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Wissen, wer reich ist

891 Seiten dick ist der erste Armuts- und Reichtumsbericht Baden-Württemberg, den Sozialministerin Katrin Altpeter (SPD) Ende November 2015 vorgelegt hat. Selbst die Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse umfasst noch 52 Seiten. Diese Fülle an Daten, Analysen und Handlungsempfehlungen zur Armutsbekämpfung kann man sich nur in Schritten erschließen. Aber es lohnt sich!

Der Bericht gliedert sich in drei Teile: Teil A umfasst die wissenschaftliche Analyse, Teil B enthält Beiträge der Mitglieder des Landesbeirats für Armutsbekämpfung und Prävention und der dritte Teil skizziert Maßnahmen und Handlungsempfehlungen der Landesregierung. In der wissenschaftlichen Analyse werden die Rahmenbedingungen der Armuts- und Reichtumsentwicklung wie Demografie, Wirtschaft, Arbeitsmarkt und sozialstaatliche Grundlagen dargestellt. Zentral sind dann jedoch die Berichte zur Einkommensverteilung, zur Entstehung und Dynamik von Armut und deren Kehrseite, der Einkommens- und Vermögensreichtum. Einen Schwerpunkt bildet die Kinderarmut.
Der Bericht macht deutlich, dass Armut oder Reichtum keine rein monetäre Frage ist, sondern dass Bildung, Gesundheit und gesellschaftliche Teilhabe ebenfalls wichtige Dimensionen bei der Betrachtung des Phänomens Armut und Reichtum sind.
Im kleineren Teil des Berichts nehmen die Beiratsmitglieder (Teil B), darunter auch der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Landesregierung, Stellung zu den Daten und Analysen. Die Landesregierung führt unter anderem auf, welche Maßnahmen sie bereits eingeleitet und welche sie in Zukunft noch umsetzen will.

Armut misst sich nicht nur am Geld

In der Sozialberichterstattung wird für Deutschland und auch in diesem Bericht zu Baden-Württemberg das Konzept der relativen Armut zugrunde gelegt. Dies bedeutet, dass das Einkommen des Einzelnen im Vergleich zu denen der Gesamtbevölkerung ins Verhältnis gesetzt wird. Armut hat eine qualitative und eine quantitative Dimension: In qualitativer Hinsicht ist jemand arm, der nicht über die materiellen, kulturellen und sozialen Mittel verfügt, an der allgemein üblichen Lebensweise eines Landes teilzuhaben („Lebenslagenansatz“).
Monetäre Armut im engeren Sinne wird verstanden und gemessen als Einkommensarmut/verfügbares Haushaltseinkommen oder als Abhängigkeit von sozialen Transferleistungen. Gemäß EU-Standard gilt als armutsgefährdet, wer über weniger als 60 Prozent des medianen Nettoeinkommens des jeweiligen Haushaltstyps verfügt. Es wird also bei diesem Vergleich unterschieden, ob jemand in einem Ein- oder Mehrpersonenhaushalt lebt und nicht einfach pro Kopf gerechnet („Nettoäquivalenzeinkommen“).
Laut Bericht galten 2012 in Baden-Württemberg, gemessen am medianen Einkommen, 14,7 Prozent der Bevölkerung als armutsgefährdet. Diese Quote entspricht 1,6 Millionen Menschen. Legt man hingegen das mediane Einkommen in der Bundesrepublik zugrunde, beträgt die Quote der Gefährdeten 11,1 Prozent.
Es lassen sich unter anderem folgende Bevölkerungsgruppen mit einem überdurchschnittlichen Armutsrisiko identifizieren (siehe Tabelle 1)
Erwerbslose haben ein besonders hohes Risiko, in Armut zu geraten. Mit der Dauer der Erwerbslosigkeit verfestigt sich das Risiko enorm. Armutsgefährdete und Arme haben ein deutlich höheres Risiko, sich zu ver- oder gar zu überschulden. Im Jahr 2014 waren rund 4,6 Prozent der Bevölkerung absolut überschuldet, hatten also absehbar keine Möglichkeit, ihre Schulden zurückzuzahlen. Die häufigsten Gründe dafür sind Arbeitslosigkeit, Krankheit, Scheidung und Sucht.

Man kann schneller arm werden

Neben der Entstehung können auch für die Überwindung oder Verfestigung von Armut bestimmte Risikofaktoren identifiziert werden. Zunächst muss man aber sehen, dass 76 Prozent der Bevölkerung (Zeitraum 2008 bis 2012) nie armutsgefährdet waren. Dauerhaft armutsgefährdet waren 10 Prozent, 6 Prozent kurzfristig und 9 Prozent wiederkehrend.  Das Armutsrisiko spielt sich vorwiegend an den Rändern der Einkommensverteilung ab. Und: „Der Trend einer Zunahme der Armut ist gekennzeichnet von einer abnehmenden Aufstiegsmobilität“ (S. 36). Mit anderen Worten: man wird schneller arm als vor Jahren und hat gleichzeitig weniger Chancen, diese Armut wieder zu überwinden.
Wer wie reich ist, weiß man nicht sicher
Nicht nur Kapital ist bekanntlich ein scheues Reh, auch der Einkommens- und Vermögensreichtum lässt sich schwer fassen. Es gibt nur eine einzige Datenquelle, die zumindest die hohen Einkommen einigermaßen verlässlich abbildet, die Lohn- und Einkommensstatistik (LESt). Da die LESt ab 2010 die Einkünfte aus Kapitalvermögen nicht mehr erfasst, fußt die Auswertung des Berichts auf Daten des Jahres 2007. Die hohe Anzahl von Selbstanzeigen wegen Steuerhinterziehung seit 2010 gibt einen klaren Hinweis darauf, dass die Dimension des Reichtums in Deutschland und auch in Baden-Württemberg in jedem Falle von großen Unsicherheiten und wohl auch mit Lücken behaftet ist.
Analog zur qualitativen Seite der Armutsdefinition kann Reichtum als „hohes Maß an Verwirklichungschancen“ beschrieben werden, das „außergewöhnlich gute Teilhabe- und Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet“ (S. 281). In monetärer Hinsicht wird Einkommensreichtum anhand von Schwellenwerten in Relation zur gesamten Einkommensverteilung definiert. Die Festlegung des Schwellenwerts ist dabei rein normativ. In den Armuts- und Reichtumsberichten für Deutschland sind 200 und 300 Prozent des Durchschnittseinkommens inzwischen gängige Werte. Hinzu kommen absolute Betrachtungen wie zum Beispiel die Anzahl der Einkommensmillionäre.

Handlungsempfehlungen
Viele Verbände waren als Beirat in den Bericht eingebunden. Sie empfehlen Maßnahmen zur Armutsbekämpfung und Verringerung der Einkommens- und Vermögensungleichheit (Auszug):
•    Die Liga der freien Wohlfahrtspflege stellt vor allem auf eine verstärkte öffentlich geförderte Beschäftigung ab. Notwendig sei auch ein größeres Engagement im sozialen Wohnungsbau.
•    Der Landesfamilienrat regt unter anderem die Einführung einer Kindergrundsicherung an und mahnt, auch den Blick auf den Reichtum zu werfen.
•    Der Deutsche Kinderschutzbund fordert ebenfalls eine Kindergrundsicherung und die Abschaffung der Sanktionierung beim SGBII-Bezug bei Familien mit Kindern.
•    Der Landesseniorenrat schlägt die Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf 53 Prozent vor, um eine aktive Sozialpolitik finanzieren zu können.
•    Die Landesarmutskonferenz spricht sich für eine Verankerung sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Grundrechte in der Landesverfassung und für die Prüfung der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens aus.
•    Der Deutsche Gewerkschaftsbund setzt sich für die Einschränkung des Missbrauchs von Leiharbeit, Werkverträgen und sachgrundloser Befristung ein. Außerdem fordert der DGB die Einführung einer Vermögens- und einer Finanztransaktionsteuer und eine gerechtere Besteuerung der Einkommen.
Abschließend beschreibt die Landesregierung zahlreiche bereits initiierte und fortzuschreibende Maßnahmen wie die Förderung der Erwerbstätigkeit und berufliche Qualifizierung, höhere Kinderfreibeträge und Programme wie „Familien in Not“, Sprachförderung in der frühen Bildung und Verbesserungen beim Übergang von der Schule in den Beruf sowie Hilfen für Alleinerziehende.
Etwas ambitionierter hätte der Beitrag zum Steuerrecht und zu mehr Steuergerechtigkeit ausfallen können. Auch wenn die Handlungsspielräume einer Landesregierung hier begrenzt sind, steht die Erkenntnis, dass Reichtum die Kehrseite der Armut ist, zu wenig im Blickpunkt. Dessen ungeachtet ist der erste Armut- und Reichtumsbericht eine wichtige Beschreibung der sozialen Verhältnisse in Baden-Württemberg, auf dessen Grundlage begründete und gezielte Maßnahmen für ein gerechteres soziales Miteinander formuliert werden können.