Dem Beruflichen Schulzentrum Bietigheim-Bissingen gelingt es seit über zehn Jahren Prominente aus Politik und Wirtschaft zu gewinnen, die zu der Veranstaltungsreihe „Schule trifft Wirtschaft“ oder zu Expertengesprächen in die Schule kommen. Die früheren Kultusminister/innen Annette Schavan (CDU) und Andreas Stoch (SPD) waren schon da oder der Drogeriemarkt-Gründer Götz Werner. Mitte Mai kam Jürgen Grässlin. Weniger prominent. Der Freiburger Lehrer und GEW-Mitglied ist als Rüstungsgegner und Friedensaktivist manchen in Politik und Wirtschaft unbequem. Säle füllt er trotzdem. Als er in der beruflichen Schule über Waffenhandel referierte, kamen 300 Gäste, überwiegend Lehrkräfte und Schüler/innen.
Warum Grässlin? Wie kommen Lehrkräfte und Schüler/innen dazu, sich mit der Rüstungsindustrie und Waffenlieferungen zu beschäftigten? Überlegt hatte sich das heikle Thema Stefan Ranzinger. „Ich probier es mal“, erzählt der Schulleiter. Er bot das Thema Schüler/innen an, die in der 12. Klasse des beruflichen Gymnasiums seinen dreistündigen Seminarkurs besuchen wollten. Das Thema hält er für ganz hervorragend geeignet, weil es kontrovers und vielschichtig ist. Er sei nicht vorgeprägt und nicht von vorne herein friedensbewegt gewesen, versichert Ranzinger.
Wer von den Schüler/innen mitmachen wollte, musste sich mit einem Motivationsschreiben für den Kurs bewerben. „Nicht alltäglich“, „nicht so langweilig“ sei ihnen der Themenvorschlag vorgekommen, berichten ein paar Schüler/innen. Politisches Interesse war da, ihr erster Antrieb war das aber eher nicht. Elf Schüler/innen nahmen schließlich teil und langweilig wurde es ihnen tatsächlich nicht. Sie waren dabei, als Grässlin den Stuttgarter Friedenspreis entgegennahm, sie diskutierten mit Harald Hell-stern von Pax Christi und sprachen mit dem verteidigungspolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Rainer Arnold. Die Klasse besuchte das Theaterstück „Feuerschlange“ in Stuttgart, in dem es um verschlungene Wege deutscher Waffen ging, und sie bestritten schließlich eine Podiumsdiskussion mit Jürgen Grässlin.
Pascal Elser hat als erster den Kurs mit der mündlichen Prüfung abgeschlossen. Volle Punktzahl hat er geschafft. Bis er sich die Bestnote verdient hatte, mussten er und alle anderen im Kurs viel Aufwand reinstecken. Als erstes galt es, das dicke Schwarzbuch von Grässlin „ Waffenhandel – Wie Deutschland am Krieg verdient“ zu lesen und zu überlegen, welche unterschiedlichen Aspekte und Vertreter zum umstrittenen Thema gehören. Der SPD-Politiker Arnold beispielsweise bekannte sich im Gespräch mit den 12. Klässler/innen zur Rüstungsproduktion und -forschung in Deutschland. Die Spitzentechnologie mache Deutschland unabhängig von anderen Ländern, war eines seiner Argumente. Klare Rüstungsgegner sind Grässlin und Harald Hellstern. Die Rüstungsindustrie wiederum ist ein gewichtiger Gegenspieler. Und die beeindruckte mächtig. Als erste Schulklasse überhaupt besichtigte der Seminarkurs den Münchner Rüstungskonzern Krauss-Maffei-Wegmann. „Wir hatten gar nicht damit gerecht, dass wir reingelassen werden“, bemerkt Ranzinger. „Die Unternehmensvertreter haben auf all unsere Fragen geantwortet“, lobt der Schüler Robin Schatzmann das Gespräch. Ein Foto mit einem Panzer im Hintergrund hätten sie mit der Begründung, das sei keine Trophäe, abgelehnt. Mit manchen Antworten hätte es sich das Unternehmen aber auch leicht gemacht, bemängelt der Schüler. „Wenn die Politik es erlaubt, liefern die überall hin“, ergänzt der Schulleiter. Auf der Teststrecke wurde den jungen Besucher/innen aus Bietigheim ein Leopardpanzer II vorgeführt und sie bekamen ein für Katar bestimmtes Exemplar zu sehen.
Umfrage mit Überraschungen
Aufwändig und aufschlussreich war eine schulinterne Umfrage zur Rüstungsindustrie und zu Rüstungsexporten. Geantwortet hatten rund 1.400 Schüler/innen und 72 Lehrkräfte des Berufsschulzentrums. Rund die Hälfte des Kollegiums und mehr als 50 Prozent der Schülerschaft der großen Schule beteiligten sich an der Befragung der Seminarklasse. Die Wissensfragen offenbarten so manche Wissenslücke, die Meinungsfragen lieferten überraschende Antworten. Wer über brisante Rüstungsexporte entscheide, wurde gefragt oder wie hoch der Anteil der Kriegswaffenausfuhren am deutschen Gesamtexport 2015 gewesen sei. Oder „Was halten Sie davon, dass Deutschland Waffen exportiert?“ und „Würden Sie in einer Rüstungsfirma arbeiten, wenn Sie dort viel mehr Geld verdienen würden?
Nach Grässlins Vortrag wurde die Umfrage unter den Zuhörer/innen wiederholt. Der Vortrag wirkte. Danach wussten fast alle, dass der Bundessicherheitsrat brisante Rüstungsexporte verantwortet und dass der Anteil der Kriegswaffenausfuhr nur 0,13 Prozent vom Gesamtexport beträgt. Vor dem Vortrag kreuzten nur rund ein Drittel der Schüler/innen und der Lehrkräfte den Bundessicherheitsrat als Entscheidungsträger an. (Siehe Grafik 1) Viele meinten, die Bundesregierung oder die Abgeordneten würden die Rüstungsexporte außerhalb der Nato und der EU genehmigen. Rund die Hälfte der Befragten schätzte zunächst den Anteil der Waffenausfuhr am Gesamtexport deutlich höher ein (Grafik 2).
Der Vortrag des Rüstungskritikers konnte allerdings nicht verhindern, dass danach immer noch 40 Prozent des Publikums für die Waffenindustrie arbeiten wollten, wenn es dafür viel mehr Geld geben würde. Gesunken ist die Zahl dennoch. Bei der ersten Befragung kreuzten 61 Prozent der Schüler/innen bei dieser Frage „ja“ an. Bei den Lehrkräften waren es mit 17 Prozent sehr viel weniger.
Aufwand hat sich gelohnt
Nach einem Jahr intensiver Arbeit sind sich die Schüler/innen einig: Der Aufwand hat sich gelohnt, sie sind stolz auf ihre Ergebnisse und würden es sofort wieder machen. Mit ihren Meinungsäußerungen sind sie vorsichtig. Wenn es um die Frage geht, ob die Waffenexporte moralisch verantwortbar sind, antwortet Valentin Hubl: „Das ist ein komplexes Thema und situationsabhängig.“ Natalie Kempf sagt: „Das kann man nicht verallgemeinern, das ist in jedem Land anders.“ Pascal Elser meint zum Verfahren im Bundessicherheitsrat, der habe gute Gründe, dass seine Entscheidungen geheim blieben. Er wünscht sich trotzdem mehr Transparenz.
Friedensaktivist/innen sind die Schüler/innen nicht geworden. Ihr anfänglich nur zaghaftes politisches Interesse ist auf jeden Fall gestiegen und Selbstbewusstsein haben sie auch getankt. Der Schulleiter ist stolz auf seine Klasse. Sein riskantes Thema hat sich ausgezahlt