Ethik in der Grundschule
Verschoben auf Sankt Nimmerlein?
Ein Antrag von SPD-Abgeordneten im Landtag von Baden-Württemberg hat es an den Tag gebracht: Die Landesregierung ist nicht wirklich bereit, Ethik als Fach an den Grundschulen einzuführen. Sie verschleppt die notwendigen Voraussetzungen.
Das Kultusministerium (KM) schreibt in seiner Stellungnahme zu dem SPD-Antrag, dass ein Bildungsplan sowie eine Konzeption für die Fortbildung und Qualifizierung der Lehrkräfte entwickelt worden seien. Die entsprechenden Papiere sind aber öffentlich nicht bekannt. In der Ausbildung für das Grundschullehramt ist das Fach Ethik nicht studierbar, und der Landtag hat die für den Ethikunterricht erforderlichen Planstellen für Lehrkräfte bisher nicht bewilligt. Das KM sagt nicht, ab wann es Ethik an den Grundschulen einführen wird.
Dabei ist unbestritten, dass das Fach Ethik auch in der Grundschule erforderlich ist, und die derzeitige Regierungskoalition hat dies eigentlich auch vor. Das war nicht immer so: 1983 wurde Ethik nur in die amtlichen Stundentafeln aufgenommen, um evangelische und katholische Schüler*innen von der um sich greifenden Abmeldung vom Religionsunterricht abzuschrecken.
Obwohl der Ethikunterricht inzwischen mit dem Religionsunterricht formal gleichwertig und zum Beispiel die Ethik-Note versetzungsrelevant ist, fungiert er nach wie vor als Ersatzfach: Es ist nur in einem Teil der Schulen eingeführt und wurde anfangs lediglich in den Klassenstufen eingerichtet, wo das für die Abschreckung erforderlich zu sein schien: ab Klasse 7 beziehungsweise 8 der allgemeinbildenden Schulen. Seit wenigen Jahren gibt es dort ab Klasse 5 Ethik statt Religion. Im beruflichen Bereich wird Ethik nur an Gymnasien obligatorisch erteilt. An den Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) und an den Grundschulen gibt es keine Alternative zum Religionsunterricht.
Viele Schüler*innen an den Grundschulen und den SBBZ werden um ihr Bildungsrecht betrogen: alle konfessionsfreien Kinder sowie jene, die keinem der Bekenntnisse angehören, für die Religionsunterricht erteilt wird, und auch die Schüler*innen, deren Eltern sie vom Religionsunterricht abgemeldet haben. Denn wenn es stimmt, was in den Bildungsplänen steht, dann sind die Inhalte des Religionsunterrichts ein unbedingt notwendiger Bestandteil der Bildungs- und Erziehungsarbeit. Dafür ein Beispiel aus dem Bildungsplan für den evangelischen Religionsunterricht: „Der Evangelische Religionsunterricht hilft die religiöse Dimension des Lebens zu erschließen. Er eröffnet einen spezifischen Modus der Weltbegegnung, der als integraler und unverzichtbarer Beitrag zum allgemeinen Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule zu verstehen ist. Soziales, politisches und kulturelles Leben in Deutschland, Europa und der Welt lässt sich ohne Kenntnis seiner religiösen Wurzeln nicht angemessen verstehen.“
Aber zum Besuch dieses laut Grundgesetz und Landesverfassung ordentlichen Lehrfaches sind nur die bekenntnisangehörigen Kinder verpflichtet und deren Anteil an den Grundschulen sinkt rasant. Immer mehr Menschen verlassen die Kirchen. Bereits im Schuljahr 2022/23 waren an den Grundschulen von 382.716 Schüler*innen nur noch 96.274 evangelisch und 99.609 katholisch, die Anzahl der „anderen“ betrug 186.833. Damit waren nur noch knapp 51 Prozent der Grundschüler*innen zum Besuch des entsprechenden Religionsunterrichts verpflichtet. An den Schulen des Landes ist zwar noch für weitere Bekenntnisse Religionsunterricht eingerichtet. Daran nehmen aber nur etwa ein Prozent aller Schüler*innen teil.
2024 dürfte der Anteil der „anderen“ an den Grundschulen niedriger liegen als die Quote jener, die zum Besuch des Religionsunterrichts verpflichtet sind. Wie viele davon vom Religionsunterricht abgemeldet waren, ist unbekannt.
Vor diesem Hintergrund ist die Behauptung des Kultusministeriums, „Der staatliche Auftrag zur ethisch-moralischen Erziehung beschränkt sich jedoch nicht auf einzelne Schulfächer wie den Ethik- oder den Religionsunterricht. Er ist vielmehr eine Querschnittsaufgabe von Schule und Unterricht und ist auch für die Grundschule als übergeordnetes Ziel im Leitfaden Demokratiebildung, in den Leitperspektiven sowie in den Fachplänen verankert“, nur eine peinliche Ausflucht: Wenn die bekenntnisangehörigen Schüler*innen zusätzlich noch zwei Wochenstunden Religionsunterricht benötigen, dann wird den „anderen“ durch die Vorenthaltung eines gleichwertigen Ethikunterrichts Unrecht zugefügt.
Die negative Religionsfreiheit wird unterlaufen
Der Religionsunterricht ist inhaltlich eine kirchlich-religiöse Handlung, und zur Teilnahme daran darf niemand gezwungen werden. Diese „negative Religionsfreiheit“ ist ein Grundrecht.
Eigentlich dürfte es für die Grundschulen von Jahr zu Jahr schwieriger werden, mit dieser Rechtslage und der Entwicklung der Bekenntnisse ihrer Schüler*innen umzugehen. Denn wenn für den Religionsunterricht kein Ersatz angeboten wird, müssen die „anderen“ Grundschüler*innen in den „Reli“-Stunden irgendwie anderweitig versorgt werden. Wie das geschieht? In seiner Antwort auf den SPD-Antrag teilt das KM hierzu nur mit: „Aufgrund der grundgesetzlich geschützten negativen Religionsfreiheit dürfen Schülerinnen und Schüler, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen, nicht im Religionsunterricht mitbetreut oder unterrichtet werden. Den Schülerinnen und Schülern muss demnach in der Regel in dieser Zeit ein anderes Bildungsangebot gemacht werden. In Frage kommen beispielsweise Angebote im Rahmen der Verlässlichen Grundschule. Darüber hinaus kann der Religionsunterricht in den Randstunden stattfinden.“
Das heißt: Wenn der Religionsunterricht in den Randstunden stattfindet, dürfen die „anderen“ also später kommen oder früher gehen. Jenen Kindern, die das nicht tun können (beispielsweise, weil sie auf den Schulbus angewiesen sind) oder wenn der Religionsunterricht zu anderen Zeiten stattfindet, muss die Schule „ein anderes Bildungsangebot“ machen. Mangels einer besseren Alternative weisen viele Schulleitungen die unversorgten Schüler*innen dem Unterricht in anderen Klassen zu. Andernfalls muss die Schule ihnen einen Aufenthaltsraum anbieten und für eine Aufsicht sorgen. Im Grundschulalter können Kinder nicht im Schulhaus oder auf dem Schulgelände unversorgt bleiben. Das KM lässt die Schulen mit dem Problem allein. Wo und wie sollen sie in den Reli-Stunden diese vielen Nicht-Teilnahmepflichtigen unterbringen?
Eine Teil-Antwort ist der Stellungnahme des KM zu dem SPD-Antrag zu entnehmen – allerdings in verschlüsselter Form. Das KM beziffert den Mehrbedarf für die Einführung von Ethik an der Grundschule mit 460 Planstellen. Das klingt nach einem zukünftigen Bedarf. Aber die „anderen“ Kinder sind heute schon da. Folgerichtig sind in den Stundentafeln ab Klasse 5 auch zwei Wochenstunden Religionsunterricht für die eine Hälfte der Schülerschaft und zwei Stunden für Ethik für die andere Hälfte vorgesehen, zusammen also vier Lehrkräftestunden je Woche. Die Grundschulen hingegen lässt das KM allein, ihnen gibt es nur zwei Stunden für beide Hälften der Schülerschaft. Würden die Grundschulen die „anderen“ während der zwei Stunden „Reli“ durch regulären Unterricht versorgen, bräuchten sie diese 460 Planstellen schon heute. Weil es die Stellen nicht gibt, müssen sich die Schulen durchwursteln und die Schüler*innen irgendwo unterbringen oder hineinstopfen.
Ein Kommentar von Michael Rux
Es geht mir nicht darum, ob der konfessionelle Religionsunterricht noch zeitgemäß ist und ob er durch ein weder religiös noch „christlich“ geprägtes Unterrichtsfach ersetzt werden sollte. Diese Meinung kann man zwar haben, und ich selbst bekenne mich zu dieser Auffassung.
Mir geht es nicht um den Umsturz der bestehenden Verhältnisse. Vor allem: Ich kenne viele Kolleg*innen, nicht zuletzt als engagierte Mitglieder meiner Gewerkschaft, die einen hervorragenden Religionsunterricht erteilen und einen wichtigen Anteil an der Persönlichkeitsbildung ihrer Schüler*innen leisten. Sie tragen dazu bei, dass die ihnen anvertrauten jungen Menschen im Sinne von Artikel 12 unserer Landesverfassung nicht nur „in Ehrfurcht vor Gott“ und „im Geiste der christlichen Nächstenliebe“, sondern auch „zur Brüderlichkeit aller Menschen und zur Friedensliebe“ sowie „zu sittlicher und politischer Verantwortlichkeit“ und „zu freiheitlicher demokratischer Gesinnung“ erzogen werden.
Diese Lehrkräfte tun dies übrigens vielfach in einer durchaus kritischen Haltung gegenüber den sogenannten Amtskirchen, die den „amtlichen“ Bildungsplan für dieses Fach erlassen und deren förmlicher Unterrichtserlaubnis sie als Religionslehrkräfte bedürfen. Sie tun es in klarer Abgrenzung gegenüber dem frömmlerischen Religionsunterricht früherer Zeiten. Sie sind im besten Sinne „modern“ und häufig bei ihren Schüler*innen beliebt, weil sie ein besonderes Privileg haben und auch wahrnehmen: Zwar erteilen sie Zensuren und nehmen Prüfungen ab. Aber sie sind nicht selten zugleich Lebenshelfer*innen oder „Seelsorger*innen“ im besten Sinne.
Was ich hier über die Lehrkräfte des Unterrichtsfachs Religion schreibe, gilt auch für die Ethik-Lehrkräfte. Auch sie sind häufig Helfer*innen bei der Suche nach dem Sinn des Lebens und beim Erwachsenwerden. Gerade vor diesem Hintergrund stelle ich die Frage: Warum verweigert unsere Landesregierung den Schüler*innen der Grundschulen und der SBBZ die Einführung des Ethikunterrichts? Warum wird den Grundschüler*innen, die anderen Glaubensrichtungen angehören (darunter sehr viele migrantischer Herkunft) oder die konfessionsfrei aufwachsen oder die vom konfessionellen Religionsunterricht abgemeldet sind, ein „Ersatzfach“ vorenthalten? Warum werden sie ihrer „negativen Religionsfreiheit“ beraubt und in den konfessionellen Religionsunterricht umgeleitet?
Wenn die einen Schüler*innen ihr ganzes Schulleben lang zweier Religionsstunden pro Woche bedürfen, um die Grundlagen unseres Zusammenlebens zu erkunden und zu erkennen, dann verlange ich für die „anderen“ ein gleichwertiges und glaubensneutrales Alternativ-Angebot. Denn die „anderen“ bilden inzwischen die Mehrheit, und sie brauchen dieses Angebot mindestens so dringend wie die Kinder, für die der Staat Religionsunterricht anbietet, für den er die Lehrkräfte ausbildet und bezahlt, die Räume, die Bibeln und Gesangbücher kostenfrei bereitstellt.
Die baden-württembergische Landesregierung verweigert der Hälfte aller Schüler*innen der öffentlichen Grundschulen und der SBBZ nicht nur den Ethikunterricht. Sie lenkt außerdem einen Großteil der Betroffenen bewusst und widerrechtlich in den Verzicht auf ein Grundrecht hinein. Das ist schäbig und schändlich zugleich.
Meine persönliche Utopie wäre ein gemeinsamer, verpflichtender Ethikunterricht für alle Schüler*innen. Aber solange der Religionsunterricht ein ordentliches Lehrfach ist, brauchen wir das Ersatzfach Ethik an der Grundschule und an den SBBZ (sowie endlich auch an allen beruflichen Schulen, aber das ist ein anderes, noch komplizierteres Thema).
Die zweite Antwort auf diese Frage findet man in der KM-Antwort auf den SPD-Antrag nur, wenn man das Tabellenmaterial durchsucht: Im Schuljahr 2022 / 23 besuchten 71,3 Prozent der Grundschulkinder den Religionsunterricht. Das ist ein frappierender Unterschied: Obwohl nur knapp 51 Prozent zu dessen Besuch verpflichtet sind, nehmen gut 71 Prozent aller Grundschulkinder daran teil.
Wie kommt es zu dieser Differenz von 20 Prozent? Die Erziehungsberechtigten von gut 76.000 Schüler*innen schicken ihr Kind freiwillig in den Religionsunterricht. Eine wirkliche, neutrale, akzeptable Alternative ist das nicht. Denn wie das Bundesverfassungsgericht 1987 eindeutig festgestellt hat, ist der Religionsunterricht „keine überkonfessionelle vergleichende Betrachtung religiöser Lehren, nicht bloße Morallehre, Sittenunterricht, historisierende und relativierende Religionskunde, Religions- oder Bibelgeschichte. Sein Gegenstand ist vielmehr der Bekenntnisinhalt, nämlich die Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Diese als bestehende Wahrheiten zu vermitteln ist seine Aufgabe.“ (BVerfG, Beschluss vom 25. Februar 1987, 1 BvR 47 / 84)
Amtliche Nötigung statt Freiheit
Das KM weiß das natürlich. Und obwohl es in seiner Stellungnahme zum SPD-Antrag kein Wort darüber verliert, trägt es massiv zu der stillschweigenden Umlenkung von mehr als 76.000 anders- oder nichtgläubigen Grundschüler*innen in den Religionsunterricht bei. Auf einem vom Ministerium vorgeschriebenen Formular, das nicht modifiziert werden darf, müssen die Erziehungsberechtigten der „anderen“ Kinder anlässlich der Einschulung oder eines Schulwechsels folgende (in kaum verstehbarem Bürokratendeutsch verfasste) Erklärung abgeben:
- Mein / Unser Kind gehört keinem Bekenntnis oder einem Bekenntnis an, für das Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen nicht eingerichtet ist.
Danach haben sie die Wahl zwischen zwei Optionen; sie müssen das jeweils Zutreffende ankreuzen und unterschreiben:
- Mein / Unser Kind soll deshalb an keinem Religionsunterricht teilnehmen.
- Wir wünschen / ich wünsche die Teilnahme unseres / meines Kindes am Religionsunterricht des Bekenntnisses (es folgt die Aufzählung von acht Konfessionen, für die an der Grundschule faktisch jedoch nur evangelischer und katholischer Religionsunterricht angeboten wird)
Kein Wunder, dass viele Eltern (auch Atheisten oder Muslime) die zweite Option wählen und ihr Kind „freiwillig“ zum Religionsunterricht anmelden. Warum tun sie das? Es liegt in der Regel weder an der Attraktivität des Religionsunterrichts noch am Interesse der Eltern oder ihrer Kinder, etwas aus erster Hand über die Religion zu erfahren. Es ist eher der Wunsch, dass die Kinder in den „Hohlstunden“ nicht ohne Aufsicht auf dem Schulgelände herumtoben oder in einem tristen Aufenthaltsraum oder in der Parallelklasse herumsitzen. Dann sollen sie doch lieber mit ihren christlichen Mitschüler*innen in die Reli-Stunde gehen. „Das bisschen Singen und Beten wird ihnen ja nicht schaden“, fügen manche Eltern hinzu.
Hier zeigt sich, wie sehr Staat und Kirche in unserem Lande miteinander verschmolzen sind. Das KM erwähnt zwar ausdrücklich die „negative Religionsfreiheit“. Aber es weiß genau, dass dies inhaltlich ein klarer Verstoß gegen ein Grundrecht ist.
Schlimmer noch: Während das KM den Schulen ausdrücklich verbietet, für die Abmeldung vom Religionsunterricht Formulare bereitzuhalten, stellt es für den umgekehrten Fall, nämlich die Anmeldung zur „freiwilligen“ Teilnahme, nicht nur amtliche Formulare bereit, sondern verpflichtet die Betroffenen sogar zum Ausfüllen und zur Unterschrift. Das erinnert an den Austritt aus der Kirche. Das muss man beim Standesamt tun und man hat dafür eine Gebühr zu entrichten. Der Eintritt in eine Religionsgemeinschaft ist hingegen kostenlos, obwohl er exakt den gleichen Verwaltungsaufwand erfordert wie der Austritt. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!