PISA-Studie 2022
Sollte, müsste, könnte ...
Die Schulsysteme in Deutschland sind nach wie vor sozial ungerecht, die Leistungen der Schüler*innen dümpeln im OECD-Durchschnitt und sind schlecht wie nie. Die Zeiten von Absichtserklärungen und Modellversuchspolitik müssen beendet werden.
PISA ist eine Schulleistungsstudie, die bei 15-jährigen Schüler*innen die Mathematik-, Lese-, Naturwissenschaftskompetenzen und weitere Bereiche evaluiert.
Maßgeblich für Deutsch ist das Literacy-Konzept, das die Anwendbarkeit und Anschlussfähigkeit des Gelernten prüft. Im Zentrum steht also die Teilhabe- und Handlungsfähigkeit: Texte verstehen und für eigene Zwecke nutzen zu können.
Für Mathematik gilt analog das Numeracy-Konzept, das misst, ob Schüler*innen mit Mathematik verständnisvoll umgehen können und ob sie in der Lage sind, mathematische Begriffe als „Werkzeuge“ in einer Vielzahl von Kontexten einzusetzen.
Entwicklung der Leistungen der Schüler*innen in Deutschland
Die Leistungen verschlechterten sich bei PISA 2022 in allen Kompetenzbereichen; es waren die schlechtesten Leistungen aller bisherigen PISA-Testungen.
Zum Teil beträgt der Lernrückstand 2022 gegenüber 2018 umgerechnet ein Schuljahr. Die Verschlechterungen ziehen sich durch alle Leistungsgruppen: von den starken bis zu den schwächsten Schüler*innen.
Im OECD-Vergleich entspricht der erreichte Leistungsmittelwert im Lesen und in Mathematik in etwa dem der beteiligten OECD-Länder, in Naturwissenschaften ist der Mittelwert etwas besser. Die Ergebnisse sind im Wortsinn „Mittelmaß“, was sicher nicht dem Anspruch eines modernen Industrielandes entspricht. Differenziert man nach Leistungsgruppen, erhält man für die Ergebnisse der Leistungsstarken (Kompetenzstufen 5 und 6), dasselbe, nämlich durchschnittliche Resultate. Beim Mindestkompetenzniveau liegen die Ergebnisse leicht darüber.
Ein direkter Vergleich mit Singapur macht die großen Leistungsunterschiede deutlich: In Singapur erreichen 85 Prozent der Schüler*innen mindestens die Mathematik-Kompetenzstufe 2, in Deutschland 70 Prozent (OECD 69 Prozent). Die Gruppe der Leistungsstarken (Stufen 5 und 6) ist in Singapur 41 Prozent groß, in Deutschland und der OECD je 9 Prozent. Estland hat es als einziges europäisches Land ebenfalls in die Spitzengruppe geschafft.
Rahmenbedingungen des Lehrens und Lernens
Der sozioökonomische Status hat Einfluss auf die Bildungschancen und -ergebnisse. Das ist seit der ersten PISA-Studie 2001 sattsam bekannt. Der Zusammenhang hat sich seither trotz erheblicher Bemühungen kaum gelockert. Der Leistungsabstand zwischen den 25 Prozent privilegiertesten zu den 25 Prozent am meisten benachteiligten Schüler*innen ist mit 111 Punkten in Mathematik erheblich und liegt unter dem OECD-Mittelwert (93 Punkte). Von der Gruppe der Benachteiligten schaffen es nur zehn Prozent an die Leistungsspitze. Das macht deutlich, wie schwer in Deutschland ein Bildungsaufstieg für Kinder und Jugendliche ist, die wenig materielle Ressourcen und kulturelle Teilhabemöglichkeiten haben.
... zwischen Schüler*innen aus guten und aus benachteiligten Verhältnissen:
= 111 Punkte in Deutschland
= 93 Punkte OECD-Mittelwert
20 – 30 Punkte = 1 Schuljahr
Eine deutliche Steigerung gibt es beim Migrationsanteil der Schüler*innen. Er hat sich seit 2012 auf 26 Prozent verdoppelt. Wiederum zählen die migrantischen Schüler*innen mit 42 Prozent zu den sozial Benachteiligten, über alle Schüler*innen betrachtet, sind das 25 Prozent. Die prekäre soziale Lage erklärt zu einem erheblichen Teil die schlechteren Leistungsergebnisse der Schüler*innen mit Migrationshintergrund.
Die Corona-Schulschließungen wirkten sich gleichfalls ungünstig auf das Lernen aus, insbesondere in Deutschland. In der Zeit fand bei 71 Prozent der Schüler*innen mehr als drei Monate lang kein Unterricht in der Schule statt, im OECD-Schnitt erlebten 51 Prozent ähnlich lange Schulschließungen. Außerdem besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Länge der Schulschließungen und dem Zugehörigkeitsgefühl der Schüler*innen: Wenig überraschend entfremden sich die Schüler*innen vom sozialen Umfeld „Schule“, je länger sie vom Schulbesuch ausgeschlossen sind.
Nicht nur in Deutschland ist der Lehrkräftemangel ein Problem. Etwa die Hälfte der vergleichbaren Länder bei den PISA-Teilnehmenden berichtet von einem Mangel an Lehrkräften. In Mathematik lässt sich zeigen, dass zu wenige oder auch schlecht ausgebildete Lehrkräfte zu schlechteren Leistungen der Schüler*innen führen. Anders ist dies bei der Bildungsfinanzierung. Zwar hängt die Höhe der Bildungsausgaben laut PISA-Bericht „zu einem gewissen Grad mit den Schülerleistungen zusammen“, jedoch spielt weniger die Höhe eine Rolle als „die Art und Weise, wie die finanziellen Mittel eingesetzt werden.“
... sind:
- 25 Prozent aller Schüler*innen
- 42 Prozent der migrantischen Schüler*innen
Welche Maßnahmen machen ein Bildungssystem resilient?
„Aus Daten Erkenntnisse gewinnen“ ist der Titel des abschließenden Kapitels des PISA-Berichtsbands. Die PISA-Studie gibt an dieser Stelle konkrete Hinweise, was getan werden kann. Sie untersuchte, was diejenigen Länder auszeichnet, die als „resilient“ oder teilweise resilient eingestuft wurde Resilient bedeutet im Kontext der PISA-Studie: Trotz schlechterer Bedingungen (Pandemie, Lehrkräftemangel und so weiter) verschlechterten sich die Leistungen der Schüler*innen nicht. Zuerst empfehlen die Autor*innen der Studie, Schulschließungen künftig möglichst zu vermeiden, weil sie das Lernen und das Wohlbefinden der Kinder stark beeinträchtigen. Aber auch außerhalb von Notlagen muss darauf geachtet werden, dass alle Schüler*innen gut lernen und sich wohlfühlen können. Und sie müssen darauf vorbereitet werden, eigenständig zu lernen. Schüler*innen mit Schwierigkeiten zusätzliche Unterstützung anzubieten, ist wirksamer als Klassenwiederholungen.
Die Ablenkungen durch digitale Geräte im Unterricht sind ein großes Problem und müssen systematisch angegangen werden, ohne „der Digitalisierung“ gleich ganz den Kampf anzusagen. Und: Erfolgreiche Schulsysteme pflegen Partnerschaften zwischen Schulen und Familien und binden die Eltern in den Lernprozess der Schüler*innen ein.
Eine frühe Aufteilung der Schüler*innen auf verschiedene Schultypen steht der sozioökonomischen Fairness entgegen. Die Konzentration sozioökonomisch benachteiligter beziehungsweise begünstigter Schüler*innen in bestimmten Schulen hängt damit zusammen. Deshalb sollte eine Aufteilung möglichst spät erfolgen.
Unabdingbar ist eine den Aufgaben angemessene und hochwertige personelle und materielle Ausstattung der Schulen. Die Beseitigung des Lehrkräftemangels ist dabei besonders wichtig. Und zuletzt empfehlen die Autor*innen der PISA-Studie, (mehr) Schulautonomie mit Verfahren zur Qualitätssicherung zu kombinieren. Die Frage, was dabei im Interesse der Schüler*innen ist, soll der Leitgedanke der Ausgestaltung der Autonomie sein.
Es obliegt der Politik, den Eltern und allen schulischen Akteuren, sich mit diesen Empfehlungen unvoreingenommen auseinanderzusetzen und wirksame Maßnahmen zu ergreifen. Aus „sollte, müsste, könnte“ muss endlich „soll, muss und kann“ werden.