Stresssymptome, die sich durch Gereiztheit, Unruhe, Aggressivität bis hin zu psychosomatischen Erkrankungen äußern, sind bei Kindern und Jugendlichen keine Seltenheit mehr. Viele Studien belegen diese Entwicklung und auch die Beschäftigten in der Praxis spüren das.
Sozialarbeiterin Andrea Hopf*, die seit fast zwei Jahrzehnten an einem beruflichen Bildungszentrum arbeitet, hat erlebt, dass Jugendliche sehr unterschiedlich mit Druck umgehen: „Auf der einen Seite gibt es immer mehr Schulverweigerer. Manche verweigern nur passiv, indem sie gedanklich aus dem Unterrichtsgeschehen aussteigen, andere verweigern aktiv und kommen gar nicht mehr zur Schule. Auf der anderen Seite gibt es Schüler/innen, die versuchen, in immer kürzerer Zeit noch leistungsstärker zu werden. Beide Wege führen meiner Meinung nach zu keiner gesunden Entwicklung: Die einen werden zu Bildungsverlierer/innen, die anderen erbringen zwar Leistung, laufen aber Gefahr, dass ihre emotionale und soziale Entwicklung auf der Strecke bleibt.“
Die erste Gruppe erlebt Andrea Hopf vermehrt an dem beruflichen Gymnasium im Zweig Sozialwesen. Wegen der großen Nachfrage werden dort nur die Schüler/innen mit den besten Noten aufgenommen. Deshalb dominiere dort inzwischen ein Klima von Stress und Konkurrenz. „Das macht die Schüler/innen krank. In diesem Schuljahr waren schon fünf aus nur einer Klasse bei mir in Beratung. Eine Schülerin hat bereits Burnout. Das hat auch Konsequenzen für das Arbeitsfeld der sozialen Berufe, auf das sich diese Schüler/innen vorbereiten“, berichtet Hopf.
Umgang mit Zeit hinterfragen
Zeit ist ein dominierender Faktor in der Schule. Schulsozialarbeiter Berthold Ensinger* sieht darin eine große Gefahr. Er arbeitet in einem großen Schulverbund mit Gemeinschaftsschule, Realschule, Werkrealschule und Gymnasium und nimmt wahr, dass Schüler/innen den Lernstoff in immer kürzerer Zeit konsumieren müssen, um erfolgreich zu sein. „Mir fällt auch auf, dass Lehrkräfte, die ich sehr schätze, die Normen und damit den Zeitdruck des G8 unreflektiert übernommen haben und ihre Leistung darüber definieren, dass ihre Schüler/innen in diesem System funktionieren. Dass Kinder und Jugendliche unterschiedlich sind und entsprechend mehr oder weniger Zeit brauchen, um sich zu entwickeln, steht nicht mehr zur Debatte“, kritisiert er den Umgang mit der Zeit.
Schulsozialarbeiter/innen haben häufig Schwierigkeiten, ihre Arbeit in dem engen Zeitkonzept von Schulen ausüben. Vielen verschiedenen Problemlagen und Anforderungen kommen sie in der Hektik des Schulalltags kaum hinterher. Viel zu oft gibt es Probleme, in denen sie prompt reagieren müssen. Die Mitgestaltung des Schulalltags gerade im Hinblick auf präventive Aspekte und Schulentwicklung kommt deshalb mancherorts zu kurz.
Auch Schulsozialarbeiterin Carina Cortese* nimmt die Zeitkultur an ihrer Grundschule negativ wahr: „Noch immer bestimmen Unterrichtseinheiten und der Pausengong den Takt in der Schule und alle sollen sich danach richten, auch die Schulsozialarbeit.“ Die Kinder kämen mit ihren Problemen in den fünf Minuten Pausen zu ihr und danach sollten sie wieder dem Unterricht Priorität einräumen. „Diese Haltung ist doch absurd“, sagt Cortese. „Meiner Ansicht nach ist es höchste Zeit, an unseren Schulen den Umgang mit der Zeit zu hinterfragen.“
Auch persönlich leiden viele Schulsozialarbeiter/innen unter dem zeitlichen Rhythmus von Schule. Sie sind häufig Mitarbeiter/innen bei Trägern der Jugendhilfe. Ferienzeiten können sie mit der Urlaubsregelung in außerschulischer Trägerschaft nicht abdecken. Aus diesem Grund erhalten viele Schulsozialarbeiter/innen keine Vollzeitstelle: Sie arbeiten Vollzeit während der Schulzeit und haben die Ferien frei, dafür beziehen sie das Gehalt einer 3/4-Stelle. Diejenigen mit Vollzeitstellen sollen häufig während der Schulzeit Mehrarbeit leisten, um die Ferienzeiten ausgleichen zu können. Die GEW vertritt die Ansicht, dass sich die Arbeitszeit nach den Regelungen des Jugendhilfeträgers richten sollte. Dann können Kinder und Jugendliche auch beraten und begleitet werden, wenn Schulferien sind. Ferienzeiten bieten Schulsozialarbeiter/innen außerdem die Möglichkeit, in Ruhe administrative Aufgaben zu erledigen, Jahresberichte zu erstellen, Projekte zu planen und auszuwerten. Zu diesen wichtigen Aufgaben kommen die Mitarbeiter/innen während der Schulzeit kaum, denn die meisten sind für Hunderte von Schüler/innen zuständig.
Entschleunigung würde allen gut tun
Der 14. Kinder- und Jugendhilfebericht beschreibt, dass Kindheit zunehmend institutionalisiert wird, Kinder stetig unter Aufsicht sind und permanent beschäftigt werden. Dabei brauchen Kinder Zeit, zu spielen und sich zu entwickeln, sie brauchen Freiräume. Sie müssen einen eigenen Umgang mit der Zeit finden. Ganztagsschulen können dabei als Chance verstanden werden, sich mehr an den Bedürfnissen der Kinder als an Stundenplänen zu orientieren.
„Ich sehe uns Mitarbeiter/innen aus Schule und Jugendhilfe in der Verantwortung, Kinder und Jugendliche auf die veränderten gesellschaftlichen Anforderungen vorzubereiten und sie zu stärken“, sagt Schulsozialarbeiterin Daniela Stuhr*, die an einer Grund- Haupt- und Werk-realschule arbeitet. „Wir sollten uns bewusst machen, dass heutzutage Schlüsselqualifikationen wie Sozialkompetenz und Zeitkompetenz von essentieller Bedeutung sind. Die Arbeit in der Schule zu entschleunigen wäre für alle entlastend, nicht nur für Kinder und Jugendliche, auch für Lehrer/innen, Schulsozialarbeit und Eltern. Diese Sichtweise in die Schule mit einzubringen, sehe ich als eine wichtig Aufgabe und eine der größten Herausforderungen der Schulsozialarbeit.“
Für manche Kinder und Jugendliche geht der Zeitdruck auch nach der Schule weiter. Es gibt Schüler/innen, die schon von der Grundschule an mit Musik- und Ballettstunden, Fußballtraining, Nachhilfestunden und Hausaufgaben in ein enges Freizeitkorsett gepackt werden. „Das kann für den einen oder anderen schon Stress bedeuten“, weiß Berthold Ensinger, „Oft entsteht daraus noch ein anderes Problem: Kinder und Jugendliche mit fest vorgegebenen Strukturen in Schule und Freizeit bleiben ohne Vorstellung hinsichtlich ihrer Berufs- und Lebensplanung. Viele legen auch keinerlei Bemühen an den Tag, das zu verändern, als ob sie die Verantwortung für ihr Leben abgegeben hätten.“
Diese Kinder leiden unter dem Stress, der durch die ständige Beschleunigung entsteht. Andere kommen nicht mehr hinterher und bleiben sich selbst überlassen. Zeitkultur in der Schule sollte so gestaltet sein, dass alle Kinder teilhaben und sich frei entwickeln können.
*Alle Namen in diesem Beitrag wurden von der Redaktion geändert.
Probleme enden nicht mit dem Gong
Der Zeitdruck in Schulen hat zugenommen. Nicht zu kurz kommen dürfen bei all der schulischen Hektik die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen. Die Schulsozialarbeit hadert mit den Taktzeiten der Schule, denn in der Pause lassen sich nicht alle Probleme lösen.