Folgen von Kompass 4
Offensive für Mathe allein genügt nicht
Nachdem der Kompass 4-Test in Mathematik sehr schlecht ausgefallen ist, steht der Unterricht an den Grundschulen im Fokus des Kultusministeriums. Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat eine „Offensive für Mathematik“ angekündigt.
Im Grunde ist eine Offensive für Mathematik nicht ganz verkehrt. Schließlich ist Kompass 4 nicht der erste Test, der nahelegt: Baden-Württembergs Kinder haben ein Mathe-Problem, das angegangen werden muss. Sich in diesem Zusammenhang die Fragen zu stellen, ob die aktuelle Mathematik-Didaktik zu den bundesweiten Bildungsstandards passt, ob die dort formulierten Ziele mit dem Matheunterricht überhaupt erreicht werden können, ist berechtigt. Das Kultusministerium zieht auf jeden Fall seine eigenen Schlüsse daraus und kündigt an: Wir brauchen verbindliche Fortbildungen im Fach Mathematik.
Faktisch wird an den Grundschulen aufgrund des Klassenlehrkräfteprinzips sehr viel Unterricht fachfremd erteilt. Lehrkräfte haben nur eines der Fächer – Deutsch oder Mathematik – studiert, und arbeiten sich in das jeweils andere Fach in aller Regel umfassend ein. Zu Pflichtfortbildungen wie zu BiSS-Transfer und SprachFit soll nun noch Mathematik kommen. Das ruft keine Begeisterung hervor. Dies liegt oftmals nicht an der fehlenden Fortbildungsbereitschaft der Lehrkräfte. Es liegt schlicht daran, dass es vielen Lehrkräften und Schulleitungen ein großes Anliegen ist, möglichst keinen Unterricht ausfallen zu lassen. Die Grundschule ist die Schulart, an der am wenigsten Unterricht ausfällt, obwohl in der Regel keine Vertretungsreserve vorhanden ist. Klar ist aber: Fortbildungen brauchen Zeit. Diese muss das Kultusministerium den Lehrkräften zur Verfügung stellen.
Gestiegene Anforderungen und Erwartungen
Zur Grundaufgabe eines guten, differenzierten, reflektierten und nachhaltigen Unterrichts nach Bildungsplan kommen in der Grundschule umfangreiche Analyse- und Vergleichstests, beratende Elterngespräche, Förder- und Unterstützungsmaßnahmen, sowie entsprechende Weiterbildungs-, Qualifikations-, Vorbereitungs-, Korrektur- und Prüfungsverpflichtungen.
Diese Aufgaben und die Anforderungen sind in den letzten Jahren immer anspruchsvoller und umfangreicher geworden. Die Leistungsanforderungen an die Grundschule sind stetig gestiegen. Gleichzeitig muss die Grundschule alle Probleme auffangen, die bis zum Start der Schulkarriere der Kinder aufgelaufen sind. Dennoch stellen sich die Lehrkräfte in der Grundschule diesen Anforderungen. Doch lassen sich die meisten Probleme nicht in der Unterrichtszeit lösen. Dafür brauchen Lehrkräfte Zeit.
Problemfelder und Widerstände
Migrationsphänomene, Sprachförderbedarfe, fehlendes kulturtechnisches, naturwissenschaftliches und mathematisches Grundverständnis, zunehmend weniger Unterstützung aus den Elternhäusern bei gleichzeitig hoher Anspruchserwartung auf individuellen Bildungserfolg belasten Lehrkräfte. Durch stetig abnehmende finanzielle Förderbereitschaft und -vermögen der Schulträger, wird es schwieriger, für Chancengleichheit zu sorgen. Das größte Problem liegt vermutlich aber im mangelnden Bewusstsein der politischen Entscheidungsträger*innen für die Notwendigkeit und Bedeutsamkeit des Anfangs der Bildungskarriere unserer Kinder.
Ein Missverhältnis tut sich auf: Ausbildung, Regeldeputat und Besoldungseingruppierung an den Grundschulen sind die letzten Jahrzehnte stabil geblieben. Gleichzeitig haben sich aber alle wesentlichen Bedingungsfaktoren von Schule dramatisch verändert. Und eine Vorbereitung auf die aktuellen Arbeitsbedingungen an den Schulen findet offenbar auch in der Ausbildung kaum eine Rückkopplung. Dies führt dazu, dass die aktuellen Anforderungen der Arbeit an der Grundschule in keinem angemessenen Verhältnis mehr zu Einkommen und sozialer Anerkennung stehen.
Um auf das Sorgenkind Mathe zurückzukommen: Mathe-Pflichtfortbildungen als Lösungsstrategie sorgen nur für weiteren Frust, wenn Lehrkräfte ein weiteres Mal feststellen, dass guter Unterricht unter den gegebenen Bedingungen schwer bis gar nicht mehr umsetzbar ist, weil …
- die Klassen einer erkrankten oder auf Fortbildung befindlichen Lehrkraft wieder einmal aufgeteilt oder „mitversehen“ werden müssen.
- Konflikte aus der Pause zuerst gelöst werden müssen, und dafür außer der unterrichtenden Lehrkraft niemand zur Verfügung steht.
- es für die Kinder mit besonderem Förderbedarf und sonderpädagogischem Bildungsanspruch keine zusätzliche Unterstützung gibt, und betroffene Kinder keinen anderen Ausweg mehr sehen als Unterricht zu stören.
- die Arbeitszeit vieler Lehrkräfte auch durch den Ganztag entgrenzt wurde.
- es für gute Unterrichtsvor- und Nachbereitung gar keine zusammenhängenden Zeitfenster mehr gibt, wenn die Unterrichtszeit an Ganztagsgrundschulen auf fünf Vormittage und mehrere Nachmittage verteilt ist.
- einige Kinder in der Klasse kein Deutsch sprechen und dem Unterricht – sei er fachwissenschaftlich noch so gut – gar nicht folgen können.
Was die Lehrkräfte für ihre Arbeit brauchen
Sie brauchen Zeit. Das unvermindert hohe Deputat der Lehrkräfte an den Grundschulen muss den veränderten, gestiegenen Anforderungsprofilen angepasst und verringert werden. Wie alle anderen Schulen brauchen Grundschulen Stunden zur Differenzierung und individuellen Förderung im Pflichtbereich. Mit der Bildung kleinerer Klassen könnte man in vielen Fällen dem Bedarf der Kinder an Aufmerksamkeit und Zuwendung gerechter werden. Echte multiprofessionelle Teams würden zusätzlich einen wesentlichen Faktor für Entlastung und Verteilung der Verantwortlichkeiten in einer Klasse darstellen.
Laut den Prognosen des Kultusministeriums findet der Lehrkräftemangel an den Grundschulen in den nächsten Jahren ein Ende. Doch die Lehrkräfte fehlen heute, um die aktuell überwältigend vielfältigen Aufgaben an den Schulen schaffen zu können.
Ganz am Ende spielt auch der Faktor der finanziellen Wertschätzung für die Arbeit in der Grundschule eine entscheidende Rolle. Über 87 Prozent der Lehrkräfte in der Grundschule sind Frauen. 48 Prozent der weiblichen Lehrkräfte arbeiten in Teilzeit. Ein wichtiger Grund dafür ist auch die vermeintlich gute Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die ein Grundschullehramt auf den ersten Blick mit sich bringt. Die oben beschriebenen, sich so drastisch ändernden Rahmenbedingungen, Zusatzaufgaben und steigenden gesellschaftlichen und sozialen Ansprüche an den Beruf erschüttern dieses Bild zusehends.
Den Beschäftigten in einem überwiegend von Frauen ausgeübten Lehramt weiterhin weniger zu zahlen als den Beschäftigten in anderen Lehrämtern, stellt eine strukturelle Diskriminierung dar. Es ist höchste Zeit, den Lehrkräften an den Grundschulen auch in Baden-Württemberg (wie übrigens in mittlerweile 13 von 16 Bundesländern) endlich A13 / E13 für ihre anspruchsvolle Arbeit zu bezahlen. Sie haben es in jeder Hinsicht verdient!