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Zur Steuerbarkeit des Teilarbeitsmarkts Schule

Derzeit dominiert das Thema „Lehrermangel“ bundesweit die Meldungen: Nahezu alle Bundesländer haben Schwierigkeiten damit, ihre freien Stellen mit ausgebildeten Lehrkräften zu besetzen.

Foto: Klaus Klemm privat

Die Kultusministerkonferenz erwartet bis 2025 deutschlandweit einen Lehrkräftemangel in Höhe von etwa 38.000 Lehrkräften. Lediglich im Bereich des gymnasialen Lehramts wird in den Jahren bis dahin mit einem Überangebot von etwa 16.000 Lehrerinnen und Lehrern gerechnet (KMK 2020). Bei einer Durchsicht der Kommentierung dieses Tatbestandes begegnet man regelmäßig dem erstaunten Hinweis darauf, dass dieser Mangel doch eigentlich hätte vorgesehen  werden müssen. Schließlich seien die Zahlen der Erstklässler sechs Jahre vor der Einschulung bekannt, auch die der ausscheidenden Lehrkräfte dürften angesichts der bekannten Altersstruktur der Lehrerkollegien kaum überraschen.

Vor dem Hintergrund dieser auf den ersten Blick überzeugenden Hinweise sollen zunächst die drei Variablen, die für die Entwicklung auf dem den Teilarbeitsmarkt Schule besonders bedeutsam sind, benannt und beschrieben werden:

  • Dies ist zum einen die Entwicklung der Zahl  der Schülerinnen und Schüler, mit denen mittel- und langfristig gerechnet werden muss. In den vor uns liegenden Jahren steigt diese Zahl bundesweit deutlich: von 10,7 auf 11,7 Mio. an. In Baden-Württemberg wird ein Anstieg von 1,5 auf 1,6 Mio. erwartet (KMK 2021). Daraus ergibt sich - bei gleichbleibenden Parametern wie Klassenfrequenz, Lehrerarbeitszeit oder Unterrichtsstunden je Klasse - bei den Lehrkräften ein entsprechender ‚Ergänzungsbedarf‘. Bei sinkenden Schülerzahlen wäre dieser ‚Ergänzungsbedarf‘ negativ.
  • Hinzu kommt - dies ist die zweite der genannten drei Variablen - der Ersatzbedarf, der dadurch entsteht, dass Lehrkräfte aus Altersgründen oder aus übrigen Gründen aus dem Schuldienst ausscheiden und durch Neueinstellungen ersetzt werden müssen. Dies ist nur dann nicht der Fall, wenn die Bedarfsminderung durch sinkende Schülerzahlen größer als die Zahl der ausscheidenden Lehrkräfte ausfällt. In den kommenden Jahren liegt der altersbedingt verursachte Ersatzbedarf in Baden-Württemberg bei etwa 20 Prozent der etwa 115.000 Lehrkräfte, deutschlandweit bei etwa 24 Prozent der etwa 826.000 Lehrkräfte (Statistisches Bundesamt 2021 a und 2021 b).
  • Die dritte den Teilarbeitsmarkt Schule beeinflussende Variable stellt schließlich das das Angebot neu ausgebildeter Lehrkräfte dar. Diese Variable ist besonders schwer zu quantifizieren, da sie von der Zahl der jungen Leute, die ein Lehramtsstudium ergreifen wollen und für die Studienplätze und Plätze im Vorbereitungsdienst erreichbar sind, ebenso abhängt wie vom Erfolg im Studium und im Referendariat.

Bei der Zusammenführung dieser drei Variablen stellt es sich als im besonderen Maße erschwerend dar, dass ein Lehramtsstudium mit den Phasen des BA.- und des MA-Studiums und dem anschließenden Vorbereitungsdienst in der Regel sieben Jahre dauert, so dass die Lehramtsausbildung jeweils sieben Jahre vor der Veränderung der Schülerzahlen auf diese Veränderung reagieren müsste.

Wie schwer es ist, angesichts dieses Zusammenspiels der demographisch bedingten Schülerzahlentwicklung, des altersbedingten Ausscheidens aus dem Schuldienst und der Entscheidungen der studienberechtigten jungen Menschen für ein Lehramtsstudium Lehrkräftebedarf und Lehrangebot zur Deckung zu bringen, kann ein Beispiel aus der Geschichte der Bundesrepublik verdeutlichen: Seit Beginn der fünfziger Jahre sind im Gebiet der damaligen Bundesrepublik die Geburtenzahlen von  knapp 0,8 Mio. bis 1965 auf nahezu 1,1 Mio. angestiegen (Statistisches Bundesamt 2016, S. 3). Der damalige niedersächsische Ministerpräsident Georg Diederichs kommentierte  diese Entwicklung mit dem aus heutiger Sicht bemerkenswerten Satz: „So etwas kann zur Last werden, wie zum Beispiel in Indien.“ (Spiegel , 8.5.1967) Offensichtlich hatte er bei der von ihm befürchteten ‚Last‘ die Studie von Georg Picht im Kopf. Der nämlich hatte kurz zuvor in seiner viel zitierten Arbeit ‚Die deutsche Bildungskatastrophe‘ auf die Folgen dieses Geburtenanstiegs hingewiesen: „Demnach müßten sämtliche Hochschulabsolventen Lehrer werden, wenn unsere Schulen ausreichend mit Lehrern versorgt sein sollen.“ (Picht 1964, S. 22)

Bei den jungen Leuten kam diese Botschaft an: Während 1965 lediglich 17.100 Lehramtsprüfungen gezählt wurden, schlossen zehn Jahre später (1975) 40.400 Lehramtsstudierende ihr Studium erfolgreich ab (BMBF 1987, S. 184). Dies geschah genau in dem Jahr, in dem die Geburtenzahlen von den bereits erwähnten 1,1 Mio. in 1964 auf nur noch 0,6 Mio. zurückgegangen waren (Statistisches Bundesamt 2016, S. 3): Bildungsexpansion traf ‚Pillenknick‘. Diese Geschichte lässt  sich fortschreiben: Auf Grund dieses Geburtenrückgangs zeichneten sich für die achtziger Jahre sinkende Schülerzahlen und damit verbunden ein Lehrkräfteüberschuss ab. Die Länder reagierten darauf schon zu Beginn der achtziger Jahre: 1981 gab es für gut 28.000 Absolventen eines Lehramtsstudiums nur noch gut 20.000 Plätze im Vorbereitungsdienst - mit weiter fallender Tendenz (KMK 2000, S. 9). Dies führte zu einem abrupten Einbruch der Zahl der Anfänger und Anfängerinnen eines Lehramtsstudiums: 1975 wurden noch gut 40.000 gezählt, 1985 dagegen nur noch gut 11.000 (BMBF 1990, S. 152).

Das Typische an dem hier skizzierten Beispiel ist dies: Abschätzungen zum künftigen Lehrkräftebedarf werden in einem demographischen Kontext erstellt. Das Volumen der Lehrkräfteausbildung orientiert sich daran und führt - zeitlich versetzt - zu einem Lehrkräfteangebot, das nur nachfragegerecht ist, wenn sich die demographischen Annahmen als einigermaßen zutreffend erweisen. Wenn sich die demographischen Annahmen jedoch als falsch, z.B. als deutlich überhöht herausstellen, entsteht je nach Ausbildungsdauer von Studium und Vorbereitungsdienst zeitlich versetzt ein Überangebot, das bei ausgebildeten Lehrkräften zu Arbeitslosigkeit führt. Das wiederum veranlasst junge studienberechtigte Schulabsolventen dazu, sich mit Blick auf den aktuellen Arbeitsmarkt prozyklisch zu verhalten und kein Lehramtsstudium aufzunehmen, was dann wiederum zeitlich versetzt zu Mangelsituationen führen kann - usw!

Derzeit erleben wir in Deutschland insgesamt erneut eine Phase, in der nicht vorhergesehene und nicht vorhersehbare demographische Entwicklungen das Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage zunächst im Grundschulbereich und dann auch in den weiterführenden Schuule durcheinander bringen: Von 2013 noch 682.000 stieg die Zahl der Geburten in Deutschland in den wenigen Jahren bis 2020 insgesamt um mehr als 90.000 auf etwa 773.000. In dieser Zeit stiegen die Geburtenzahlen in Baden-Württemberg von etwa 94.000 auf etwa 108.00 an. (Statistisches Bundesamt 2021c). 90.000 Kinder, die zusätzlich in die Grundschule eintreten, brauchen allein in ihrem ersten Schuljahr etwa 5.400 zusätzliche vollzeitbeschäftigte Lehrerinnen und Lehrer - mit von Jahr zu Jahr aufwachsenden Zahlen. Da die Ausbildung für Grundschullehrkräfte - wie schon erwähnt - inzwischen in der Mehrheit der Bundesländer nahezu sieben Jahre dauert, sind zufriedenstellende Reaktionen auf diese veränderten demographischen Rahmendaten kurzfristig nicht möglich.

Das Zusammentreffen von auch für die Ministerien kaum vorhersagbaren demographischen Entwicklungen und von dann in der Regel zu langsamen administrativen Reaktionen hat dazu beigetragen, dass auf dem Teilarbeitsmarkt Schule einmal mehr Angebot und Nachfrage nicht zueinander passen.

Literatur/Quellen:

  • BMBW (1990): Grund- und Strukturdaten 1990/91. Bonn
  • BMBW (1987): Grund- und Strukturdaten 1987/88. Bonn
  • KMK (2001): Einstellung von Lehrkräften 2001. Bonn
  • KMK (2000): Beschäftigung von Lehrern 1980 bis 2000. Bonn
  • KMK (2020): Lehrereinstellungsbedarf und -angebot in der Bundesrepublik Deutschland 2019 - 2030. Zusammengefasste Modellrechnungen der Länder. Berlin
  • Statistisches Bundesamt (2021a):Bildung und Kultur. Allgemeinbildende Schulen  - Schuljahr 2020/21. Fachserie 11 - Reihe12. Wiesbaden
  • Statistisches Bundesamt (2021b): Bildung und Kultur. Berufliche Bildung  - Schuljahr 20/21. Fachserie 11 - Reihe 2. Wiesbaden
  • Statistisches Bundesamt (2021 c): Geburten in Deutschland - Statistisches Bundesamt (destatis.de) Abruf vom 13.11.2021
  • Picht, Georg (1964): Die deutsche Bildungskatastrophe. Freiburg
  • Statistisches Bundesamt (2016): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit 1946 - 2015. Wiesbaden
  • Statistisches Bundesamt (2019): https://www-genesis.destatis.de/genesis/online - Abruf vom 20.3.2019