsphase zeitliche und expertisebezogene Unterstützung. Das gilt unabhängig davon, an welcher Schulart die Reformen angegangen werden. Die Gemeinschaftsschulen brauchen natürlich eine deutliche Unterstützung für die vielfältigen Reformen – ähnliche Unterstützung wäre für Reformen an Realschulen oder Gymnasien auch notwendig. Diese Diskussion wird meines Erachtens zu stark schulartspezifisch und zu wenig mit Blick auf Reformvorhaben geführt.

Die Landesregierung hat als Ziel ein Zwei-Säulen-Modell vorgeschlagen. Die eine Säule ist das Gymnasium. Die andere Säule ist noch nicht klar erkennbar. Wie sollte diese zweite Säule Ihrer Meinung nach aussehen und welche Entwicklungen müsste die Landesregierung anstoßen?
Die Annäherung der Gemeinschaftsschule und der Realschule und damit eine stabile zweite Säule könnte über zwei Maßnahmen vorangebracht werden: Erstens gemeinsame Merkmale, insbesondere auch ein gymnasiales Angebot als G9, heterogene Lerngruppen bis ca. Klasse 7 und selbstverständlich inklusives Lernen, das gilt ja auch für die anderen Schularten. Zweitens könnte  über einige Merkmale jede Schule selbst entscheiden: eine mögliche Kursbildung ab Klasse 8, Notengebung oder didaktische Konzeptionen. So wäre es weitaus einfacher die zweite Säule zu stabilisieren. Eine klare zweite Säule wäre wichtig, damit wir weg von der Schulartendiskussion kommen und uns auf die Verbesserung der Qualität von Schule und Unterricht konzentrieren können.

Neben den Gemeinschaftsschulen und Realschulen wird auch intensiv über die Zukunft des Gymnasiums diskutiert. Viele Eltern wünschen sich eine Rückkehr zum 9-jährigen Gymnasium. Was halten Sie davon?
Der Wunsch ist verständlich, weil der Leistungsdruck am G8 als hoch erlebt wird und zudem das G9 bei immer mehr Familien die Hoffnung auf einen Weg zum Abitur weckt. Die Frage muss jedoch mit Blick auf das Gesamtsystem diskutiert werden. Daher muss ich ein wenig ausholen.
Es geht um die Frage, wie das Schulsystem insgesamt aufzustellen ist. Wie würde das Zwei-Säulen-Modell mit G9 aussehen? Neben G9 wird eine zweite Schulart mit einem gymnasialen Bildungsgang nicht bestehen können. Zu wenig Eltern von Schüler/innen mit Gymnasialempfehlung werden sich für sie entscheiden. Dafür ist der Trend zu G9 zu groß. Das G9 wäre auch für viele Schüler/innen mit Realschulempfehlung attraktiv. Pointiert formuliert: Wer G9 favorisiert, muss zwei Fragen beantworten: Erstens: Wie kann die Abwahl der zweiten Schulart verhindert werden – gerade angesichts der abgeschafften Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung? Zweitens: Wie lange und mit welchem Bildungsauftrag lässt sich G9 bei einem steigenden Anteil von Schüler/innen ohne gymnasiale Bildungsempfehlung noch als ein gymnasiales Angebot begründen? Ein zweites Modell wäre: G8 am Gymnasium mit einem klaren, anspruchsvollen und authentisch eingelösten gymnasialen Bildungsgang und innerhalb der zweiten Schulart die Möglichkeit von G9. Damit wäre der gewissermaßen exklusive gymnasiale Auftrag innerhalb von G8 eingelöst und gleichwohl ein längerer Weg zum Abitur möglich. Zudem muss die zweite Schulart neben dem Gymnasium attraktiv sein, um überhaupt bestehen zu können – und dazu zählt auch ein gymnasiales Angebot.

Was würde mit dem Gymnasium bei einer Rückkehr zum G9 passieren?
Die Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung kombiniert mit der Rückkehr zum G9 könnte mittelfristig dazu führen, dass sich das G9 ungewollt zu einer Art Gemeinschaftsschule entwickelt. Wenn das Gymnasium Kinder und Jugendliche auch ohne Gymnasialempfehlung aufnimmt und für sie systematisch Fördermöglichkeiten einrichtet, ist dies durchaus wünschenswert – aber wo ist dann die Grenze? Der nächste Schritt wäre dann im Gymnasium über einen Realschulabschluss und über eine innere Differenzierung im letzten Jahr davor nachzudenken – oder eben am Ende der Klassenstufen 5 bis ca. 7 wieder abzuschulen. Ich will damit auf den Klärungsbedarf hinweisen: Welchen bildungstheoretischen Auftrag sollen unsere Sekundarschularten haben und wie wird dieser institutionell eingelöst?

Ist das G8 so schlecht wie sein Ruf unter den Eltern?
Auf der Grundlage vorhandener empirische Studien muss man sagen: eher nicht. Mehrere Studien bestätigen, dass das Wohlbefinden von Schüler/innen am G8 nicht geringer ist als am G9. Gleichwohl wird der Leistungsdruck an G8-Gymnasien als hoch empfunden. Hier besteht Entwicklungsbedarf, beispielsweise mit klareren Regelungen zu Hausaufgaben, zu Klassenarbeiten und zu zu erwarteten Lernzeiten in den einzelnen Fächern. Dabei sollten sich die Lehrkräfte einer Klasse genau absprechen. Zudem sind das Verhältnis von Schule zu Freizeit sowie der Ganztagsbereich offensichtlich noch wenig ausdifferenziert und regional verankert. Beispielsweise gibt es Hinweise, dass die Vereinsaktivitäten leiden. Allerdings fallen Unterschiede zwischen den G8-Gymnasien auf. Dies deutet auf unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der Einzelschulen hin. Insbesondere mit Blick auf G9 ist zu bedenken, dass die wachsenden Schülerzahlen am Gymnasium immer mehr Schüler/innen mit einem hohen gymnasialen Anspruch konfrontiert. Insofern löst G9 nicht alle Kritikpunkte, die häufig nur an G8 gerichtet werden.
Hier gibt es noch erheblichen Forschungsbedarf. Ich möchte nur andeuten, dass wir dringend medizinische Studien etwa zur Entwicklung psychosomatischer Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen in Abhängigkeit von Schularten benötigen. Gemäß einer Münchner Studie scheinen diese Erkrankungen im gymnasialen Bereich deutlich gehäuft aufzutreten. Zudem stellt sich die Frage, ob Studien aus anderen Bundesländern angesichts des spezifischen Schulsystems in Baden-Württemberg übertragbar sind. Und für Baden-Württemberg wäre dringend ein Modellversuch zur flexiblen Oberstufe im Modell ‚Abitur im eigenen Takt‘ notwendig. Dann würden wir klarer sehen, ob dies eine Alternative zur G8-G9-Diskussion sein könnte.

In den vergangenen Wochen hat Kultusminister Andreas Stoch das neue Konzept für die Weiterentwicklung der Realschulen vorgelegt. Künftig soll es unter anderem eine Orientierungsstufe in Klasse 5 bis 6 geben. Ab Klasse 7 sollen die Schüler/innen jährlich im grundlegenden oder mittleren Kompetenzniveau eingeordnet werden. Der Unterricht muss zieldifferent gestaltet werden. In Deutsch, Mathematik und Englisch kann zeitweise und auf einem Teil der Stunden beschränkt, auch äußerlich in Lerngruppen differenziert werden. In Klasse 9 können die entsprechenden Schüler/innen den Hauptschulabschluss an der Realschule ablegen. Wie schätzen Sie diese Maßnahmen ein?
Eine Neuausrichtung der Realschulen ist notwendig. Aufgrund der Abwahl der Hauptschule haben die Realschulen ihre mittlere Position im traditionell dreigliedrigen Schulsystem verloren. Damit verliert diese Schulart ihre historische und bildungstheoretische Legitimation und muss ihre neue Rolle erst noch finden. Die nun getroffene Entscheidung zur Weiterentwicklung der Realschulen kann man positiv oder eher kritisch einschätzen. Positiv betrachtet bietet sie den Realschulen eine gute Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln und auf eine deutlich veränderte Schülerschaft pragmatisch und zügig zu reagieren. Aus der internen Logik der derzeitigen Situation an Realschulen heraus ist dieser Vorschlag daher naheliegend. Die Orientierungsstufe könnte zudem eine gute Möglichkeit bieten, um Konzepte innerer Differenzierung und Individualisierung systematisch voranzubringen.

... und eher kritisch betrachtet?
Die neue Dreigliedrigkeit – Gymnasien, Gemeinschaftsschulen und Realschulen – wird in Baden-Württemberg verfestigt. Das sehe ich als das größte Problem. Vermutlich wird das geringe Interesse der Realschulen, einen Antrag auf Gemeinschaftsschule zu formulieren, noch weiter sinken. Eine Annäherung zwischen Gemeinschaftsschule und Realschule hätte ich dann gesehen, wenn die Realschule auch gymnasiale Standards erhalten hätte – dann wäre ein gemeinsames Profil in der zweiten Säule klarer erkennbar. Es ist zudem nicht einfach zu verstehen, weshalb die ehemaligen Hauptschulen über einen Antrag auf Gemeinschaftsschule nun eine gymnasiale Bildungsschiene anbieten können, die Realschule als ehemalige mittlere Schulart, die ja traditionell viel näher am Gymnasium liegt, nur einen Hauptschulbildungsgang erhält. Die Realschulen sind hier erstaunlicherweise sehr zögerlich, meines Erachtens hätten sie weitaus stärker auch ein gymnasiales Bildungsangebot einfordern können.
 
Wenn sich die Realschulen so verändern: Wie unterscheiden sie sich von den Gemeinschaftsschulen? Für welche Schulart sollten sich die Eltern entscheiden?
Derzeit sind die Schulartunterschiede strukturell recht deutlich. Sie helfen aber für die Einschätzung der Qualität der pädagogischen Arbeit vor Ort nicht weiter. Ich würde Eltern daher empfehlen die Pädagogik und Didaktik der Einzelschule und das Engagement des Kollegiums für eine gemeinsame Unterrichts- und Schulkonzeption als Entscheidungskriterium heranzuziehen.