Interview
„Reformansprüche an das ganze Schulsystem werden aufs Gymnasium projiziert“
Michael Hirn sprach mit Professor Thorsten Bohl von der Universität Tübingen über die Verlängerung des Gymnasiums, das Gutachten des Bürgerforums zu G8 / G9 und die notwendige Weiterentwicklung des Schulsystems.
Herr Bohl, in Baden-Württemberg wird seit geraumer Zeit über das achtjährige Gymnasium diskutiert, nicht zuletzt nach dem erfolgreichen Volksantrag „G9 jetzt“ einer Elterninitiative. Verstehen Sie das Interesse der beteiligten Eltern, die Lernzeit im Gymnasium zu verlängern?
Thorsten Bohl: Natürlich, das ist sehr verständlich. Die Belastung am achtjährigen Gymnasium im Alltag durch Hausaufgaben, Klausuren und Prüfungsvorbereitung ist hoch. Ein Weg zum Abitur, der mehr Freizeit und mehr Lernzeit verspricht, ist attraktiv.
Wie sehen Sie die Entscheidung der Landesregierung, einen Bürgerdialog zum Thema G8 / G9 zu führen? Sind Sie mit den Ergebnissen zufrieden? Was hat Sie überrascht?
Bohl: Das gesamte Verfahren ist aus meiner Sicht zwiespältig und lässt sich nicht pauschal bewerten. Einerseits ist es in einer Demokratie wichtig, die Bürgerinnen und Bürger zu beteiligen. Der Bürgerdialog ist ein ausgeklügeltes, transparentes, professionell durchgeführtes Verfahren, das versucht, einen repräsentativen Anteil der Bevölkerung einzubeziehen. Und das Engagement der beteiligten Bürgerinnen und Bürger und der Grad der Differenziertheit, mit der das Thema angegangen wurde, sind bemerkenswert. Aber würde man in der Medizin oder in Juristik bei grundlegenden Strukturentscheidungen Expert*innen nicht wesentlich stärker einbeziehen? Oder warum wird ein Bürgerforum zur Frage G8 oder G9 eingerichtet und nicht zur Gesamtstrukturierung des Bildungssystems?
Die Antwort des Bürgerforums war ja vorhersehbar. Wer spricht sich schon gegen mehr Lernzeit und gegen mehr Freizeit aus? Dass die Entscheidung pro G9 fallen würde, war klar. Das Problem ist jetzt Folgendes: G9 wird sozusagen gesetzt, und von hier aus wird dann mit Blick auf das Schulsystem im Gutachten punktuell und nur bedingt kohärent weitergedacht. Das Bürgerforum hat versucht, auf diese Problematik hinzuweisen. Die Folgen für die anderen Schularten sollen vor der Einführung von G9 geprüft werden. Aber diese Empfehlung geht in der aktuellen Diskussion unter, und ich frage mich: wer macht das wie? Aus mehreren Richtungen wird Zeitdruck aufgebaut, G9 jetzt schnell einzuführen. Die Landesregierung wird massiv unter Druck gesetzt, schnell zu agieren. Wer spricht noch davon, die Folgen für die anderen Schularten zu prüfen? Und die parteipolitische Positionierung ist ja fast schon skurril.
Wie meinen Sie das?
Bohl: Die SPD führte 2012 die Gemeinschaftsschulen und später die Oberstufen an Gemeinschaftsschulen ein und fordert jetzt so schnell wie möglich ein Zurück zu G9. Wie passt das zusammen, und wo bleibt der Einsatz der ehemaligen Arbeiterpartei für benachteiligte Gruppen in dieser Frage? Die CDU hat jahrelang gegen den Begriff „Schulstruktur“ gewettert und fordert jetzt zügig eine Schulstrukturreform. Sie will zurück zur ehemaligen Dreigliedrigkeit und zu G9. Das ist perspektivlos. Wer setzt sich eigentlich angesichts der G9-Dynamik noch für die anderen Schularten und für einen kohärenten Blick auf das Gesamtsystem ein? Wer fragt sich, wie das Schulsystem der Zukunft aussieht?
Wie konnte es zu dieser Situation kommen?
Bohl: Wir schleppen uns nun seit vielen Jahren mit Teilreformen voran, und das Gesamtsystem wird immer weniger kohärent und immer komplizierter. Gedacht wird offensichtlich vor allem in Legislaturperioden. Das führt zu populistischen Maßnahmen, die nur die Zustimmung der Wähler*innen sichern oder erhöhen sollen. Anders kann ich das leider nicht formulieren.
Ist die Rückkehr zu G9 oder – wie es die GEW vorschlägt – ein G neu, der richtige Weg, um die Probleme im gymnasialen Bildungsgang zu lösen?
Bohl: Die Frage weist meines Erachtens schon in die falsche Richtung: Ich verstehe die Unzufriedenheit mit G8 sehr wohl, und da müssen wir ran. Aber Pisa 2022 hat uns gezeigt: Das primäre Problem unseres Bildungssystems liegt im unteren Leistungsdrittel. Wir reden nicht mehr vom unteren Fünftel oder Viertel wie noch vor einigen Jahren. Ein Drittel ist ein enorm großer Teil der Schülerschaft. Wir müssen dafür sorgen, dass das untere Leistungsdrittel möglichst früh grundlegende Basiskompetenzen erlernt, sonst schleppen sich die Defizite durch die Schuljahre bis in den Arbeitsmarkt hinein. Und das führt zu Frustration auf beiden Seiten: Bei den Schüler*innen, weil die Schulzeit nicht als positiv und individuell erfolgreich angesehen wird, und bei den Lehrer*innen, weil sie angesichts der Kontextbedingungen zunehmend an ihre Grenzen kommen. Das alles betrifft fast ausschließlich die nicht-gymnasialen Schularten. Marcel Helbig hat dies kürzlich so formuliert:
„Im unteren Leistungsbereich droht das Schulsystem zunehmend dysfunktional zu werden.“
Das ist der Punkt. Und das ist demokratiegefährdend. Und die Einführung von G9 trägt zur Lösung dieses Problems nichts bei. Angesichts der knappen Finanzen und des Lehrkräftemangels droht G9 für das untere Leistungsdrittel sogar kontraproduktiv zu wirken.
Nochmals zur Frage: Wie ließen sich dann die Probleme im gymnasialen Bereich lösen?
Bohl: Die Frage ist doch, wofür das Gymnasium heute steht? Historisch betrachtet hat das Gymnasium ein klar elitäres und wissenschaftspropädeutisches Profil. Ich sage es mal etwas verkürzt: Nicht alle dürfen aufs Gymnasium, wer dort ist, soll die Studienberechtigung erreichen. Davon verabschieden wir uns offensichtlich zunehmend. Das wird auch im Gutachten des Bürgerforums an einigen Stellen sehr deutlich. Allerdings wird diese Entwicklung nicht reflektiert. Das Gymnasium ist heimlich zur Volksschule geworden und soll gleichzeitig seinen elitären Charakter behalten. Das zerreißt das Gymnasium bis in den Alltag hinein. Beispielsweise zeigen dies die hohen Abgangszahlen vom Gymnasium nach Klasse 5.
Das Bürgerforum fordert deshalb neue Unterrichtsmethoden, mehr Schülerbeteiligung und sogar mehr Praxisbezug mit Handwerk, Sozialdiensten, Kunst und Kultur, Naturwissenschaften und digitalen Berufen. Das klingt doch alles sehr nachvollziehbar.
Bohl: Aber genau dieses Angebot gibt es bereits an den nicht-gymnasialen Schulen und an den beruflichen Gymnasien. Inklusive G9. Beim Gutachten des Bürgerforums habe ich immer wieder den Eindruck, dass am Ende eigentlich eine Empfehlung für eine integrierte Schulart mit G9-Zugang oder für eine Eingliedrigkeit stehen müsste. Sehr nachvollziehbare Reformansprüche an das gesamte Schulsystem werden hier auf das Gymnasium projiziert, ohne die spezifische Tradition und Charakteristik des Gymnasiums im Blick zu behalten.
Noch einmal: Es ist absolut berechtigt, den Zeit- und Leistungsdruck in G8 zu reduzieren. Das könnte unter anderem über weniger Hausaufgaben, weniger Pflichtinhalte oder über eine frühere Profilierung geschehen. Die Frage bleibt allerdings: Wie lässt sich das Spannungsfeld zwischen Entlastung und dem wissenschaftspropädeutischen und elitären Anspruch auflösen? Darauf gibt es bisher keine Antwort.
Eine Umstellung auf G9 bleibt nicht ohne Folgen für die anderen Schularten. Womit rechnen Sie?
Bohl: Eine Umstellung auf G9 würde in den nächsten ungefähr fünf bis zehn Jahren massiv Ressourcen für das Gymnasium binden. Erstens müssten die zusätzlichen Lehrkräftestellen finanziert werden. Je nach Modell wären das zwischen 500 und mehr als 3.000 Lehrkräftestellen. Zweitens müssten die zusätzlichen Räume finanziert und gebaut werden. Für die Kommunen wären das erhebliche Kosten und Kapazitäten für Baumaßnahmen, die an anderen Stellen fehlen würden. Zudem würde sich der Lehrkräftemangel auswirken: Ein Einstellungssog an Gymnasien würde voraussichtlich den Lehrkräftemangel an anderen Schularten verstärken. Bei einer Umstellung auf G9 würden die anderen Schularten einschließlich der frühkindlichen Bildung und der Grundschulen finanziell und personell schlechter ausgestattet werden. Es sei denn, das Land und die Kommunen erhöhen den Etat für den Bildungsbereich massiv. Das erscheint mir angesichts der allgemeinen öffentlichen Finanznot allerdings eine unrealistische Annahme.
Wie sehen Sie die Rolle der Grundschulen und der nicht-gymnasialen Schularten?
Bohl: Diese Schulen tragen in ganz erheblichem Maße zentrale gesellschaftliche Herausforderungen wie Inklusion, die Integration von Geflüchteten oder die Arbeit mit psychisch belasteten Kindern und Jugendlichen.
„Sie leisten damit einen sehr wichtigen Beitrag für den Zusammenhalt der Gesellschaft.“
Das betrifft den frühkindlichen Bereich, die Grundschulen und die nicht-gymnasialen Schularten im Sekundarbereich I bis hin zu den SBBZ. Diese Schularten bräuchten bereits jetzt zum Teil erheblich mehr Mittel und insbesondere Personalressourcen, um die Herausforderungen zu bewältigen. Wenn man in diese Schulen blickt, ist es wirklich bewundernswert, wie sich die Lehrerinnen und Lehrer im Alltag diesen Herausforderungen stellen.
Wie würde sich die Umstellung auf G9 auf die Zusammensetzung der Schülerschaft an den Gemeinschaftsschulen und Realschulen auswirken?
Bohl: Vermutlich würde der Anteil leistungsstärkerer Schülerinnen und Schüler an Gemeinschaftsschulen und an Realschulen zurückgehen. Dies würde noch weiter zu einer negativ selektierten Heterogenität führen. Wir wissen aus der Forschung jedoch, dass wir in heterogenen Lerngruppen eine einigermaßen ausbalancierte Schülerschaft brauchen, einschließlich circa 30 Prozent leistungsstärkerer Schülerinnen und Schüler. Anders formuliert: Die Schülerschaft an den nicht-gymnasialen Schularten würde durch G9 noch herausfordernder werden.
Nicht nur vor dem Hintergrund neuer technologischer Möglichkeiten: Wie muss sich die inhaltliche Arbeit an den Schulen verändern?
Bohl: Angetrieben von völlig neuen Möglichkeiten wie der Künstlichen Intelligenz oder der Digitalisierung müssen wir über die Frage diskutieren, was allgemeine Bildung und Wissenschaftspropädeutik heute bedeutet. Dazu zwei Beispiele: In wenigen Jahren werden wir übers Handy oder in Videokonferenzen eine nahezu perfekte Synchronübersetzung in nahezu jeder Sprache der Welt nutzen können. Auch die Prüfung der Ergebnisse generativer Intelligenz, zum Beispiel über Textproduktion, wird einen viel höheren Stellenwert in der Schule einnehmen müssen, auch unter ethischen Gesichtspunkten. Universitäten sind bereits heute nicht mehr nur von klassischen Studienfächern wie Mathematik, Germanistik oder Latein geprägt, sondern von Studiengängen wie Machine Learning, Data Science, Neurowissenschaften oder Digital Humanities. Was bedeuten diese Entwicklungen für den Fremdsprachenunterricht, für den Einsatz digitaler Medien und KI im Fachunterricht, für die Wissenschaftspropädeutik am Gymnasium? Da kommen grundlegende schultheoretische Anfragen auf uns zu, die möglicherweise auf deutlich veränderte Bildungspläne verweisen.
Was bedeutet das für das Schulsystem?
Bohl: Ein realistisches Modell wäre das, was Hamburg seit mehr als zehn Jahren ziemlich konsequent macht. Ein zweigliedriges Schulsystem bestehend aus G8 sowie den Stadtteilschulen als integrierter Schulart mit einem Zugang zu G9. An manchen Standorten in Hamburg wird dann bis Klasse 6 gemeinsam unterrichtet und erst ab Klasse 7 entschieden, ob ein Kind auf das achtjährige Gymnasium geht. Diese Entscheidung erst ab Klasse 7 oder 8 zu treffen, bietet mehr Möglichkeiten, grundlegende Basiskompetenzen wie Lesen, Schreiben, Rechnen bis dahin verbindlich zu sichern. Ein interessanter Nebenaspekt dabei ist, wie eng in einem solchen Modell in den Klassenstufen 5 und 6 Gymnasiallehrkräfte mit weiteren Lehrkräften und in multiprofessionellen Teams kooperieren. Das ist integrativ und konstruktiv für beide Schularten. Hier zeigt sich auch die hohe Bedeutung der fachlichen Expertise von Gymnasiallehrkräften, die mit Blick auf das Abitur auch in der zweiten Schulart zielgerichtet und individuell unterstützen können. Die zweite Schulart hat als zentrales Profil einen kompetenten und professionellen Umgang mit Heterogenität. Hamburg hat zudem eine ganze Reihe weiterer wichtiger Themen umgesetzt, zum Beispiel ein neues Arbeitszeitmodell oder eine umsichtige datenbasierte Schulentwicklung eingeführt. Wenn man sich dieses Modell anschaut, wird auch deutlich, was über die Einführung von G9 von vorneherein verbaut würde.
„Eine derartige Zweigliedrigkeit in enger Kooperation mit beruflichen Gymnasien und den SBBZ wäre eine realistische Alternative für Baden-Württemberg.“
Die Elternschaft an den Gymnasien organisiert sich ganz hervorragend, sie ist vernetzt, argumentationsstark und weiß die demokratischen Wege zu nutzen. Sie weiß, wie ein Thema auf die politische Agenda gesetzt werden kann. Welche Folgen hat das?
Bohl: Die Parteien greifen diese Vorgehensweise dankbar auf, weil sie auf Wählerstimmen hoffen. Wahlpolitisch gedacht müsste G9 also eingeführt werden. Hier zeigt sich ein altes Problem: Benachteiligte gesellschaftliche Gruppen organisieren sich in keinster Weise ähnlich für bildungspolitische Ziele. Eigentlich müsste es angesichts der PISA-Befunde eine Bürgerinitiative geben, die sich für eine wesentlich bessere Bildung des unteren Leistungsdrittels einsetzt. Das ist aber nicht der Fall. Weite Teile der gymnasial interessierten Bevölkerung wollen den neunjährigen Bildungsweg ihrer Kinder zum Abitur lieber in einer homogeneren und bildungsaspirierten Schulart wie dem Gymnasium sehen als an einer Schulart mit einem vergleichsweise hohen Anteil benachteiligter Kinder. Daher ist der neunjährige Weg zum Abitur über die Gemeinschaftsschulen, die Realschulen oder die Beruflichen Schulen für sie deutlich weniger attraktiv.
Auch mit der Bildungsgerechtigkeit der Schüler*innen geht es in Baden-Württemberg kaum voran. Was wäre nötig, damit mehr Schüler*innen unabhängig vom Wohlstand oder Bildungsgrad der Eltern ihr schulisches Potential besser ausschöpfen können?
Bohl: Baden-Württemberg geht einiges in letzter Zeit an. Dazu gehören beispielsweise der Pilotversuch zum Sozialindex für Schulen in benachteiligter Lage, der Aufbau einer datenbasierten Schulentwicklung, die Einführung von Förderprogrammen wie „Bildung durch Sprache und Schrift“ (BISS-Transfer) oder das kommende Startchancen-Programm. Derartige Programme und Pilotversuche weisen in die richtige Richtung. Aber: Es sind eben nur Programme für einige Schulen und keine nachhaltige und flächendeckende Verankerung im Alltag aller Schulen. Seit Jahren stürzen sich der Bund und die Länder in ein Programm nach dem anderen. Punktuelle Programme ergeben aber noch kein Konzept. Alle politischen Entscheidungen müssen sich daran messen lassen, ob sie das Problem substantiell und nachhaltig lösen – und zwar über eine Legislaturperiode hinaus. Bildungsungerechtigkeit müsste auch außerhalb der Schule in der ganzen Gesellschaft viel stärker angegangen werden. Insgesamt brauchen wir wesentlich mehr und vor allem kohärente und konsequent umgesetzte Maßnahmen, um Bildungsungerechtigkeit abzubauen.
2026 wird in Baden-Württemberg eine neue Landesregierung gewählt. Wenn Sie einen Wunsch frei hätten: Was würden Sie sich vor und nach der Wahl von den Parteien wünschen?
Bohl: Orientierung an messbarem Erfolg im Bildungsbereich, substantiell erhöhte Investitionen im Bildungsbereich, ein partei- und legislaturübergreifender Konsens unter den demokratischen Parteien, die weitest mögliche Orientierung der Entscheidungen an forschungsbasierten Maßnahmen und den Mut zum Aufstellen eines kohärenten Gesamtsystems von der frühkindlichen Bildung über die Grundschulen und die Schularten der Sekundarstufe I bis hin zur Sekundarstufe II.
Das sind zwar fünf Wünsche, aber einige Wochen nach Weihnachten muss das möglich sein.
Das Gespräch führte Michael Hirn, stellvertretender GEW-Landesvorsitzender und verantwortlicher Redakteur der Mitgliederzeitschrift b&w.