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Wie Kinder gut lesbar und flüssig schreiben lernen

Vor fünf Jahren hat der Grundschulverband sein Grundschrift-Konzept vorgelegt und empfiehlt diese Schrift für Grundschulkinder. Seit 2011 wird die Grundschrift an 16 Grundschulen in Baden-Württemberg erprobt. Gegen die einfache, an der Druckschrift orientierte Handschrift gibt es Widerstand. Eine Entscheidung des Kultusministeriums steht noch aus. Ein Plädoyer dafür.

Das Grundschrift-Konzept des Grundschulverbands bezieht sich zwar auf eine besondere handgeschriebene Druckschrift als Ausgangsschrift, das Konzept kann aber auch mit anderen Druckschriftformen realisiert werden. Wichtiger als die Buchstabenform ist der vorgeschlagene Weg zur persönlichen Handschrift: Die Kinder werden – ausgehend von der gelernten Druckschrift - dabei unterstützt, mit immer mehr Schwung zu schreiben und dabei auch das Verbinden von mehreren Buchstaben zu erproben und zu üben. Leitend sind sowohl für die Kinder als auch für die sie begleitenden Erwachsenen die Fragen nach der Lesbarkeit und Flüssigkeit des Geschriebenen – entsprechend den Zielsetzungen der KMK für die Entwicklung der Handschrift im Unterricht.
Es geht also nicht um eine Verdrängung der Schreibschrift. Bei diesem Vorwurf werden ganz unterschiedliche Probleme vermengt. In der aktuellen Debatte sind folgende Fragen zu unterscheiden:

Zum Anfangsunterricht: Ist es besser, den Lese- und Schreibunterricht mit der Druckschrift oder mit einer verbundenen Schreibschrift zu beginnen?
Hans Brügelmann (2015) nennt mehrere Argumente für einen Beginn mit der Druckschrift:
•    „Es ist die Schrift, die Schulanfänger aus ihrer Umwelt kennen und bei ihren ersten Schreibversuchen spontan selber nutzen.
•    Es entlastet die noch wenig entwickelte Feinmotorik, Wörter Buchstabe für Buchstabe zu konstruieren, statt sie in einem Zug zu schreiben; zudem können auch die Druckbuchstaben selbst einfacher aus wenigen wiederkehrenden Elementen gebaut werden.
•    Die graphische Gliederung in Einzelbuchstaben korrespondiert mit der akustischen und artikulatorischen Gliederung der gesprochenen Sprache in Phoneme, so dass die Kinder leichter das Lautprinzip unserer alphabetischen Schrift begreifen und somit Wörter auch leichter erlesen können.“ Damit ist es möglich, die Schrift schon rasch selbstständig für eigene Zwecke zu nutzen, auch wenn noch nicht alles gleich perfekt ist.
Ein weiteres Argument von Brügelmann ist: „Anders als bei einer Trennung von Lese- und Schreibschrift müssen die Kinder nur zwei statt vier Alphabete lernen – beginnt man mit der Blockschrift, sogar nur eines.“ Letzteres kommt besonders Kindern mit wenig Vorerfahrung zu Gute.
Damit aber stellt sich die Frage, warum der Weg zur persönlichen Handschrift nach der Druckschrift über den Umweg einer sogenannten Ausgangsschrift (Lateinische Ausgangsschrift, Vereinfachte Ausgangsschrift oder Schulausgangsschrift), also einer verbundenen Schreibschrift mit vorgegebenen Formen, gesucht werden soll. Beobachtungen bei Erwachsenen zeigen nämlich, dass diese im Laufe der Zeit ganz andere Formen als die der gelernten Ausgangsschrift entwickeln und nur teilverbundene Bewegungsspuren ausführen, besonders wenn größere Textmengen unter Zeitdruck zu schreiben sind.

Unabhängig von der Form der persönlichen Handschrift: Sollte sie an einer Standardschreibschrift geübt oder individuell aus den Druckbuchstaben entwickelt werden?
In der aktuellsten Auswertung der empirischen Studien über die Handschrift(entwicklung) und ihre Förderung kommt Brügelmann zu dem Schluss:
„Im Durchschnitt erweisen sich die Varianten eines (teilverbundenen) Druck-Schreibens einer normierten Verbundschrift gegenüber als deutlich, wenn auch nicht eindeutig überlegen. […] Die meist nicht großen Unterschiede und die Streuung der Ergebnisse innerhalb der einzelnen Methoden sprechen eher für eine Liberalisierung der Regelungen zum Schreibunterricht. Eine solche Öffnung erlaubt Lehrer/innen, die in einer Methode besonders versiert und von ihr überzeugt sind, diese zu nutzen – und ermöglicht die schrittweise Erprobung und Verbreitung neuer Ansätze.“
Jedenfalls gibt es unter den Gesichtspunkten Lesbarkeit/Formklarheit und Geschwindigkeit/Flüssigkeit keine überzeugenden Befunde, die für einen Zwischenschritt mit einer Ausgangsschrift sprechen. Angesichts der nicht befriedigenden Ergebnisse des herkömmlichen Schreibunterrichts muss gefragt werden, womit der zusätzliche Aufwand für die jeweiligen Schreiblehrgänge zu rechtfertigen ist.

Wenn das Schreiben mit der Hand weiterhin bedeutsam ist, muss dies eine auf dem Papier durchgängig verbundene Spur, oder kann/ sollte es eine (teilverbundene) Druckschrift sein?
Wichtig ist der Unterschied zwischen flüssiger Bewegung und durchgängiger Spur auf dem Papier. Kompetente Schreiber/innen heben häufig den Stift ab, fahren aber mit der Bewegung in der Luft fort. Die Kritik an diesen Luftsprüngen stammt aus der Zeit, als noch mit Federkielen geschrieben wurde und beim Abheben die Klecksgefahr groß war – eine Gefahr die bei modernen Füllern oder Kugelschreibern nicht mehr besteht. Dass das teilverbundene Schreiben weniger schnell und flüssig sei, lässt sich empirisch nicht belegen. Auch Schreiber/innen, die eine verbundene Schrift gelernt haben, schreiben als Erwachsene längere Wörter meist nicht mehr in einem Zug auf. Sie pausieren in der Regel nach einigen Buchstaben, gliedern Wörter z. B. nach häufig geschriebenen Bausteinen (als motorischer Einheit), nach Sprechsilben (als steuernder Artikulationseinheit) oder nach Morphemen (als Bedeutungseinheit). Auch an Stellen, an denen sie bezogen auf die Rechtschreibung unsicher sind, kommt es zu Schreibpausen, in denen die Varianten bedacht werden. Der Zwang, Wörter in einem Zug zu Papier zu bringen, führt bei den Schreibenden leicht zu einer Erhöhung des Schreibdrucks und zu Verkrampfungen der Hand.

Ist das Schreiben mit der Hand heute überhaupt noch wichtig – oder sollen die Kinder stattdessen lernen, wie man rasch und fehlerarm auf einer Tastatur tippt?
Schon heute machen die meisten Kinder ihre ersten Schrifterfahrungen an Tastaturen beim Handy, am Tablet oder am Computer. Es ist allerdings nicht absehbar, wie die Alltagssituation des Schreibens in 10, 30 oder 50 Jahren aussehen wird. Ob smartphone-ähnliche Geräte zum handlichen Kommunikations- und Speichermedium werden, auf dem man im Alltag das meiste schreibt; ob die Sprachprogramme so weit entwickelt sind, dass man nur noch diktiert und Informationen gar nicht mehr mit der Hand eingibt, ob man mit einem Stift auf Tablets schreibt, die die persönliche Handschrift in standardisierte Schriftzeichen übersetzen; oder ob kalligraphische Formen wieder an Bedeutung gewinnen – wie man es zurzeit in verschiedenen Bereichen beobachten kann (vgl. „Handwriting“ z.B. in der Zeitschrift FLOW), weiß heute noch niemand. Deswegen kann sich die Schule nicht auf ein eng definiertes Lernziel fokussieren, sondern muss in einer fundierten Allgemeinbildung Optionen für unterschiedliche Entwicklungen offen halten.


Behauptungen, dass das Schreiben mit der Hand die kognitive Entwicklung besonders fördere, sind mit Vorsicht zu interpretieren. Zum einen sind Scan-Studien zu Hirnaktivitäten beim Schreiben (vgl. Spitzer 2015) und die aus ihnen gewonnenen Bilder immer noch sehr interpretationsbedürftig. Zum anderen spielen in Experimenten, z. B. zum Notieren mit der Hand oder auf der Tastatur (Mueller/Oppenheimer 2014), neben dem Schreiben auch noch andere Faktoren eine Rolle. Im Anfangsunterricht zum Schriftspracherwerb spricht viel dafür, dass einzelne Buchstaben mit dem Nachfahren der Form leichter gelernt werden können. Es ist aber keinesfalls zwingend, wie man an den Kindern sehen kann, die mit Hilfe einer Tastatur oder mit Stempeln das Lesen und Schreiben gelernt haben.

Fazit
Es gibt keine plausiblen Begründungen dafür, eine der Ausgangsschriften zum verbundenen Schreiben weiterhin verbindlich vorzuschreiben. Das Konzept der Grundschrift könnte dazu beitragen, dass das Schreiben mit der Hand im Unterricht mehr in den Mittelpunkt rückt, indem die Kinder auf dem Weg zu einer gut lesbaren und flüssig zu schreibenden Handschrift während der gesamten Grundschulzeit begleitet und zu einem kritisch reflektierten Umgang mit ihrer eigenen Schrift herausgefordert werden. Verschiedene Schriften (auch z.B. die verbundenen Ausgangsschriften) sollen in diesem Prozess von den Kindern erprobt und als Anregung für die Weiterentwicklung ihrer persönlichen Handschrift genutzt werden. Zusätzlich ist es auf jeden Fall sinnvoll, auch das Tastaturschreiben in den Unterricht mit aufzunehmen! Auch der Gestaltung mit Schrift – digitale Medien selbstverständlich inbegriffen – kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Wünschenswert wäre in diesem Zusammenhang, wenn auch die weiterführenden Schulen die Schreib-
entwicklung der Kinder in diesem Sinne begleiten würden.