Sexualisierte Gewalt an Schulen
Ohne Fachberatungen keine Schutzkonzepte möglich
In jeder Klasse sitzen statistisch gesehen ein bis zwei Schüler*innen, die sexualisierte Gewalt erleben oder erlebt haben. Im GEW-Fachgespräch Anfang Februar wurden Lösungen gesucht, wie Schulen mit Schutzkonzepten Abhilfe schaffen können.
Mitte 2018 startete in Baden-Württemberg die bundesweite Initiative „Schule gegen sexuelle Gewalt“. Ziel der Initiative ist, dass alle Schulen passgenaue Konzepte zum Schutz vor sexueller Gewalt erarbeiten. Das Kultusministerium (KM) bietet dazu Infomappen und seit diesem Schuljahr E-Learning-Kurse zur individuellen Fortbildung an. Pilotschulen sind am Start. Viel mehr gibt es bisher nicht.
Eine Initiative des KM ohne wirksame Unterstützung hilft den allermeisten Schulen nicht. Damit es vorangeht und der Kinderschutz nicht nur auf dem Papier steht, hat die GEW Anfang Februar ein Online-Fachgespräch mit Expert*innen und wahlkämpfenden Politiker*innen durchgeführt. Aus der Politik waren dabei: Sabine Wölfe (SPD), Timm Kern (FDP), Thomas Poreski (Grüne) und Claudia Martin (CDU). Allen ist das Thema ein persönliches Anliegen, alle versprachen, sich dafür einzusetzen.
Wozu Schutzkonzepte gut sind
„Erwachsene sollen lernen, richtig zu reagieren, wenn sich Kinder- und Jugendliche mit Gewalterfahrungen an sie wenden. Schulen müssen sichere Orte sein, an denen Strukturen dafür sorgen, dass Schüler*innen nicht nur dann Hilfe erfahren, wenn sich zufällig jemand darum kümmert“, erklärt Petra Sartingen Sinn und Zweck eines Schutzkonzepts. Sartingen ist Fachberaterin bei der Tübinger Initiative für Mädchen*arbeit (tima) und begleitet zurzeit neun Schulen in Tübingen bei der Entwicklung eines Schutzkonzepts, finanziert von der Kommune und dem Landkreis.
Vorweg stellt sie klar, dass das kein einfaches Unterfangen sei. Ein Schutzkonzept brauche Zeit, Durchhaltevermögen, Ressourcen, und vor allem müssten alle mitmachen. Nicht nur Lehrkräfte, alle, die an Schulen arbeiten, auch Eltern, seien angesprochen und würden als erstes Grundlagenwissen benötigen. „Der Weg zur Tat muss bekannt sein“, erläutert die Fachfrau. Drei Hürden müssten Täter*innen überwinden: Die eigene, innere Hemmung, äußere Widerstände und Widerstände beim Kind. „Wir erhöhen mit einem Schutzkonzept diese Hürden“, erklärt sie. Interventionspläne mit klaren Zuständigkeiten würden helfen, Übergriffe in und außerhalb von Schule, auch von Gleichaltrigen, zu unterbinden. Ein grenzachtender Umgang müsse verbindlich besprochen werden und es brauche ein Beschwerdemanagement.
Sartingen kennt nicht nur den Weg zum Schutzkonzept, sie kennt auch die Hindernisse und Widerstände. Oft sei wenig Wissen vorhanden und es gebe Ängste, dass eine „Übersensibilisierung“ stattfinde. Es sei auch schwer, den Faden nicht zu verlieren. „Ohne externe Begleitung geht es nicht“, daran lässt sie keinen Zweifel. Ohne dauerhafte finanzielle Mittel geht es also auch nicht. Wie wichtig Ressourcen und die Begleitung mit Fachberater*innen sind, betont auch Silke Grasmann, Fachreferentin für Prävention von sexualisierter Gewalt bei der Aktion Jugendschutz (ajs). Schutzkonzepte zu entwickeln sei eine wiederkehrende Aufgabe, die Lehrkräfte nicht „on top“ stemmen könnten. „Die Begleitung durch Fachberatungsstellen mit ihrem reichen Erfahrungsschatz müssen zur Grundausstattung jeder Schule gehören und daher vom Land finanziert werden“, fordert sie. Fachberatungen wiederum müssten gut vernetzt sein und kooperieren, daher brauche es eine Landeskoordinierungsstelle. Thomas Poreski unterstützt dieses Anliegen und kündigt an, dass Fachberatungen in den nächsten Wochen einen Dachverband bekommen würden. „Das wird der Vernetzung einen Schub geben“, verspricht der Grüne.
„Wir müssen vom Wissen zum Handeln kommen“, erklärt Grasmann. Dass es ihr zu langsam geht, wird deutlich. Sie fordert mehr Verbindlichkeit und schlägt eine Verankerung im Schulgesetz vor. „Sonst ändert sich nichts“, vermutet sie. In der Jugendarbeit sei die Verpflichtung zur Ausarbeitung von Schutzkonzepten im Sozialgesetzbuch verankert. Ohne Schutzkonzepte erhalten Träger keine Betriebserlaubnis. „Warum kann es was Entsprechendes nicht auch für Schulen geben?“, fragt sie.
In zehn Jahren an allen Schulen
In zehn Jahren soll es an allen Schulen ein Schutzkonzept geben. Über diese Zielsetzung des KM informiert Tonja Brinks vom Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung (ZSL). Das dauert den Politiker*innen Wölfle und Poreski zu lang. Vereine und Sportverbünde hätten über Nacht Schutzkonzepte entwickeln müssen, erklärt Wölfle. Vereine könne man nicht mit Schulen vergleichen, antwortet Brinks. „Es fehlen Fachberatungsstellen. Auch die Schulverwaltung braucht Zeit. Daher geht es nicht schneller“, meint sie und sieht das KM auf einem guten Weg. Petra Sartingen meint sogar, es sei schon ambitioniert, wenn man es in zehn Jahren schaffen würde. „Die Fachberatungen sind das Nadelöhr“, bestätigt sie.
Dass sich auch die GEW eine schnellere Umsetzung wünscht, macht Andrea Wagner aus dem Leitungsteam der GEW-Frauenpolitik deutlich. Die Ansprüche an Schulen dürften nicht geringer sein als an Einrichtungen der Jugendhilfe. Kinder- und Jugendschutz gebe es – wie vieles in der Bildungspolitik – nicht zum Nulltarif.
Die GEW-Vorsitzende Monika Stein erinnert daran, dass Fachberatungen nicht sicher dauerhaft finanziert sind. Dafür seien nicht nur Kommunen, sondern auch das Land in der Pflicht. Schulen und Verwaltungen hätten keine Ressourcen, um Schutzkonzepte zu all den vielen anderen Aufgaben zusätzlich zu entwickeln. „Der Kampf ums Geld wird eine harte Angelegenheit“, vermutet sie.