Deutsches Schulbarometer 2022
Laut Schulleitungen bremst Personalmangel das Schulsystem aus
Der Personalmangel ist nach wie vor das alles dominierende Problem an den deutschen Schulen. Das „Deutsche Schulbarometer“ der Robert-Boschstiftung hat im Januar 2023 überwiegend alarmierende Ergebnisse veröffentlicht – leider meist Bekanntes.
Der Personalmangel ist nach wie vor das alles dominierende Problem an den deutschen Schulen. Eine im November 2022 durchgeführte Befragung von über 1.055 Schulleitungen an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen hat dies erneut bestätigt. Das „Deutsche Schulbarometer“ der Robert-Boschstiftung hat im Januar 2023 überwiegend alarmierende Ergebnisse veröffentlicht – leider meist Bekanntes.
Überraschend an der aktuellen Bosch-Studie ist allenfalls der sehr große Abstand (67 Prozent) des Top-Problems „Personalmangel“ (siehe Abbildung 1). Für Schulen in sozial schwieriger Lage sind fehlende Kräfte sogar zu 80 Prozent das größte Problem. Themen, die vor kurzem noch die Debatten bestimmten, beispielsweise die Corona-Pandemie, fallen dagegen ab (9 Prozent).
Danach gefragt, was die Misere bessern könnte, antworten viele an erster Stelle (41 Prozent) mit „mehr Personal“. Den Schulleitungen würde unter anderem auch helfen: mehr Leitungsstunden/eine geringere Unterrichtsverpflichtung (34 Prozent), Unterstützung bei Verwaltungstätigkeiten (28 Prozent) und bei der Digitalisierung (8 Prozent) oder etwa die Einstellung von Konrektor*innen (7 Prozent).
Besser Lernen – aber wie?
Die IQB-Studie (Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen) für die Primarstufe hat festgestellt: Zu viele Grundschüler*innen können schlecht lesen, schreiben und rechnen. In fast allen Bundesländern haben sich die Ergebnisse seit 2016 verschlechtert. Dies deckt sich mit der Wahrnehmung der Schulleitungen in der Befragung des Schulbarometers. Sie konstatieren für über ein Drittel aller Schüler*innen deutliche Lernrückstände. Die Unterschiede zwischen den Schularten und der sozialen Herkunft sind auch in dieser Frage beträchtlich (siehe Abbildung 2).
Die Schulen bemühen sich, die Lernrückstände aufzuarbeiten, jedoch können sie den Schüler*innen zu einem hohen Anteil (78 Prozent) nicht die adäquate Unterstützung bieten, oder sie erreichen diese Schüler*innen gar nicht (53 Prozent). Milliardenschwere Programme wie etwa „Aufholen nach Corona“ haben ihre Wirkung verfehlt. Zu diesem Schluss kam eine Studie des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung Berlin ebenso wie die befragten Schulleitungen. Nur 32 Prozent stimmten der Aussage zu: „Die coronabedingten Lernrückstände der Schüler*innen konnten durch die zusätzlichen staatlichen Fördermittel und Aufholprogramme deutlich verringert werden“. Am besten wirkten die Corona-Hilfen an den Gymnasien (42 Prozent Zustimmung), am wenigsten bei den Schüler*innen mit „mehr als 50 Prozent Eltern im Sozialtransfer“.
Vor allem Schulleitungen an Haupt-, Real- und Gesamtschulen und an Schulen in sozial benachteiligter Lage (80 Prozent) sagen denn auch aus, dass sie mehr Fördermittel benötigen. Diese Ergebnisse zeigen, dass die Zuweisung von Geldern nach sozialen Indikatoren künftig an erster Stelle stehen muss. Die Programme haben gerade diejenigen kaum erreicht, für die sie eigentlich gedacht waren.
Interessant ist, dass gerade die Schulen in sozial schwierigen Lagen die Lernstände ihrer Schüler*innen besonders intensiv erheben. Damit wäre durchaus eine Datengrundlage für eine bedarfsgerechtere Zuweisung von Fördermitteln gegeben. Modellversuche braucht es nicht, wenn man nur willens ist, diese Daten (endlich) zu nutzen.
Psychosoziale Unterstützung – unzureichend!
„Die Schulschließungen waren für die meisten Kinder toxisch“, stellte der 126. Ärztetag im Mai 2022 fest. Um so wichtiger ist der Ausbau der psychosozialen Angebote an den Schulen. Im Schnitt geben 69 Prozent der Schulleitungen an, dass es an ihren Schulen Angebote der Schulsozialarbeit und an 35 Prozent Angebote der unterstützenden Schulpsychologie gibt.
„Die Schulschließungen waren für die meisten Kinder toxisch.“ (Feststellung auf dem 126. Ärztetag im Mai 2022)
In Bayern wird Schulpsychologie doppelt so oft angeboten wie im Durchschnitt der Bundesländer. Dort kann sie als Erweiterungsfach im Rahmen des Lehramtsstudiums gewählt werden, was dem Angebot an den Schulen offensichtlich zugutekommt. Die schlechteste Versorgung sehen die Schulleitungen in Baden-Württemberg. Nur an nur 12 Prozent der Schulen gibt es laut den Schulleitungen schulpsychologische Angebote. Fortbildungsangebote für das Lehrerkollegium zum Umgang mit psychisch/sozial belasteten Schüler*innen würden helfen. Sie werden von 57 Prozent der Schulleitungen gewünscht.
Zuwanderung – ein Kraftakt
Auf 2,7 Prozent schätzen die Schulleitungen den Anteil ukrainischer Schüler*innen an der Gesamtschüler*innenzahl, hinzu kommen Zugewanderte aus anderen Ländern in gleicher Größenordnung. Haupt-, Real- und Gesamtschulen stemmen den größten Teil der Beschulung der Migrant*innen/Flüchtlinge, Gymnasien den geringsten.
Die personellen Mittel für die Förderung dieser Kinder und Jugendlichen reichen bei 72 Prozent der Befragten nicht aus. Schulen in schwierigen Lagen nehmen einen deutlich höheren Anteil an Zugewanderten auf als Schulen in privilegierter Lage.
Ein Kommentar von Michael Hirn, stellvertretender Landesvorsitzender der GEW
Inzwischen kommen die Studien, die massive Mängel bei der Ausstattung der Schulen mit Personal oder bei den Leistungen der Schüler*innen feststellen, in immer kürzeren Abständen. Die Probleme addieren sich. Dies ist ein seit Jahrzehnten bekannter Mechanismus, dem die Landesregierung offensichtlich nicht begegnen kann oder will. Wenn inzwischen knapp 60 Prozent der Schulleitungen sagen, dass sie keine ausreichende Förderung in Deutsch für die neu zugewanderten Schüler*innen gewährleisten können, hat dies gesellschaftliche Folgen – politisch, sozial, ökonomisch.
Und es ist bestürzend, wie sehr sich bei allem Studien bestätigt, was wir schon lange wissen: Schlecht ausgestattete Schulen und unklare Strukturen im Schulsystem verstärken die Bildungsungerechtigkeit. Es ist ein Armutszeugnis, wie mutlos die Politik darauf reagiert. Die Gesellschaft muss sich fragen, wie lange sie die hilflosen Versuche der Politik noch hinnimmt. Wenn Schulen ihre Arbeit nicht gut machen können, gefährden wir die Zukunftsfähigkeit unseres Landes und den sozialen Zusammenhalt.
Ja: Wir müssen auch über die Arbeit an den Schulen nachdenken. Nicht alles, was an den Schulen seit Jahren und Jahrzehnten gelebte Praxis ist, passt noch in diese Zeit. Auch wir, die in diesen Schulen arbeiten und uns für die Interessen der dort engagiert arbeitenden Menschen und der Kinder und Jugendlichen einsetzen, müssen uns und unsere Arbeit in Frage stellen. Das tun wir auch, und wir sind bereit, uns darüber mit der Politik auszutauschen. Aber inzwischen sind viele Schulen so schlecht mit qualifizierten Lehrkräften versorgt, dass ihnen die Kraft für Veränderung fehlt.
Die baden-württembergische Landesregierung tut schlicht zu wenig und das Wenige zu langsam, um die Situation an den Schulen zu verbessern. Ein Beispiel: Man kann die Situation in der Schulpsychologie in Bayern und Baden-Württemberg nicht 1:1 vergleichen. Dort haben Lehrkräfte, die an den Schulen präsent sind, eine schulpsychologische Zusatzausbildung; hier arbeiten Schulpsycholog*innen an den schulpsychologischen Beratungsstellen. Trotzdem ist die Einschätzung der baden-württembergischen Schulleitungen erschreckend. Die GEW fordert seit Jahren, die Stellen für Schulpsycholog*innen zu erhöhen. Im Moment gibt es neben befristeten Stellen über das Rückenwind-Programms 200 feste Stellen.
Von diesen sind aber nur rund 80 Prozent besetzt. Wenn man will, dass die Schulpsychologie an Schulen besser wahrgenommen wird und dass mehr Schüler*innen deren Unterstützung in Anspruch nehmen können, muss man schlicht mehr Stellen schaffen. Es gibt Ideen und Konzepte, die den Schulen helfen würden. Die GEW bietet sie der Politik auch an. Umgesetzt werden sie bisher nicht oder zu langsam.