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Platz gab es für alle

In Vorbereitungsklassen sollen geflüchtete Kinder und Jugendliche erst einmal Deutsch lernen. Keine leichte Aufgabe für die Lehrkräfte, da die Kinder unterschiedlich alt sind, unterschiedliche Vorkenntnisse haben und aus vielen Kulturen dieser Welt stammen. In der Jörg-Ratgeb-Schule in Stuttgart unterrichtet Julika Volz eine solche Klasse. Sie plädiert für mehr Lehrkräfte.

Vorbereitungsklassen (VKL) sind mittlerweile besser bekannt unter dem Namen Willkommensklassen oder Flüchtlingsklassen. Dabei sitzen in diesen Klassen nicht nur Flüchtlinge. Zum Beispiel in der Jörg-Ratgeb-Schule in Stuttgart Neugereut kommt eine bunte Mischung an Schüler/innen zusammen: Neben Flüchtlingen aus dem Irak und aus Syrien, die Asyl bekommen werden, sitzen junge Tänzer/innen der John-Cranko-Ballettschule aus vielen Ländern dieser Welt, die vormittags eine VKL besuchen und nachmittags vier Stunden Tanztraining haben. Hinzu kommen Jugendliche, die mit ihrer Familie aus einem EU-Land nach Deutschland kamen, mit der Hoffnung, Arbeit zu finden und natürlich auch Jugendliche, die wahrscheinlich nicht in Deutschland bleiben werden, aus Albanien, Nigeria, Sri Lanka. Der Junge aus Albanien weiß, dass er bald abgeschoben wird. „Ich will, dass diese Schüler/innen, solange sie bei mir sind und egal, wo auf der Welt sie später sein werden, eine gute Bildung erhalten“, sagt Julika Volz, die Klassenlehrerin, „aber ich bin mir bewusst, dass ich nicht alle retten kann.“ Manche werden zurück müssen, manche werden es schwer haben, in Deutschland Fuß zu fassen, manche werden es schaffen.


Im Unterricht spricht die Lehrerin jedes Wort sehr deutlich aus. „Letzte Woche haben wir einen Ausflug gemacht, wo waren wir?“, fragt sie die Klasse. „Schloßplatz“, „Staatsgalerie“, „Theater“, sagen die Schüler/innen. Ganze Sätze bilden sie nicht und schon an den einzelnen Wörtern erkennt man unterschiedliche Akzente. Sie sprechen leise und schüchtern, sind noch unsicher mit der neuen Sprache. Die 12 Mädchen und 8 Jungen sind zwischen 12 und 15 Jahren. Wenn die Älteren nicht innerhalb eines Jahres Deutsch lernen und in eine Regelklasse wechseln können, wird es unangenehm für sie. Die Zeit wird knapper, in der sie einen Schulabschluss machen können, sie werden älter als ihre Klassenkameraden sein und es später auf dem Arbeitsmarkt nicht leicht haben. Besonders für die arabischen Jungen wird das eine große Herausforderung. Sie müssen erst die lateinische Ausgangsschrift lernen. „Ein Glück, dass zwei ehrenamtliche Helferinnen für drei Stunden kommen und mit einem Übungsbuch aus der Grundschule schreiben lernen. Sonst würden wir das nicht schaffen“, sagt Julika Volz.


Die geflüchteten Schüler/innen der Klasse wohnen in der Asylunterkunft in der Nähe. Anfang des Schuljahres standen die Familien plötzlich in den Fluren der Schule. Nach einem Erstgespräch wurden die Kinder eingeschult. Manche haben nicht einmal einen Pass. Aber das spielt in der Schule keine Rolle. Platz gab es für alle. In Julika Volz‘ Klasse sind nun 20 Schüler/innen ohne Deutschkenntnisse. „Das ist mir recht so. Ich schaue, dass ich am Anfang die Klasse voll kriege, damit es nicht zu viel Wechsel innerhalb des Schuljahres gibt“, erklärt sie. Trotzdem geht ein guter Schüler auch mal früher und natürlich kommen Geflüchtete auch während des Schuljahrs dazu.
Deutsch zu verstehen, fällt den Schüler/-innen offensichtlich schon leicht. Bei der anschließenden Hörübung lauschen sie einer Aufnahme und sollen Fragen dazu beantworten. Viele Finger strecken in die Höhe. Danach schreiben sie die Vokabeln in ihr Heft schlagen in ihren Wörterbüchern die Übersetzung nach. Die Lehrerin läuft umher, kontrolliert, dass alle arbeiten, hilft dem einen oder anderen, ermahnt diejenigen, die leise auf Englisch, Italienisch oder Rumänisch tuscheln. Einer fragt brüchig: „Was machen?“. Nicht alle haben ein Wörterbuch, dem Jungen aus Sri Lanka fehlt eines für Tamilisch. Die Jungen aus Syrien und dem Irak haben seit kurzem ihr arabisches Wörterbuch. „Die sind ganz stolz, seit sie ihr eigenes haben und vor allem sind sie stolz, dass es auch so groß und dick ist, wie die anderen Wörterbücher“, erzählt die Lehrerin schmunzelnd. Auch einem jesidischen Kurden fehlt ein geeignetes Nachschlagewerk. „Wir dachten, er kann vielleicht auch arabisch, aber das ist nicht so“, sagt Julika Volz.


Jugendliche streiten in dieser wie in jeder anderen Klasse auch. Manchmal fließen die Konflikte dieser Erde in ihre Streits mit ein. Dann geht es auch mal darum, wer der bessere Flüchtling ist, oder die Emotionen kochen hoch, wenn es ein Fußballspiel zwischen Serbien und Kroatien gibt. „Da muss man höllisch aufpassen. Das darf man auf keinen Fall unterbewerten, aber auch keinesfalls überbewerten“, sagt Julika Volz. Sie versucht nicht, jeden Konflikt zu verstehen, sondern trennt die Streithähne und pocht auf die Umsetzung klarer Regeln in ihrem Klassenzimmer.
Ob ein Schüler, eine Schülerin leicht Deutsch lernt oder sich sehr schwer tut, liegt nach Einschätzung der Lehrerin vor allem an der Schulbildung, die sie im Heimatland erfahren haben. „In einer Vorbereitungsklasse muss man natürlich differenziert unterrichten. Die Schüler/-
innen sind unterschiedlich alt und kommen mit völlig verschiedenen Vorbildungen“, sagt Julika Volz. Sie plädiert dafür, dass die Vorbereitungsschüler/innen stundenweise in die Regelklassen gehen. In Mathe beispielsweise sei das auch ohne umfassende Deutschkenntnisse machbar. Und auch Fächer, in denen sie praktisch tätig werden, seien sehr wichtig. Momentan besuchen die Schüler/innen den Unterricht in Kunst und Kochen. Dort lernen sie einen großen Wortschatz dazu. Deshalb sei eine große Schule wie ihre, die diese Möglichkeiten biete, gut für die Jugendlichen. In der Jörg-Ratgeb-Schule sind Werkreal-, Realschule und Gymnasium unter einem Dach. Julika Volz kann ihre Schüler/innen in Regelklassen weitervermitteln. „Am besten wäre natürlich eine Gemeinschaftsschule. Und richtig aufpassen müssen wir, dass aus den Werkrealschulen keine ausschließlichen Migrantenschulen werden. Diese Schüler und Schülerinnen haben keine Lobby, die das zu verhindern weiß. Wir haben jetzt eine Notsituation und es besteht die Gefahr, dass dieser Notmodus dauerhaft aufrechterhalten wird“, befürchtet sie.


Julika Volz sorgt sich auch um die Zukunft ihrer Schüler/innen. „Die Willkommenskultur ist schön, aber sie schafft keine Arbeitsplätze.“ Sie kritisiert Fehler der internationalen Politik, deutsche Waffenlieferungen und die Ungleichheit des wirtschaftlichen Wettbewerbs in Europa. „Es ist zum Verzweifeln, aber ich kann diese Fehler hier nicht ausbügeln. Meine Lebenserfahrung hilft mir, dass ich mich nicht verrückt machen lasse. Ich freue mich über Erfolge, aber ich akzeptiere auch, wenn ich einem Schüler oder einer Schülerin nicht helfen kann.“ Eine gewisse Gelassenheit empfiehlt sie auch ihren jungen Kolleg/innen. Ein Austausch zwischen erfahrenen und unerfahrenen Kolleg/innen sei hilfreich, dabei könnten Fortbildung sicher helfen, aber letztlich ist aus ihrer Sicht nur eines wirklich notwendig: Mehr Lehrkräfte. An ihrer Schule sind sie häufig unterbesetzt. Ausfälle wegen Krankheit können nicht aufgefangen werden. Der Kunstunterricht für die Vorbereitungsklasse konnte beispielsweise mehrere Wochen nicht stattfinden. Dabei gebe es aus ihrer Sicht eine einfache Lösung: „Alle ausgebildeten Lehrer und Lehrerinnen sofort einstellen.“