Berufliche Schulen
Stirbt das Berufliche Gymnasium an G9?
Mit Sorge blicken einige Kolleg*innen an Beruflichen Schulen auf die Entwicklung an den allgemeinbildenden Gymnasien. Was kommt auf sie zu? Wird das Berufliche Gymnasium untergehen? Eine Einschätzung von Ingrid Holl.
Soviel vorweg: Das Tolle, wenn man an einer Beruflichen Schule (BS) unterrichtet, sind die Schülerinnen und Schüler. Nun, das trifft ja sowieso auf alle Schulen zu, werdet ihr sagen. Aber wir haben sie halt alle und dürfen sie unterrichten, die ganze Bandbreite: Gymnasiastinnen im Beruflichen Gymnasium, Hauptschüler auf dem Weg zur Mittleren Reife, Mädchen und Jungs, die ihre Berufsschulpflicht erfüllen in der Ausbildungsvorbereitung, Geflüchtete im VABO und schließlich die Azubis in der klassischen Berufsschule und Berufsfachschule. Nur die Kleinen, die haben wir nicht.
Für Lehrkräfte bedeutet das maximal flexibel zu sein, jede Schulart innerhalb der Beruflichen Schule bringt ihre eigenen Herausforderungen und Freuden mit sich. Die unterschiedlichen Profile der BS sorgen für die Fachleute an den Schulen, die akademische Anforderungen mit berufspraktischen Elementen verbinden: Sozialpädagoginnen und Pflegespezialisten, Holztechnikerinnen und Ingenieure, Betriebswirtinnen und Mechatroniker, Köchinnen und Banker, daneben natürlich die Lehrkräfte in den allgemeinbildenden Fächern. Kollegien in den BS sind so vielfältig wie ihre Schülerschaft und genauso toll. Allein, dort geht gerade die Angst um.
Die Angst geht um
Einige meiner Kolleg*innen blicken derzeit besorgt auf die Entwicklung an den allgemeinbildenden Gymnasien – das G9 wird wieder eingeführt. Wird das Berufliche Gymnasium (BG) jetzt untergehen? Klare Antwort: Nein.
Schon vor der Einführung von G8 gab es die Beruflichen Gymnasien und sie werden auch kommende Reformen überstehen. Die speziellen Profile werden von jungen Menschen geschätzt, die ohnehin schon wissen, in welche Richtung sie sich beruflich orientieren wollen, es handelt sich hier um eigenständige Bildungswege. BGs bieten faire Erfolgschancen für all diejenigen Jugendlichen, denen das frühe Trennen nach der vierten Klasse nicht gutgetan hat, die aber jetzt mit dem mittleren Bildungsabschluss von den Gemeinschaftsschulen und Realschulen in der Tasche gerne weiter lernen möchten.
Deshalb erlangen derzeit über ein Drittel der Abiturient*innen ihren Abschluss an einem Beruflichen Gymnasium, das ist eine stattliche Anzahl!
Gleichberechtigt zum Abi
Ganz entscheidend ist deshalb, dass diese Schulform nicht mit Ressourcenknappheit konfrontiert und an den Rand gedrängt wird. Vielmehr sollten die spezifischen Stärken Beruflicher Gymnasien klar herausgestellt und weiterentwickelt werden, dann wird das BG als gleichwertige Alternative zum allgemeinbildenden Gymnasium in Gesellschaft und Bildungspolitik wahrgenommen.
Das gesamte Bildungssystem würde so gestärkt, denn nur ein ausgewogenes Verhältnis von akademischer und berufspraktischer Bildung und eine durchlässige Bildungslandschaft führt in eine gerechte Zukunft. Alle paar Jahre eine Teilreform kann die strukturelle Unterfinanzierung des gesamten Bildungsbereiches nicht ausgleichen.
Als Pädagogin ist es mir wichtig, alle Schülerinnen und Schüler gleichermaßen zu begleiten. Das A und O der GEW ist, dass sie alle Schularten vertritt und keine von ihnen bevorzugt. Gleichzeitig müssen wir akzeptieren, was eine starke Elternlobby durchgesetzt hat, die leider wieder nur die Interessen der Bildungsnahen mit ohnehin guten Chancen vertritt.
Meine Gewerkschaft wird weiterhin für Chancengerechtigkeit kämpfen und dafür sind die Beruflichen Schulen der richtige Ort, auch das Berufliche Gymnasium!
Bringt sie in Ausbildung!
Persönlich – hier die Sicht der Beruflerin – halte ich die Diskussion „G9 versus BG“ für am Thema vorbei. Neben den Gymnasien welcher Art auch immer muss zwingend und gleichberechtigt die Berufsausbildung stehen – sie ist und wird auch weiterhin die Kernaufgabe der Beruflichen Schulen bleiben. So langsam wird uns als Gesellschaft klar, dass wir viel mehr junge Menschen in Ausbildung bringen müssen. Das kann nicht allein die Aufgabe der Beruflichen Schulen sein, Berufsorientierung gehört mit einem hohen Stellenwert in alle Schularten, und Betriebe müssen stärker in die Pflicht genommen werden, mehr als das derzeit der Fall ist.
Ja, die Azubis sind heterogener und vielleicht nicht mehr so pflegeleicht wie früher, wer wüsste das besser als wir Lehrkräfte. Umso wichtiger ist ihre intensive Betreuung während der Ausbildung. Umso bedeutender, auch den vermeintlich Abgehängten eine Chance, vielleicht auch eine zweite und dritte zu geben. Umso dringlicher, keine und keinen zurückzulassen, wir können es uns schlicht nicht leisten.
Eine neue Studie der Bertelsmann Stiftung ergab, dass in den Augen von Fachkräften aus Betrieben und Schulen sehr viel mehr Jugendliche ausbildungsfähig sind, als angebotene Ausbildungsplätze zur Verfügung stehen. Teils drehen die jungen Menschen jahrelang immer weitere Schleifen im Übergangssektor der Beruflichen Schulen. Lehrkräfte brauchen mehr personelle Unterstützung durch multiprofessionelle Teams, um die jungen Menschen in Ausbildung und damit in Lohn und Brot zu bringen.
Und um bei meinem Rundumschlag nun zu Ende zukommen, obwohl immer noch so viel ungesagt bleibt: Die allermeisten Ressourcen sollten dringend in die frühkindliche Bildung gesteckt werden, in die Kitas und Grundschulen. Davon hätten wir alle was, es wäre sinnvoller und günstiger als jede spätere Reform!