Zum Inhalt springen

Schutz vor sexueller Gewalt

Ohne fachliche Begleitung geht es nicht

Die Gottlieb-Rühle-Schule in Mössingen hat ein Konzept zum Schutz von Schülerinnen und Schülern vor sexueller Gewalt erarbeitet. Im Interview spricht die Rektorin der Schule, Frauke Betz, über Höhen und Tiefen auf dem Weg dahin.

Lehrkräfte bei einer Konferenz
Foto: © Bert Butzke

Als eine von sieben Pilotschulen des Landesprogramms „Schutz macht Schule“ hat die Gottlieb-Rühle-Schule in Mössingen in Zusammenarbeit mit der Fachstelle TIMA e. V. (Tübinger Initiative für Mädchenarbeit) ein Konzept zum Schutz von Schülerinnen und Schülern vor sexueller Gewalt erarbeitet. Die Rektorin Frauke Betz berichtet der GEW-Mitgliederzeitschrift b&w über Höhen und Tiefen auf dem Weg dahin.

Wie kam es, dass sich Ihre Schule 2016 für das Pilotprojekt entschied?

Frauke Betz: Ich wurde gefragt. An meiner vorherigen Schule war ich bereits beim Präventionskonzept „stark.stärker.WIR“ dabei. Es war bekannt, dass ich offen bin für das Thema, da ich viel in der Mädchenarbeit gemacht habe und in Traumapädagogik ausgebildet bin. Für unsere Grund- und Werkrealschule sah ich die Chance, bei der Entwicklung eines Schutzkonzepts fachlich und professionell von einer externen Fachberatungsstelle begleitet zu werden. Ich war erfreut, dass sich die Kolleginnen und Kollegen dafür entschieden haben, den Weg gemeinsam zu gehen.

Wie sieht Ihr Konzept aus?

Betz: Ein Schutzkonzept ist gelebte Praxis der Grenzachtung auf allen Ebenen. Es betrifft das gesamte System Schule mit all seinen Akteuren, von den Lehrkräften über die Schulsozialarbeit, die Betreuungskräfte, Ehrenamtliche bis hin zu Schülerinnen und Schülern sowie Eltern. Es gibt kein Standardkonzept, das sich überstülpen lässt. Jede Schule muss ihr individuelles Konzept erarbeiten.

So war das auch bei uns. Jede Schule hat schon etwas, an das sie anknüpfen kann. Uns hat zu Beginn eine Ressourcenanalyse geholfen, um zu entscheiden, was wir entwickeln wollen. Dazu mussten wir erst mal informieren. Das gesamte Kollegium nahm an einer intensiven, 30-stündigen Fortbildung teil, die sich aus zwei pädagogischen Tagen und weiteren dreistündigen Fortbildungen zusammensetzte. Immer wieder planten wir auch in den Gesamtlehrerkonferenzen (GLK) Zeit für das Thema ein.

Frau Sartingen von TIMA gab uns Informationen zu rechtlichen Fragen, Täterstrategien, Signalen und Folgen von sexuellem Missbrauch, auch zu sexuellen Übergriffen unter Kindern. Wir haben besprochen, was bei Vermutungen zu tun ist, beziehungsweise wenn ein Kind sich anvertraut, was Traumata sind und wie Prävention aussehen kann.

Wir gründeten eine Steuerungsgruppe und verteilten Aufgaben. Es war uns wichtig, einen Verhaltenskodex zu erarbeiten. Alle Personen an der Schule unterschreiben jetzt eine Selbstverpflichtungserklärung zum grenzachtenden Umgang mit Schülerinnen und Schülern. Das Dokument kann auf der Homepage eingesehen werden. Jede und jeder von uns kann auf unseren internen Ablaufplan bei Vermutungen und Verdacht auf sexuellen Missbrauch zurückgreifen. Es ist unglaublich hilfreich, dass alle sich daran orientieren können und bei Bedarf wissen, wie gehandelt und wer angesprochen werden kann.

Außerdem installierten wir ein Beschwerdemanagement für Schülerinnen und Schüler. In jedem Zimmer gibt es einen „Kummerkasten“, daneben sitzt ein Helferinchen, eine Art Schutzfigur, der die Kinder ihre Sorgen anvertrauen können. Unser Schutzkonzept ist im Schulcurriculum aufgenommen, in den jeweiligen Klassenstufen werden entsprechende Unterrichtseinheiten zum Thema Persönlichkeitsstärkung durchgeführt.

Mit einem Startertag im Juli 2017 präsentierten wir unser Projekt der Öffentlichkeit. Wir erlebten einen sehr gelungenen und guten Einstieg.

Frauke Betz
Foto: © Frauke Betz

Das hört sich nach einer guten Entwicklung an. Wie lange dauerte der Prozess?

Betz: Es sind fast zwei Jahre geworden. Wenn man aber reflektiert mit dem Thema sexuelle Gewalt umgehen möchte, den Fragen und Befindlichkeiten gerecht werden will, dann nimmt das eben Zeit in Anspruch. Für mich war es manches Mal nicht leicht, wenn Fragen oder Bedenken immer wieder auftraten. Auch wenn die Inhalte und Fakten klar waren, brauchte es für einige Kolleginnen und Kollegen Zeit, um die abschreckenden Zahlen tatsächlich zu verinnerlichen und zu begreifen, dass die Ergebnisse der Untersuchungen auch auf ländliche Regionen wie Mössingen zutreffen.

Immer wieder tauchte zum Beispiel ein „aber bei uns doch nicht“ auf. Dabei ist so wichtig, dass wir dem Thema im ländlichen Raum besonders sensibel begegnen. Die Anonymität einer Stadt bietet den Schutz, reden zu dürfen, im ländlichen Raum erlebe ich das schwieriger. Man weiß vieles voneinander, redet, wenn, dann unter vorgehaltener Hand darüber, möchte keinen Ärger haben oder sich gar gegenseitig schaden. Und wenn in der Nachbarschaft so eine Art Duldung stattfindet, dann ist Schule eben der einzige neutrale Ort, ein wichtiger Schutzraum für Kinder und Jugendliche.

Bei sexueller Gewalt handelt es sich um ein gewaltiges und schweres Thema, das Lehrkräfte stark fordert. Da geht es unter Umständen um Haltungsänderungen und Rollenklärungen. Es kann zu Befindlichkeiten kommen und Abwehr. Es gehört zu unserer Profession als Pädagogeninnen und Pädagogen, mit belastenden Themen umgehen zu müssen. Dennoch ist es eine Herausforderung, wenn wir von Einzelschicksalen erfahren. Wir müssen sensibel und empathisch sein und gleichzeitig die nötige Distanz finden, um am nächsten Tag wieder gut in die Schule gehen zu können.

Schule hat nicht per se Unterstützungssysteme, wie es sie in der sozialen Arbeit gibt. Lehrkräfte sind auf sich alleine gestellt und müssen sehen, wie sie mit der Selbstfürsorge zurechtkommen. Auf dem Weg zum Schutzkonzept muss man Zeit für kritische Fragen und Unterbrechungen, für Reflexionsprozesse und auch praktische Elemente einplanen. Es war enorm beeindruckend, wenn Frau Sartingen Themen mit Übungen verdeutlichte.

Sie hat uns zum Beispiel das Thema Grenzüberschreitung veranschaulicht, indem sie uns aufeinander zugehen ließ, um zu erleben, ab wann die Nähe unangenehm ist. Interessant war auch eine Übung zur Einschätzung von sexualisiertem Verhalten, sexuellem Übergriff, sexuellem Missbrauch. Frau Sartingen schilderte Situationen, und wir sollten uns zu Begriffen aufstellen. Schnell wurde klar, wie unterschiedlich die Sichtweisen sind. Anschließend informierte sie über die tatsächliche juristische Sachlage. Das war sehr hilfreich.

Bei Ihren Schilderungen wird klar, wie sehr Sie die Begleitung und Fachberatung wertschätzten. Jetzt werden die Infomappen zu „Schule gegen sexuelle Gewalt“ und Hinweise, wie ein Schutzkonzept entwickelt werden kann, an alle Schulen geschickt. Können Sie sich vorstellen, dass Schulen so einen Weg alleine bewältigen?

Betz: Die erste Voraussetzung ist, dass Schulleitungen sich des Themas annehmen. Ohne die Akzeptanz der Schulleitung ist die Tür zu, denn das Team muss gemeinsam auf den Weg gehen und die Schulkultur entsprechend weiterentwickeln. Meiner Ansicht nach geht es nicht ohne eine Fachbegleitung, die über Fakten und Konsequenzen Bescheid weiß und sich mit Hilfsinstitutionen auskennt.

Es war für mich auch unheimlich unterstützend, dass Frau Sartingen, ohne Druck zu machen, ab und zu mal nachfragte: „Ist das auf den Weg gebracht? Brauchen Sie noch Hilfe?“ Die Gefahr ist groß, vom Alltag überrollt zu werden, gerade wenn es zu diesem Thema noch keine Berührungspunkte oder Fortbildungen gab. Es ist sehr schwer, wenn sich eine Schulleitung und ein Kollegium das selbst erarbeiten müssen, vor allem wenn es um die Intervention geht.

Wenn ein Fall von sexueller Gewalt bekannt wird, kommt als erste Reaktion, dass sofort die Polizei eingeschaltet werden muss. So eine Entscheidung wird oft aus Hilflosigkeit heraus getroffen und ist nicht mehr rückgängig zu machen. Dem Opferschutz dient sie in der Regel nicht. So schlimm ein Fall sein kann, die Tat muss in Relation gesetzt werden. Das Kind hat über Monate, möglicherweise Jahre in einer schwierigen Situation gelebt. Und jetzt ist es wichtig, Fachleute hinzuzuziehen, zu schauen welches Unterstützungssystem greift und dann zu handeln, wenn man wirklich weiß, wie man das Kind lösungsorientiert und nachhaltig unterstützen kann. Das kann man sich nicht anlesen. Darüber muss man sprechen, um es zu verstehen und dafür braucht eine Schule Zeit und fachliche Begleitung.

„Kolleginnen und Kollegen zögern oft, weil schon wieder etwas zusätzlich gemacht werden soll. Und so ein intensiver Prozess braucht Zeit, speziell wenn er professionell begleitet wird, aber der Nutzen, den ich aus dieser Zeit ziehe, ist enorm groß.“ (Frauke Betz)

Wie geht es nun weiter? Wie können Sie im Schulalltag das Thema im Bewusstsein behalten?

Betz: Unser Konzept wird nun umgesetzt und es geht darum, die Ergebnisse am Leben zu erhalten und weiterzuentwickeln. Wir haben beschlossen, im Herbst eine Projektwoche zur Prävention und Persönlichkeitsstärkung durchzuführen. Ziel ist, diese Woche fest zu installieren und mit dem Gewaltpräventionskonzept „stark.stärker.WIR“ zu einem Gesamtpräventionskonzept zusammenzuführen.  

Wenn Sie zurückblicken, würden Sie etwas anders machen? Was würden Sie interessierten Schulen mit auf den Weg geben?

Betz: Unser Projekt war eine gelungene Angelegenheit, dennoch gibt es zwei Aspekte, die ich anders machen würde. Erstens würde ich von Anfang an die Eltern in die Steuerungsgruppe einbeziehen, sodass die Kommunikation direkt und nicht über die Schulleitung erfolgt. So können Fragen und Positionen unmittelbar eingebracht werden.

Zum andern würde ich den Schulträger, die Kommune, von Anfang an und nicht erst gegen Ende des Projekts informieren. Der Träger ist zum Beispiel verantwortlich für Räume, die bei Fragen der Prävention eine Rolle spielen. Außerdem stellt er eine Brücke in den Ortschafts- oder Gemeinderat dar und dort entstehen die gleichen Fragen wie unter den Kolleginnen und Kollegen. „Ist sexuelle Gewalt ein Thema bei uns?“ Auch dort sollten die wichtigen Informationen ankommen.

Ein letzter Gedanke ist mir wichtig. Kolleginnen und Kollegen zögern oft, weil schon wieder etwas zusätzlich gemacht werden soll. Und so ein intensiver Prozess braucht Zeit, speziell wenn er professionell begleitet wird, aber der Nutzen, den ich aus dieser Zeit ziehe, ist enorm groß.

Meine Handlungsfähigkeit wird erweitert, die Kolleginnen und Kollegen und ich sind entlastet, wenn wir besser mit schwierigen Situationen umgehen können. Wir haben einen Bildungs- und Erziehungsauftrag, und Schule ist ein Abbild der Gesellschaft, und wir müssen abwägen, wo gehen wir auch mal schwerpunktmäßig unserem Erziehungsauftrag nach, damit Kinder sich wohlfühlen und gerne in die Schule kommen.

Kontakt
Heike Herrmann
Referentin für Jugendhilfe und Sozialarbeit
Telefon:  0711 21030-23