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Realschule ab 2016 auch mit Bildungsgang Hauptschule

Die Landesregierung unterstützt die Realschulen mit zusätzlichen Poolstunden und einem neuen pädagogischen Konzept. Mit dem Hauptschulabschluss an der Realschule kann verhindert werden, dass die Abgängerzahlen ohne Abschluss weiter steigt.

Im Schuljahr 2014/15 wurden 7.500 Schülerinnen und Schüler mit Hauptschulempfehlung an Realschulen angemeldet. Das sind genauso viele wie an den langsam aussterbenden Haupt- und Werkrealschulen. Gleichzeitig verliert die Realschule in Klasse 8 Leistungsträger an das neue 6-jährige berufliche Gymnasium und muss immer mehr Schüler/innen aufnehmen, die an den allgemeinbildenden Gymnasien scheitern. Riesig sind die regionalen Unterschiede. Wenn etwa in den Universitätsstädten und Großstädten 60 bis 80 Prozent der Viertklässler/innen aufs Gymnasium wechseln, bleiben der Realschule nur noch jene 20 bis 25 Prozent der Schüler/innen, die die Bildungsforschung als Risikogruppe einstuft. Hier wird die Realschule auch von den meisten Kindern mit Migrationshintergrund bevorzugt und hat zunehmend die Rolle der Hauptschule übernommen. In ländlicheren Gebieten ist die Realschule dagegen häufig noch die erste Wahl für das mittlere Schülersegment.

Auf diese Veränderungen reagieren die Realschulen mit zunehmender Differenzierung des Unterrichts. Sie beklagten bisher aber zu Recht fehlende zusätzliche Poolstunden, wie es sie an Hauptschule und Gymnasium gibt. Die früheren CDU/FDP-Landesregierungen haben sie ihnen stets verweigert. Die GEW hat schon seit langem auf die zunehmende Heterogenität an den Realschulen hingewiesen und gefordert, dass Förderressourcen nicht an Schularten gebunden, sondern dem Bedarf und den Schüler/innen folgen müssten. Anders die „Standesvertreter“ der Realschule. Sie haben solche Forderungen nicht offen unterstützt – wohl um nach außen das Image als problemloseste Schulart nicht zu gefährden. Vor allem in den Ballungsräumen machen sich Realschulen zunehmend auf den Weg zur Gemeinschaftsschule, um deren Rahmen für ein verändertes Lernen nutzen zu können. Das Angebot eines gymnasialen Niveaus und des Abiturs bietet die Chance, für Schüler/innen mit hoher Leistungsbereitschaft attraktiv zu bleiben. Die meisten Realschulen sind aber noch nicht bereit, diesen Weg zu gehen. Ihnen soll das neue Realschulkonzept der Landesregierung bei der Anpassung an die veränderte Schülerzusammensetzung helfen.

Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung der Realschulen

Anfang Mai gab das Kultusministerium eine Änderung des Schulgesetzes in die Anhörung, die vor allem die Realschulen betrifft. Die Ziele der Realschule werden in §7 Schulgesetz erweitert. Neben dem vorrangigen mittleren Niveau („erweiterte allgemeine Bildung“) vermittelt sie auch das Niveau der Hauptschule („grundlegende Bildung“). Starten soll das neue Konzept ab dem Schuljahr 2016/17. Nach einer Orientierungsstufe in Klasse 5 und 6 ohne Versetzungsentscheidung nach Klasse 5 führt die Realschule ihre Schüler/innen „in einem gemeinsamen Bildungsgang“ zu diesen Zielen. Dies bedeutet, dass die Schüler/innen ab Klasse 7 entweder dem Bildungsniveau der Hauptschule oder dem der Realschule zugewiesen werden. Diesen unterschiedlichen Niveaus soll „vor allem durch individuelle Förderung in binnendifferenzierender Form“ entsprochen werden. Getrennte Hauptschul- und Realschulzüge sind ausgeschlossen. Ein Wechsel der Bildungsniveaus ist zum jeweiligen Schulhalbjahr möglich. Die Versetzung erfolgt auf der Grundlage der jeweiligen Niveaus und der entsprechenden Versetzungsordnung. Am Ende der 10. Klasse können die Schüler/innen den Realschulabschluss, am Ende des 9. Schuljahrs den Hauptschulabschluss erwerben. Von einem „Kurssystem in den Klassen 7 und 8“ spricht das Ministerium in der Begründung.
Im Landesschulbeirat erläuterte Rudolf Dieterle als zuständiger Referatsleiter im KM, dass in Klasse 9 getrennte Klassen für G-Niveau und M-Niveau gebildet werden könnten, wenn genügend Schüler/innen vorhanden seien. In den Klassen 7 und 8 sei eine äußere Differenzierung nur in höchstens 50 Prozent der Stunden in Deutsch, Mathematik und Englisch zulässig. Damit ist der Kultusminister den Forderungen von CDU, FDP und Teilen der SPD nach leistungsbezogenen Klassen nur teilweise entgegengekommen. Sicher nicht nur aus pädagogischen, sondern auch aus praktischen Gründen: angesichts der sinkenden Akzeptanz eines unteren Bildungsgangs wären Hauptschulklassen an den Realschulen kaum zuverlässig planbar.
Zudem haben sich zu Zeiten der früheren Landesregierung solche abschlussbezogenen Klassen an den Werkrealschulen – wo sie anfangs ab Klasse 8 möglich waren – nicht bewährt. Sie wurden nach negativen Erfahrungen von den Schulen selbst eingestellt. Damals verfügte die Werkrealschule über ein Schülerspektrum, das dem der meisten heutigen Realschulen entspricht. Insofern wäre es fatal, wenn heute die gleichen Fehler wieder gemacht würden. Die Hauptschul-Klassen wurden an den Werkrealschulen als Abstieg empfunden, wirkten demotivierend und konnten nicht zu einer besseren Förderung und zu besseren Leistungen beitragen. Das galt auch für die Klassen mit dem Ziel des mittleren Bildungsabschlusses.

Wahl des Niveaus oder Zuweisung?

Nach der Schulgesetzänderung besteht noch erheblicher untergesetzlicher Regelungsbedarf. So muss das Ministerium entscheiden, ob Eltern und Schüler/innen nach Klasse 6 das Bildungsniveau wählen können – wie nach Klasse 4 –, oder ob es wie früher bei der verpflichtenden Grundschulempfehlung eine Zuweisung durch die Klassenkonferenz auf der Grundlage von Noten gibt. Die Erfahrungen aus Grund- und Werkrealschulen zeigen allerdings, dass eine Zwangszuweisung nicht nur das Klima an der Schule und das Vertrauensverhältnis Lehrkraft-Schüler/in erheblich belastet. Auf Dauer ist sie kaum zu halten, da sie das veränderte Rechtsempfinden der Eltern massiv verletzt.
Geregelt werden müssen auch der Wechsel zwischen den Niveaus zum Schulhalbjahr und die Versetzungsordnung. Hier wird zu klären sein, ob eine Wiederholung auf M-Niveau möglich ist oder eine Nichtversetzung automatisch eine Zuweisung zum G-Niveau bewirkt.

Ressourcen und Fortbildung

Die Förderressourcen der Realschule sind von der grün-roten Landesregierung bereits auf 2,5 Wochenstunden je Zug angehoben worden. Für die Einführung des Kurssystems erhalten die Realschulen ab 2015/16 sechs Poolstunden oder 209 Deputate, bis 2018/19 sollen es insgesamt 10 Stunden werden. Dafür sind weitere 109 Deputate erforderlich. Diese Zeit für die individuelle Förderung der Schüler/innen entspräche dem Niveau der Hauptschule. Die Landesregierung erfüllt so die Forderung der GEW, dass die Förderressourcen den Schüler/innen folgen müssen. Weitere 35 Deputate sind (als Anrechnung) für die Fortbildung der Lehrkräfte vorgesehen. Eine Fortbildungsoffensive soll es auch für die abschlussbezogenen Bildungspläne und Prüfungen geben. Hierfür sind bis zu 31 Deputate eingeplant.

E-Niveau an Realschulen?
Ein zentraler Unterschied zur Gemeinschaftsschule wird künftig sein, dass das gymnasiale E-Niveau an Realschulen nicht angeboten wird; Zertifizierung, Versetzungen und Prüfungen erfolgen allein auf G- und M-Niveau. Schulen antworten auf entsprechende Elternanfragen, dass es „der neue Bildungsplan Lehrerinnen und Lehrern erleichtern wird, sehr leistungsstarken Realschüler/innen Lernangebote auch auf erweitertem Niveau zu machen, um sie damit in ihrer Lernentwicklung individuell zu fördern.“ Dies wird jedoch von vielen Seiten als ungenügend angesehen, auch mit Hinweis darauf, dass sonst der Realschule Schüler/innen mit Gymnasialniveau verloren gingen. Das Realschulkonzept ist an diesem Punkt inkonsequent und bleibt auf halbem Weg stehen, vor allem deshalb, weil die Realschule Realschule bleiben soll, die eben zum Realschulabschluss führt. „Wenn sie jetzt alles wie die Gemeinschaftsschule dürfte, was würde sie unterscheiden?“, bemerkte Dieterle dazu. Dies klingt richtig, wenn man sich nicht dem Vorwurf von konservativer Seite aussetzen will, man mache die Realschule heimlich zur Gemeinschaftsschule. Im Sinne der Schüler/innen ist der Verzicht auf das E-Niveau sicher nicht. Klar ist jedenfalls, dass eine gleichzeitige Einführung des E-Niveaus mit der Hauptschulabschlussprüfung eine weitere erhebliche Belastung der betroffenen Lehrkräfte bedeutend würde. Offen bleibt auch, wie die drei Niveaus ohne Ganztagesangebot in der traditionellen Organisationsstruktur der Realschule angeboten werden können. Sinnvoll wäre die Aufnahme des E-Niveaus nur aus der pädagogischen Initiative einer Schule heraus,  die ihr Lernkonzept weiterentwickeln möchte. Dann aber wäre es fatal, wenn die Schulverwaltung eine pädagogisch sinnvolle und notwendige Entwicklung blockieren würde. Mit einem pädagogischen Konzept sollten Realschulen auf Antrag als Schulversuch die Möglichkeit haben, weitere Elemente der Gemeinschaftsschule aufzugreifen. So könnten sie das E-Niveau anbieten und dabei gymnasiale Lehrkräfte einsetzen.
Völlig inkonsequent sind die erzreaktionären Vorwürfe, das neue Realschulkonzept sei ein „trojanisches Pferd“, das die Realschulen heimlich zu Gemeinschaftsschulen umwandle – und dann eben dieses E-Niveau zu fordern, d.h. einen entscheidenden Unterschied zur Gemeinschaftsschule beseitigen zu wollen.

Konsequenzen für Hauptschulen

Das neue Realschulkonzept wird die Schließung der Haupt- und Werkrealschulen beschleunigen. Künftig reicht eine Realschule in zumutbarer Entfernung aus, um das Angebot eines Hauptschulabschlusses vorzuhalten. Gibt es vor Ort eine Realschule, wird es kaum noch einen Grund geben, sich an einer Hauptschule anzumelden, zumal die Realschule ja auch noch die Option eines „richtigen“ Realschulabschlusses anbietet und über vergleichbare Förderressourcen wie die Hauptschule verfügt.
Wenn von Schulträgern und im Ministerium offen davon gesprochen wird, dass der angeblich gleichwertige Werkrealschulabschluss nur ein Abschluss auf G-Niveau (also eigentlich nur ein Hauptschulabschluss) sei, wird auch der Werkrealschulabschluss kaum noch als letzte Rechtfertigung für die Aufrechterhaltung von Werkrealschulen taugen – geschweige denn, dass so Eltern überzeugt werden können.


Die geringere soziale Selektivität der Realschule wird sie für Kinder mit Hauptschulempfehlung noch attraktiver machen. Ob sich diese Hoffnung erfüllt, hängt aber wesentlich davon ab, ob die erweiterte Heterogenität an den Realschulen nicht nur akzeptiert wird. Die Realschulen müssen auch pädagogisch stimmige Konzepte für die Bedürfnisse der leistungsschwächeren Schüler/innen entwickeln. Ein gezielter Einsatz von Hauptschullehrkräften wäre neben der pädagogisch-fachlichen Unterstützung auch eine Erleichterung für die Lehrkräfte an Realschulen, die zu Recht zusätzliche Belastungen befürchten. An den Gemeinschaftsschulen unterrichten Lehrkräfte von Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien, weil dort auf drei Abschlüsse vorbereitet wird. Mit dem neuen Realschulkonzept stellt sich die Frage, wie dort mit den unterschiedlichen Niveaus verfahren wird. Ein gemeinsamer Einsatz von Lehrkräften beider Schularten und eine sinnvolle Nutzung der unterschiedlichen Kompetenzprofile sind nicht nur bei der Vorbereitung und Durchführung der Hauptschulabschlussprüfung naheliegend. Die GEW-Forderung nach einem das pädagogische Konzept ergänzenden Personalkonzept muss endlich vom Kultusministerium aufgegriffen und von den zuständigen Abteilungen koordiniert umgesetzt werden.

Die Zahl der Schüler/innen an den Realschulen, die die Hauptschulabschlussprüfung ablegen, ist noch relativ klein (920 von ca. 40.000). Darin sind allerdings diejenigen nicht enthalten, die die Realschule ohne Abschluss verlassen müssen. Es würde den Intentionen des neuen Konzepts völlig zuwiderlaufen, wenn in der Übergangszeit, bis das ab 2016 schrittweise greifende Konzept die Klasse 9 erreicht, eine zunehmende Zahl von Schulabgängern ohne Abschluss entstünde. Sie können bisher nur die Schulfremdenprüfung an Haupt- und Werkrealschulen ablegen. Mangels pädagogischer Anbindung und Vorbereitung ist das schon bisher sehr fragwürdig und wird durch den Wegfall von Hauptschulstandorten unmöglich.
Das Ministerium hat bisher nur angekündigt, die Entwicklung zu beobachten, da weitergehende Änderungen die Realschulen überfordern würden. Das ist schwer nachzuvollziehen, zumal dem schrumpfenden Personal der Haupt- und Werkrealschulen drei Abschlussprüfungen (HS, WRS, Schulfremdenprüfung) zugemutet werden. Und das in einer Situation der Abwicklung und der Wegversetzungen, in denen häufig schon keine Fachlehrkräfte für die Prüfungsfächer mehr zur Verfügung stehen und „Wanderlehrer/innen“ ausgeliehen werden müssen.
Im Sinne der Schüler/innen kann es hier nur ein vernünftiges Vorgehen geben. Ab dem Schuljahr 2015/16 müssen die Realschulen die Hauptschulabschlussprüfung als Schulfremdenprüfung anbieten. Sie brauchen dafür die Kooperation mit erfahrenen Lehrkräften der Werkrealschulen, deren gleichberechtigte Einbeziehung ab Klasse 5 nicht zuletzt im Interesse einer Entlastung der Kolleg/innen der Realschulen läge.

Fazit
Wirklich zukunftsfähige Möglichkeiten haben die Realschulen nur, wenn sie sich zu Gemeinschaftsschulen umwandeln, die nicht nur alle Abschlüssen anbieten, sondern auch das erforderliche pädagogische Instrumentarium entwickeln können. Gerade umgewandelte Realschulen sind als Gemeinschaftsschulen für Eltern attraktiv und haben große Chancen, eine gymnasiale Oberstufe anzubieten.