Bildung. Mutig. Los.
Vier kühne Vorschläge zur Reform des Schulsystems
Es kann nicht alles bleiben, wie es ist, meint der Schulpädagoge Prof. Jörg Ramseger. Er skizziert, was sich ändern muss, damit Bildung für alle möglich wird. Dafür erwartet er von allen, pädagogische und betriebliche Routinen zu hinterfragen.
Wie alle anderen gesellschaftlichen Subsysteme steht auch die Schule angesichts rapider gesellschaftlicher Veränderungen und Umbrüche unter ständigem Innovationsdruck. In den nächsten 13 Jahren wird die Weltbevölkerung um eine weitere Milliarde Menschen anwachsen. Im Verein mit dem raschen Anstieg des Global Warming – in Spanien geht derzeit schon im Frühjahr in vielen Regionen das Trinkwasser zu Ende – müssen wir in naher Zukunft mit ungesteuerter Zuwanderung bislang nicht gekannten Ausmaßes rechnen. Globale Entwicklungen wie Krieg und Migration und deren lokale Folgen wirken sich jetzt schon auf die Realität einer jeden Schule aus und verändern permanent den öffentlichen Erwartungsdruck auf unsere Bildungsinstitutionen.
Die Schere zwischen sozio-ökonomisch gesicherten und benachteiligten Kindern und Jugendlichen wird dabei immer größer. Es gibt in unserem auslese- und notenfixierten Schulsystem keinerlei Bildungsgerechtigkeit. Neue entwicklungspsychologische Erkenntnisse über das Lernen – Stichwort „Ko-Konstruktion“ – und neue Bildungsziele im Rahmen einer „Kultur der Digitalität“, in der das kulturelle Leitmedium „Buch“ mehr und mehr Konkurrenz vom neuen Leitmedium „Computer“ erfährt, legen auch ein grundsätzliches Nachdenken über die Gestaltung des Unterrichts und des ganzen Schulsystems nahe (Stalder, 2016). Ich kann aus Platzgründen nur vier Andeutungen machen, in welche Richtung meines Erachtens Veränderungen notwendig und sinnvoll sind.
1. Die echte Ganztagsschule
Bis auf Österreich und Deutschland ist die Ganztagsschule in fast allen Ländern der Welt die Normalform von Schule. Im Gegensatz zu Ostdeutschland, wo die Kinder aus politischen Gründen schon seit dem Beginn der DDR ganztägig in staatlicher Beaufsichtigung waren, weil der Staat die Arbeitskraft aller Frauen brauchte, ist die Ganztagsschule in Westdeutschland erst seit wenigen Jahren gesellschaftsfähig. Die Entwicklung vollzieht sich an verschiedenen Orten in unterschiedlichem Tempo: Aus der unzuverlässigen Halbtagsschule entwickelt sich eine verlässliche Halbtagsschule mit Suppenausgabe, aus der kooperativen Ganztagsschule oder Schule-Hort-Kombination entsteht eine gebundene Ganztagsschule für alle Kinder bis 15:30 oder 16:00 Uhr, die vielerorts noch mit einem Früh- und einem Späthort ergänzt wird.
Bei den Eltern der Mittelschicht ist die Schule-Hort-Kombination sehr beliebt, insbesondere, wenn sie ihre Kinder nachmittags zu ganz verschiedenen Zeiten aus dem Hort abholen können, um sie zu anderen, außerschulischen Sport-,Vergnügungs- oder Bildungseinrichtungen zu fahren. Das passt zur Freiheit von wohlhabenden Konsumenten, die es gewohnt sind, die Befriedigung höchst individueller Bedürfnisse in großer Freiheit selbst zu entscheiden.
Aus pädagogischer Sicht ist das allerdings eine ungünstigste Konstellation, weil durch die unterschiedlichen Anwesenheitszeiten der Kinder am Nachmittag eine genuin pädagogische Arbeit, beispielsweise mit künstlerischen oder handwerklichen Angeboten oder auch längerfristigen Projekten, kaum mehr möglich ist. Und: Die unterschiedlichen Professionen, die mit den Kindern arbeiten, vormittags Lehrkräfte, nachmittags sozialpädagogisches Fachpersonal, kommen kaum miteinander ins Gespräch.
Im Gegensatz dazu haben gebundene Ganztagsschulen mit einer durchdachten Rhythmisierung des ganzen Tages und einer echten Teamarbeit, bei der alle Berufsgruppen über den Tag verteilt mit den Kindern arbeiten, einen großen Vorteil: Sie bieten in der Regel eine Fülle von Lernmöglichkeiten und Entwicklungsgelegenheiten, die kein Elternhaus allein bereitstellen kann.
Die Verwirklichung einer solchen Vision einer guten gebundenen Ganztagsgrundschule mit rhythmisiertem Tageslauf in abwechselnden Phasen von Anspannung und Entspannung hat meiner Erfahrung zufolge viele Voraussetzungen.
Dazu zählen vor allem:
- auf Seiten der sozialpädagogischen Fachkräfte die Bereitschaft, sich selbst nicht als Hausaufgabenüberwacher und Basteltanten zu begreifen, sondern sich als professionell qualifizierte und staatlich anerkannte Bildungsarbeiter*innen zu verstehen und im Rahmen ihrer Kompetenzen selbstbewusst auch im Unterricht mitzuwirken;
- auf Seiten der Lehrkräfte die Bereitschaft, wie jede andere Berufsgruppe ganztägig am Arbeitsplatz Schule tätig zu sein und selbstverständlich auch die Kinder beim Mittagessen zu begleiten, Unterricht auch am Nachmittag zu erteilen und bei Bedarf auch eine erkrankte Erzieherin zu vertreten;
- von beiden Berufsgruppen die Bereitschaft, die unterrichtlichen und die unterrichtsergänzenden Bildungsangebote gemeinsam zu planen und zu verantworten und in einem rhythmisierten Tagesplan nach lernphysiologischen Kriterien klug über den ganzen Tag zu verteilen. Dies gelingt am besten im Team-Kleingruppen-Modell mit wöchentlichen Planungssitzungen der Kleinteams;
- von den Schulleitungen die Bereitschaft, das Team-Kleingruppen-Modell in der Schule zu etablieren und neue Steuerungsmodelle mit kollektiven Schulleitungen einzuführen, in denen Sprecher aller Kleinteams mitwirken;
- und von den Personalräten und Lehrkräfteverbänden die Bereitschaft, die überkommenen Berufsbilder der Lehrkräfte und der sozialpädagogischen Fachkräfte zu überwinden, neue, zeitgemäßere Arbeitsplatzbeschreibungen für beide Berufsgruppen zu entwickeln und ihren langjährigen Widerstand gegen neue Arbeitszeitmodelle aufzugeben.
Das sind starke Veränderungen unserer pädagogischen und betrieblichen Routinen. Wie die Erfahrungen mit Schulen, die so arbeiten, zeigen, darunter viele Schulpreisschulen, werden die Mitarbeiter*innen, die sich auf solche Veränderungen einlassen, mit erhöhter Motivation, einer wirksameren Lernprozessgestaltung sowie geringeren Burn-out-Raten und geringeren Krankenraten reagieren.
2. Die wirklich inklusive Schule
Es gab einmal eine hübsche Idee in Deutschland. Sie nannte sich „Inklusion“ und zielte auf die vollständige Teilhabe aller Menschen an allen gesellschaftlichen Errungenschaften – ohne Rücksicht auf Geschlecht, Hautfarbe, Religion, individuelle Leistungsvoraussetzungen und sozio-ökonomischen Status. Inklusion sollte erreicht werden durch Schulen, die keine Auslese mehr betreiben und so gut ausgestattet werden, dass sie im Rahmen eines gemeinsamen Unterrichts allen Kindern und Jugendlichen individuell zugemessene Lernangebote unterbreiten könnten. Es gab höchst erfolgreiche Vorreiter, die Integrationsschulen der 1970er und 80er Jahre in Westdeutschland. Und es gab und gibt viele Vorbilder von wirklich inklusiven Schulen, nicht nur in Südtirol oder Skandinavien, sondern auch in Deutschland – man denke nur an den wunderbaren Dokumentarfilm von Hella Wenders über die Schule „Berg Fidel“ in Münster und die schönen ermutigenden Bücher von Barbara Wenders und Reinhard Stähling, die die Praxis einer wirklich inklusiven Schule beschreiben. Sie alle zeigen: Inklusion ist möglich!
Indes sind viele Lehrkräfte skeptisch geworden und manche wenden sich enttäuscht oder frustriert ab, wenn nur das Wort „Inklusion“ geäußert wird. Von der Politik allein gelassen und vielerorts nicht hinreichend ausgestattet, fühlen sie sich mit der schweren Aufgabe, allen Kindern und Jugendlichen im gemeinsamen Unterricht gerecht werden zu wollen, völlig überfordert – und sind es vielerorts auch. Das ist aber kein Argument gegen die schöne Idee, sondern eine Anklage hinsichtlich der unzulänglichen Unterstützung, die die Pädagog*innen in den Schulen erfahren!
Das größte Problem ist aber ein ganz anderes: Tatsächlich halten die Schulverwaltungen in allen Bundesländern eisern an dem grundlegenden Systemwiderspruch fest, die Schulen mit einem absurden Doppelauftrag zu versehen – Bildung und Auslese –, wobei die Auslesefunktion der Schule immer wichtiger und mächtiger ist als ihre Bildungsfunktion. Das Instrument, mit dem dieser Systemwiderspruch immer wieder durchgesetzt wird, ist die Zensurengebung. Indem die Lehrkräfte gezwungen werden – und so lange sie sich widerstandslos zwingen lassen! –, den Unterricht zum Wettkampf zu machen und Lernerfolg mit sozialen Vergleichen zu koppeln, werden sie wieder und wieder Versager produzieren. Denn in einem Wettkampfsystem lassen nur die Verlierer die Sieger im Siegesglanz erstrahlen. Die Verlierer*innen des Bildungssystems stehen aber seit Jahrzehnten von vornherein fest: Es sind die Kinder aus ungünstigen sozio-ökonomischen Lebensverhältnissen und die langsamer lernenden Kinder.
Solange wir alle Kinder an denselben Maßstäben messen und bei den Lernerfolgsrückmeldungen, auf die jeder Schüler und jede Schülerin ein Recht hat, in Rangfolgen aufteilen, statt die Lernanstrengungen individuell zu würdigen, werden die langsamer lernenden Kinder mit jeder Klassenarbeit immer wieder beschämt und immer weiter entmutigt. Am Ende dokumentieren die Lehrkräfte das Schulversagen der langsamer lernenden Kinder mit den Notenzeugnissen nicht nur, sie produzieren das Versagen vielmehr selbst. Das ist die unveränderbare Logik des Notensystems.
Daraus ergibt es eine einfache Schlussfolgerung: Erst wenn die Lehrkräfte sich erheben und sich weigern, dieses böse Spiel weiter zu treiben, und zu intelligenteren Verfahren einer individuumsorientierten Lernerfolgsrückmeldung übergehen, kann Inklusion realisiert und Bildungserfolg für alle Kinder erreicht werden. Ohne diese Weigerung und ohne die Weiterentwicklung des Systems der Lernerfolgsrückmeldung werden wir auch in hundert Jahren keine Chancengerechtigkeit im Bildungssystem herstellen können und wird jede neue PISA-Studie die Ungerechtigkeit unseres Systems wieder und wieder belegen. Ziffernzensuren und Bildungsgerechtigkeit sind ein unauflösbarer Widerspruch.
3. Die neue Teamschule
Wie bereits angedeutet, lassen sich die anstehenden Reformen der Schule nicht mit Einzelkämpfern realisieren. Einzelkämpfer*innen sind im pädagogischen Arbeitsfeld immer überfordert. Aber in unserem Schulsystem stehen einer echten Teamarbeit starke Hindernisse im Weg.
Dazu zählen:
- eine Lehrkräftebildung, die prinzipiell Einzelkämpfer*innen ausbildet und bewertet und nicht Team-Player,
- unterschiedliche Rollenverständnisse von Lehrer*innen und Sozialpädagog*innen,
- Standesdünkel und hierarchisches Denken,
- unterschiedliche pädagogische Ideale von Schule und Hort,
- unterschiedliche rechtliche Zuständigkeiten für Schule und Hort,
- Kommunikationsunfähigkeit einzelner Beteiligter,
- mangelndes Vertrauen,
- Traditionalismus („Schulen sind Tanker“)
- und allgemeiner Zeitmangel, insbesondere bei den besonders engagierten Pädagog*innen.
Aber: Pädagogische Einrichtungen gehen vielerorts schlecht mit der verfügbaren Arbeitszeit um. Und viele Lehrkräfte bestehen oft auf für sie selbst ungünstigen Personaleinsatzplänen ohne Leer- und Pausenzeiten („Bloß mittags schnell nach Hause!“, „Bloß KEINE Hohlstunden!“).
Indes: Alle genannten Probleme sind menschengemacht und daher grundsätzlich behebbar. Zeit ist grundsätzlich vorhanden! Jeden Tag neu. Sie kostet nichts! Ihre Verwendung ist lediglich eine Frage der eigenen Prioritätensetzung. Wenn allerdings – wie in Deutschland üblich – die Stundendeputate im Rahmen der üblichen Arbeitsverträge so hoch angesetzt werden, dass neben dem Unterricht und den Prüfungsarbeiten keine Teamzeiten und keine Zeiten für Schulentwicklungsarbeit mehr zur Verfügung stehen, sollten sich die Lehrkräfte wehren und für bessere Arbeitsbedingungen streiken.
Eine gute Begründung dafür wären auch die hohen Abbruchzahlen in der Lehramtsausbildung und die – oft gesundheitlich bedingten – Frühausstiege von Pädagoginnen und Pädagogen aus dem Beruf. Aber vor allem gilt: Die pädagogische Arbeit kann unter den eingangs genannten Aufwuchsbedingungen der Kinder und Jugendlichen in den herkömmlichen Zeittakten und Zeitmaßen nicht mehr erfolgreich geleistet werden.
Das pädagogische Argument für die reformierte und rhythmisierte gebundene Ganztagsschule lautet: Die Spaltung der Kinder in ein vormittägliches Unterrichtskind und ein nachmittägliches Betreuungskind ignoriert all unser Wissen über Biorhythmen und nachhaltiges Lernen. Der Missbrauch des Hortes als „schulergänzende Betreuungsmaßnahme“ verkennt auch die besonderen Bildungschancen des Nachmittags. Und: Die pädagogische Verantwortung für den Bildungserfolg der Kinder ist grundsätzlich unteilbar.
Es gibt im Übrigen auch eine gemeinsame Leitidee und ein gemeinsames Ziel für alle Pädagoginnen und Pädagogen in Schule und Hort. Es lautet „Bildung für alle“!
Eine solche, nicht primär auslese- und notenzentrierte, sondern primär bildungsorientierte Schule lässt sich – so meine These – in Form der rhythmisierten gebundenen Ganztagsschule eher realisieren als in separaten Einrichtungen, die kaum zusammenarbeiten.
4. Die staatliche freie Schule
Wer soll solche Veränderungen eigentlich in die Wege leiten? Der Staat wird es nicht tun. Dazu sind unsere Regierungen zu ängstlich und die Systeme zu starr und viel zu stark verrechtlicht.
Wirkliche Veränderungen können nur von den Betroffenen selbst erstritten werden, also den Schülerinnen und Schülern, den Eltern und den Pädagoginnen und Pädagogen. Aber auch sie werden wirklich nachhaltige Veränderungen nur bewirken können, wenn man die Schule aus dem System der staatlichen Planwirtschaft entlässt und in die Hand der Betroffenen gibt – als staatliche „freie Schulen“ mit extrem großen Gestaltungsfreiräumen.
Dazu müssten allerdings auch die verbeamteten Lehrkräfte wieder in die Freiheit entlassen werden, denn wer der Redefreiheit und des Streikrechts beraubt ist, wird in dieser Gesellschaft ignoriert. Erst wenn die Lehrkräfte bereit sind, auf die Privilegien des Beamtenstatus zu verzichten, und – wie Lokführer*innen, Pilot*innen oder das Bodenpersonal von Flughäfen – als freie Bürger*innen für ihre berechtigten Ansprüche auf einen hochwertigen Arbeitsplatz notfalls auch streiken können, werden sie von der Politik ernst genommen werden und jene Handlungsfreiräume erhalten, die sie brauchen, um Schule verantwortlich gestalten zu können.
Literatur
Ramseger, Jörg und Kirch, Michael (Hrsg): „Lernräume und Schularchitektur. Grundschule mit Kindern neu denken, neu planen, neu gestalten“ Grundschulverband in Frankfurt a. M. Februar 2024
Stalder, Felix (2016): Kultur der Digitalität. Berlin: Suhrkamp.
Döbeli Honegger, Beat (2017): Mehr als 0 und 1: Schule in einer digitalisierten Welt. Bern: hep Verlag.