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Geflüchtete Jugendliche im VABO

Ob es gut ausgeht?

Bildung ist ein Menschenrecht – auch für geflüchtete Kinder und Jugendliche. Ab ihrem 16. Lebensjahr besuchen sie in der Regel das Vorqualifizierungsjahr Arbeit/Beruf mit Schwerpunkt Erwerb von Deutschkenntnissen. Wie gut funktioniert das System?

Lehrerin und Schüler*innen
In den Spezialklassen in der Nähe von Landeserstaufnahmestellen wie in Karlsruhe bleiben die Schüler*innen selten länger als zwei Monate. (Foto: © imago)

Mitte Januar an einem Montagmorgen in der VABO2 der Elisabeth-Selbert-Schule in Karlsruhe, Deutschunterricht. Anas (Name geändert) wurde gerade mit zwei weiteren jugendlichen Geflüchteten durch das Schulgebäude geführt, er wirkt leicht verängstigt. Erst vor wenigen Tagen kam er mit seiner Familie aus Syrien und ist nun neu in der Klasse. Aber das heißt nichts, denn es sind eigentlich alle neu in dieser Spezialklasse. Wer hier landet, bleibt selten länger als zwei Monate, im besten Fall, können es auch mal nur zwei Wochen sein. Danach wird er – selten sie – „transferiert“, in eine andere Stadt oder in ein anderes Bundesland, vielleicht auch nur in eine „normale“ VABO-Klasse. VABO ist das Vorqualifizierungsjahr Arbeit/Beruf mit Schwerpunkt Erwerb von Deutschkenntnissen.

Städte wie Karlsruhe mit Landeserstaufnahmestellen (LEA) nehmen eine Sonderstellung unter den Kommunen ein, daher auch diese Spezialklasse. Nur ein Teil derer, die in Karlsruhe landen, bleibt auch hier. Die anderen werden verteilt gemäß Königsteiner Schlüssel.

Die Erstverteilung der Asylsuchenden vor der Antragstellung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erfolgt seit dem 1. April 1993 durch ein computergestütztes System – EASY (Erstverteilung Asylbegehrende) – nach einer festgelegten Aufnahmequote auf die Bundesländer. So soll eine angemessene und gerechte Verteilung auf die Bundesländer sichergestellt werden.

Der Verteilalgorithmus folgt im Grundsatz § 46 Abs. 2 AsylG und berücksichtigt neben der Herkunftsländer-Liste-Zuständigkeit der einzelnen Länder deren Soll/Ist-Abweichung von der Aufnahmeverpflichtung (IST-Differenz), die anhand der Quote nach dem Königsteiner Schlüssel berechnet wird.

Die Aufnahmequote richtet sich nach dem sogenannten „Königsteiner Schlüssel“:

  • jährliche Neuberechnung durch das Büro der gemeinsamen Wissenschaftskonferenz
  • Zusammensetzung: zwei Drittel Steueraufkommen und ein Drittel Bevölkerungszahl der Länder

Falls eine länderübergreifende Verteilung von Asylsuchenden erfolgen muss, wird unter den möglichen Zielaufnahmeeinrichtungen die nächstgelegene ausgewählt.

Das Bundesamt hat das Programm EASY gemeinsam mit den Bundesländern konzipiert und fungiert als zentrale Verteilungs- sowie Administrationsstelle.

In der sogenannten Clearingstelle der Stadt Karlsruhe erfüllt die Schulkoordinatorin Hanan Chehab-Abulkoota eine ihrer vielfältigen Aufgaben: Sie unterzieht jugendliche Geflüchtete einem Einstufungstest. Für die Beruflichen Schulen in Karlsruhe ist Chehab-Abulkoota unverzichtbar im gesamten Prozess rund um die Beschulung der Geflüchteten. Idealerweise läuft das so: Die Geflüchteten treffen auf unterschiedlichen Wegen in der Erstaufnahmestelle in Karlsruhe ein, unbegleitete Minderjährige werden in Obhut genommen, in Wohngruppen und anderen Unterkünften verschiedener Träger untergebracht und besuchen dann hoffentlich sehr bald eine VABO-Klasse in einer Beruflichen Schule (ab 16 Jahren, jüngere Schüler*innen besuchen eine VKL). Allerdings beginnt die Schulpflicht erst nach sechs Monaten, das Recht auf Schulbildung besteht sofort. Wie viele Kinder und Jugendliche diesen sehr langen Zeitraum ohne Schule verbringen, ist unklar, die Datenerhebung schwierig. Dabei wäre ein unmittelbarer Schulbesuch so wichtig, schließlich lernen Jugendliche nicht „nur“ Deutsch, Mathe usw. in den Vorbereitungsklassen. Genauso wertvoll sind andere Kompetenzen und die Strukturen. Wie funktioniert das mit den Fächern und Räumen, wieso ist Pünktlichkeit wichtig, wie lernt man selbstständig, welche Informations- und Unterstützungsmöglichkeiten gibt es, wie verhält man sich in einer sozialen Gruppe und gegenüber den Lehrkräften?

Soeben hat Anas die Hausordnung in seiner Sprache gelesen, mit dem Handy fotografiert und die Kenntnisnahme unterschrieben. Aber es bleiben Fragen. Anas hat die Sache mit dem Vertretungsplan noch nicht verstanden, dass er jeden Morgen auf die Stundenplan-App schauen soll. Deshalb spricht er jetzt arabisch mit Chehab-Abulkoota, die noch weitere sechs Sprachen beherrscht. Sie ist ein Glücksfall für die Elisabeth-Selbert-Schule, wo sie einige Stunden pro Woche die beiden VABO-Klassen begleitet, interkulturell vermittelt und Lehrkräfte wie Schüler*innen berät. Leider kann Chehab-Abulkoota nicht an jeder Karlsruher Beruflichen Schule mit VABO-Klasse tätig sein, doch eigentlich bräuchte jede von ihnen eine Chehab-Abulkoota!

Die jungen Geflüchteten werden nach dem Einstufungstest entsprechend ihrem Sprachniveau in VABO-Klassen verschiedener Schulen unterrichtet. Dort bleiben sie ein Jahr und am Ende legen sie ein Zertifikat ab, Sprachniveau A2 oder sogar höher. Ob dieses Ziel erreicht wird, hängt von vielen Faktoren ab, etwa von der Aufenthaltsdauer in Deutschland und welche Schulbiografie sie hinter sich haben. Denn wer schon eine VKL-Klasse besucht hat, oder für mehrere Jahre eine Schule im Herkunftsland, ist alphabetisiert. Das stimmt jedenfalls meistens, je nach Art der Schule oder Unterbrechungen durch Krieg und Zerstörung. Auch junge Menschen, die bereits eine europäische Sprache sprechen, lernen schneller Deutsch.

Das sind zum Beispiel Schülerinnen und Schüler aus dem europäischen Ausland, dem Kosovo, Albanien oder Rumänien und natürlich aus der Ukraine, der größten Gruppe in den VABO-Klassen Karlsruhes. Es überwiegen aber insgesamt ­Nicht-Europäer*innen. Seit dem furchtbaren Erdbeben gab es verstärkten Zuzug aus der Türkei und aus anderen Kurdengebieten. Afghanistan, Syrien und die Länder Westafrikas (Guinea, Ghana, Gambia, Elfenbeinküste) bleiben Spitzenreiter bei den Herkunftsländern, ebenso Somalia. Es flüchten kaum Mädchen unbegleitet nach Deutschland, wenn überhaupt, dann aus Afrika, praktisch nie aus Syrien oder gar Afghanistan. Wenn aus arabischen Staaten junge Frauen hier eintreffen, dann meist zusammen mit ihren Familien.

Was an VABO anders ist

Ein Unterschied zum Lernen in den VKL-Klassen des Haupt-, Real-, Gemeinschaftsschulbereichs und der Gymnasien besteht im VABO darin, dass neben den üblichen Fächern Berufsorientierung großgeschrieben wird. Schülerinnen und Schüler werden individuell beraten ­hinsichtlich beruflicher und lebensweltbezogener Kompetenz; Letzteres ist ein Fach: LWBK. Auch Computeranwendungen und die Funktionsweise des Bildungssystems sind Pflichtfächer, ebenso Religion – in diesen Klassen wäre Ethik sicherlich angebrachter. Wenn es gut organisiert ist, unterstützen Ehrenamtliche und Einrichtungen wie der Internationale Bund (IB) die Lehrkräfte. Vereine machen Angebote. Auf dem ­Spracherwerb mit 15 Stunden Deutsch in der Woche liegt aber der Schwerpunkt. Nur wer einigermaßen Deutsch spricht, kann ein Praktikum absolvieren, um so in verschiedene Berufsfelder hineinzuschnuppern. Macht eine Schülerin, ein Schüler schnell Fortschritte, sollte der Wechsel in eine Klasse aus dem Übergangsbereich mit höherem Sprachniveau ermöglicht werden. Darüber stimmt die Klassenkonferenz ab. Meistens ist es aber sinnvoll, wenn die Jugendlichen länger vom intensiven Deutschunterricht profitieren.

Für Lehrkräfte ist das VABO eine echte Herausforderung: Unterrichten auf verschiedenen Niveaus und mit Händen und Füßen, mit Hilfe von Übersetzungsapps und Schüler*innen, die als „Sprachbrücke“ funktionieren und für andere übersetzen. All das ist Alltag. Doch wenn es keine gemeinsame Sprache gibt, kann es vermehrt zu Missverständnissen innerhalb der Klasse kommen. Gerade im praktischen Unterricht, wo mit Werkzeugen und Maschinen hantiert wird, sind aber klare Ansagen gefragt, denn die Sicherheit hat oberste Priorität.

Klassenlehrkräfte haben auch in regulären Klassen schon genug zu tun. Im VABO gilt es zusätzlich, in engem Kontakt mit den Betreuenden zu bleiben, permanent. Sie koordinieren Angebote von außerschulischen Unterstützungssystemen, tauschen sich ständig mit ihren Kolleg*innen und der Schulsozialarbeit aus, beraten gemeinsam mit allen Beteiligten, wie es mit einzelnen Jugendlichen weitergeht und welche Schwerpunkte in der Lernberatung gesetzt werden sollten. Lehrkräfte in VABO-Klassen werden unterstützt durch Fortbildungen, und es besteht die Möglichkeit der Zusammenarbeit mit den örtlichen Volkshochschulen, die Online-Sprachkurse auf allen Niveaus bieten.

Wie bei allen Jugendlichen gibt es auch unter Geflüchteten Menschen mit Einschränkungen und Lernschwierigkeiten. Sie haben aber kein Anrecht auf Schulbegleitung oder eine sonderpädagogische Unterstützung. Das ist ein Mangel. Ganz zu schweigen davon, dass häufig Erlebnisse im Herkunftsland oder auf der Flucht Traumata verursacht haben. Als Lehrkraft ist hier Empathie gefragt – und Abgrenzung, denn manche Schicksale darf man nicht mit nach Hause nehmen. Das muss man lernen, und für einige Kolleg*innen ist es schmerzhaft zu erfahren, wo ihre Grenzen liegen. Diese zu akzeptieren, muss auch den Schüler*innen vermittelt werden, die oftmals ein sehr enges Verhältnis zu einzelnen Lehrkräften entwickeln.

Nach einem Jahr VABO kann Schluss sein

Was geschieht nun, wenn am Ende des Schuljahres die A2-Prüfung nicht bestanden wird? Sie kann wiederholt werden – im Prinzip. Denn nach einem Schreiben des Kultusministeriums (KM) an die Schulleitungen zur Beschulung Geflüchteter im Schuljahr 2023/2024 ist „das VABO […] in allen drei Niveaustufen geeignet, die Berufsschulpflicht zu erfüllen. […] Das nochmalige Durchlaufen des VABO bzw. die Aufnahme in AVdual / AV ist ausnahmsweise aus pädagogischen Gründen möglich, wenn die Schulleiterin oder der Schulleiter in einem geeigneten Verfahren zu der Auffassung gelangt, dass für die Schülerin oder den Schüler eine positive Prognose besteht und sie oder er den jeweiligen Anforderungen voraussichtlich genügen wird.“

Im Oktober 2023 gab es in Baden-Württemberg 497 VABO-Klassen mit 7.884 Schüler*innen. Weniger werden es in absehbarer Zukunft nicht werden – die Lehrkräfte hingegen schon. Es steht deshalb zu befürchten, dass die eine oder andere Schulleitung geflüchtete Jugendliche ihrer Schule verweisen, sobald sie mit einem Jahr VABO die Berufsschulpflicht erfüllt haben – und möglicherweise noch nicht einmal volljährig sind. Diese jungen Menschen fallen aus allen Unterstützungsangeboten heraus. Was machen sie dann? Nichts, den ganzen Tag? Das geht vermutlich nicht gut aus und widerspricht nicht nur dem gesunden Menschenverstand, sondern auch den Kinderrechten. Es ist ungerecht.

Die volljährigen Geflüchteten ­verweist das KM in seinem Schreiben an die Arbeitsagenturen. Ein kurzsichtiger Plan. Denn Schulen sind wesentlich näher an den jungen Menschen dran, sie könnten für Struktur und Beratung sorgen, Sprachkenntnisse fördern, integrierend wirken und ihre Leben in zukunftsfähige Bahnen lenken.

Doch wer auch immer die VABO-Klassen organisiert, egal auf welcher Ebene, muss dafür sorgen, dass Lehrkräfte entlastet werden und zwar durch Profis. Vor allem den erheblichen Verwaltungsaufwand sollten Fachkräfte übernehmen. Hoffentlich gibt es einen Jugendmigrationsdienst, der bei der Anerkennung ausländischer Zeugnisse hilft; einen Senior Expert Service, wo sich ältere Menschen mit den jungen hinsetzen, Bewerbungen schreiben und sie dann auch während der Berufsausbildung begleiten und so weiter – ein multiprofessionelles Team eben, wie es die GEW seit Jahren fordert.

Die GEW bekennt sich zur UN-Kinderrechtskonvention und tritt konsequent für Bildungsgerechtigkeit ein, wie es dem internationalen Berufsethos von Pädagoginnen und Pädagogen entspricht. Über 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, mehr als die Hälfte sind Kinder. Das Menschenrecht auf Bildung muss für alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen gelten – ausnahmslos.

Anas‘ erster Schultag neigt sich dem Ende zu. Zum Glück wirkt er nun gar nicht mehr verängstigt, er lacht viel beim Dialog mit seinem Mitschüler Saad – man spricht Deutsch. Anas muss auf Saads Fragen reagieren. Seine Antworten kommen leise und zögernd, aber sie sind gut zu verstehen: „Ich heiße Anas. Ich wohne in Karlsruhe. Ich bin 17 Jahre alt. Ich mag Fußball.“

Kontakt
Maria Jeggle
Redakteurin b&w
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