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Wie kann Baden-Württemberg wieder zum erfolgreichen Bildungsland werden?

Von Hamburg lernen – mehr Geld in Bildung investieren

Baden-Württemberg braucht einen Bildungsaufbruch. Die Grundlage für mehr Bildungsgerechtigkeit muss in den Kindertageseinrichtungen und in den Grundschulen gelegt werden. Der Blick nach Hamburg zeigt, wie es gehen könnte.

Grundschulkinder halten sich an den Händen und rennen gemeinsam los.
Hamburg legt einen besonderen Schwerpunkt auf die frühen Bildungsphasen eines Kindes. (Foto: © imago)

Ministerpräsident Winfried Kretschmann hatte sich bislang weitgehend aus der Bildungspolitik herausgehalten. Das war umso erstaunlicher, als er selbst immer wieder darauf bestand, dass Bildung ausschließlich Ländersache sei. Angesichts der schlechten Ergebnisse Baden-Württembergs im IQB-Bildungstrend 2021 für die vierten Klassen und bei Vera 3 im Jahr 2022 könnte sich dies ändern. Im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur kündigte der Ministerpräsident für das Jahr 2023 einen Fokus auf die Bildungspolitik an. Kultusministerin Theresa Schopper versprach ebenfalls Investitionen in mehr Bildungsgerechtigkeit. Beides ist sehr zu begrüßen. Allerdings reichen zaghafte Modellversuche zur sozialindexbasierten Ressourcensteuerung und mit multiprofessionellen Teams dafür nicht aus. Wie wichtig und zielführend mehr Investitionen vor allem in Grundschulen und Kindertageseinrichtungen sein können, zeigt ein Blick über die Landesgrenzen nach Hamburg, das sich bei den IQB (Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen) Bildungsstudien im bundesweiten Vergleich seit 2011 erheblich verbessert hat.

In allen Bundesländern sind die Leistungen der Viertklässler*innen 2021 gegenüber der letzten IQB-Erhebung im Jahr 2016 deutlich zurückgegangen. Ein wichtiger Grund dürften die Corona-Schulschließungen sein. Andere Untersuchungen zeigen, dass durch diese Schulschließungen Kinder aus sozial schwächeren Familien zusätzlich benachteiligt wurden, weil sie beim Lernen zuhause deutlich weniger Unterstützung erhielten. Zudem hat sich die Zusammensetzung der Schülerschaft seit dem ersten IQB-Ländervergleich im Jahr 2011 stark verändert. Im Bundesdurchschnitt stieg der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund in den vierten Klassen von damals 24,7 Prozent auf 38,3 Prozent im Jahr 2021. Besonders hoch ist der Anstieg in den vierten Klassen in Baden-Württemberg: Fast die Hälfte (49,2 Prozent) der Viertklässler*innen im wirtschaftlich starken Baden-Württemberg haben einen Zuwanderungshintergrund. Dieser Anteil ist der mit Abstand bundesweit höchste aller Flächenländer, vergleichbar mit dem Stadtstaat Hamburg. Dort haben 51,8 Prozent der Grundschüler*innen in den 4. Klassen einen Zuwanderungshintergrund.

Im IQB-Bildungstrend 2021 wurden die Leistungen von Schüler*innen in den wichtigen Basiskompetenzen Lesen, Zu­hören, Orthografie und in Mathematik am Ende der Grundschulzeit erhoben. Dabei haben sich die Leistungen in Baden-Württemberg im bundesweiten Vergleich vor allem im Lesen und Zuhören besonderes stark verschlechtert. Auch im Rechtschreiben und in der Mathematik gingen sie gegenüber 2011 und 2016 zurück. Gleichzeitig ist der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg in Baden-Württemberg deutlich ausgeprägt.

Ganz anders dagegen im Stadtstaat Hamburg (siehe Tabelle). Dort ist es 2021 gelungen, trotz vergleichbarer Herausforderungen in die Spitzengruppe der Bundesländer aufzusteigen. 2011 belegte Hamburg noch den drittletzten Platz vor Berlin und Bremen. Dieser Erfolg verbessert die Bildungschancen der dortigen Grundschüler*innen signifikant, was auch das Interesse der Baden-Württembergischen Landesregierung weckt. Kultusministerin Theresa Schopper reiste im Januar nach Hamburg, um sich dort in Schulen „intelligentes Üben“ anzuschauen. Sie sollte sich im Zusammenhang mit ihrer Reise wichtige Kennzahlen des Hamburger Erfolgs ansehen.

Was macht Hamburg anders?

Ties Rabe (SPD) ist seit 2011 bis heute Hamburger Bildungssenator. Die Hamburger Bildungspolitik sorgte kontinuierlich für Verbesserungen vor allem im Bereich der frühkindlichen Bildung und in den Grundschulen. In Baden-Württemberg regierten im gleichen Zeitraum vier Kultusminister*innen. Gabriele Warminski-Leithäuser (SPD), Andreas Stoch (SPD), Susanne Eisenmann (CDU) und Theresa Schopper (Grüne) mussten sich jeweils neu in ihre Aufgaben einarbeiten. Viele bildungspolitische Reformvorhaben wurden in diesem Zeitraum angestoßen und dann wieder durch verändere Schwerpunktsetzungen gebremst. So ist zum Beispiel die regionale Schulentwicklung nahezu zum Stillstand gekommen und auch beim Qualitätskonzept fehlen wichtige, vor fünf Jahren angekündigte Bausteine.

Hamburg investiert pro Schüler*in bedeutend mehr Geld in seine Schulen als Baden-Württemberg. Während Land und Kommunen in Baden-Württemberg 2020 pro Schüler*in den allgemeinbildenden Schulen 8.800 Euro ausgaben, waren es im Stadtstaat Hamburg 12.600 Euro. Hamburg legt dazu einen besonderen Schwerpunkt auf die frühen Bildungsphasen eines Kindes. So betrugen im Jahr 2020 die Ausgaben pro Grundschüler*im Stadtstaat 12.100 Euro, in Baden-Württemberg gerade mal 6.700 Euro.

Mehr Lehrkräfte pro Schüler*innen

Eine aussagefähige Vergleichsgröße für die Unterrichtsversorgung in einer Schulart ist die Zahl der Schüler*innen je Vollzeitlehrkraft (Schüler-Lehrkräfte-Relation). Je weniger Schüler*innen rechnerisch von einer Lehrkraft unterrichtet werden, desto besser ist die Unterrichtsversorgung. Die besten Lernbedingungen bundesweit haben Grundschüler*innen in Hamburg mit einer Relation von 13,3 Schüler*innen je Vollzeitlehrkraft. Baden-Württemberg ist mit einer Relation von 16,9 bundesweites Schlusslicht in der Unterrichtsversorgung der Grundschulen und hält diese rote Laterne durchgehend seit 2011. In Hamburger Grundschulen werden je Schüler*in 1,83 Unterrichtsstunden erteilt, in Baden-Württemberg sind es 1,44 Unterrichtsstunden je Schüler*in.

Die Grundschulklassen sind in beiden Bundesländern vergleichbar groß (Baden-Württemberg 19,6 Schüler*innen, Hamburg 20,4). In Hamburg werden jedoch mit 37,3 Unterrichtsstunden circa 30 Prozent mehr Unterrichtsstunden pro Klasse erteilt als in Baden-Württemberg. Das liegt auch daran, dass Hamburg sein schulisches Ganztagsangebot seit 2011 stark ausgebaut hat.

Ende Dezember 2022 hat das Kultusministerium die Ergebnisse der im Frühjahr 2022 durchgeführten Vergleichsarbeiten in den dritten Klassen vorgestellt. Die Leistungen in Deutsch und Mathematik sind in Baden-Württemberg noch schlechter ausgefallen als im IQB-Bildungstrend, welcher 2021 für die vierten Klassen erhoben wurde. Besorgniserregend ist, dass zu viele Grundschüler*innen in Baden-Württemberg die Mindeststandards im Lesen, im Zuhören, in der Rechtschreibung sowie in Mathematik nicht erreichen.

Im IQB-Bildungstrend 2021 verfehlten 19,1 Prozent der Kinder in den vierten Klassen die Mindeststandards, bei Vera 3 sind es nun 22 ­Prozent. In der Rechtschreibung erreichten im IQB-Bildungstrend 28 Prozent die Mindeststandards nicht, bei Vera 3 sind es 34 Prozent. In Mathematik waren es im IQB Bildungstrend 19,7 Prozent und bei Vera 3 jetzt 24 Prozent. Dabei ist der Bildungserfolg stark vom sozialen Hintergrund abhängig. Insbesondere bei Kindern mit nicht-deutscher Familiensprache fielen die Vera 3-Ergebnisse deutlich schlechter aus: 50 Prozent der Kinder mit nicht-deutscher Familiensprache verfehlten in Baden-Württemberg beim Lesen die Mindeststandards, in Mathematik waren es 43 Prozent.

Das Kultusministerium zeigte sich be­sorgt über die Ergebnisse. Kultus­ministerin Theresa ­Schopper rief die Grundschulen dazu auf, sich die Ergebnisse genau anzusehen: „Wenn beim Lesen, Schreiben und Rechnen noch nachgebessert werden soll, können die Schulen auf unser Förderprogramm Starke BASIS! zurückgreifen und Nachholbedarf gezielt angehen.“ Die GEW-Vorsitzende Monika Stein machte die Bildungspolitik der Landesregierung für die schlechten Ergebnisse mitverantwortlich. Sie kritisierte insbesondere die bundesweit schlechteste Versorgung der Grundschulen mit Lehrkräften in Baden-Württemberg.

Mehr Lernzeit für Schüler*innen

Hamburger Kinder bekommen in der Grundschule mehr Lernzeit, in der sie von Lehrkräften unterstützt werden. Diese zusätzliche Lernzeit wird zum einen für die Förderung besonderer Begabungen genutzt, zum anderen zur Sicherung der Kernkompetenzen in der Sprache und in der Mathematik. Schulen in besonders schwieriger sozialer Lage erhalten bis zu 50 Prozent mehr Personal, haben kleinere Klassen und mehr Fördermöglichkeiten im Ganztagsbetrieb. Hierzu wird für jede Hamburger Schule ein Sozialindex errechnet. Statt pädagogisch fragwürdiger Klassenwiederholungen werden schwächere Schüler*innen gezielt gefördert. Sie bekommen mindestens zwei Stunden kostenlose schulische Nachhilfe pro Woche. Die Teilnahme ist Pflicht. 

In den Schulferien wurden zusätzliche freiwillige Lernangebote eingeführt. Hamburg setzt 500 zusätzliche Lehrkräfte für Sprachförderung von der Vorschule bis zum 10. Schuljahr ein. Die Sprachförderung beginnt in Hamburg bereits früh in den Kindertageseinrichtungen. Die sprachliche Entwicklung jedes Kindes wird mit viereinhalb Jahren überprüft. Kinder mit verzögerter Sprachentwicklung werden bereits mit fünf Jahren schulpflichtig, müssen ein Jahr lang die Vorschule besuchen und werden dort gezielt sprachlich gefördert. Das Vorschuljahr in Kitas ist für alle Kinder beitragsfrei. Beitragsfreie Ganztagsangebote für alle Kinder ab der Geburt bis ins Schulalter unterstützen berufstätige Eltern und fördern die Chancengleichheit.

„In Deutsch und ­Mathe­matik werden in ­Hamburg ­gezielte ­Förderprogramme zur Stärkung der Rechtschreibung und der ­Lesekompetenz sowie der mathematischen Kompetenzen eingesetzt.“

Umgang mit Vergleichstests

In der datengestützten Qualitätsentwicklung setzt Hamburg auf die Sicherung von Kernkompetenzen und die Stärkung des Leistungsprinzips. Die Kompetenzen aller Schüler*innen in Deutsch, Mathematik und in der Fremdsprache werden jedes Jahr in den Klassenstufen 2, 3, 5, 7, 8 und 9 mit standardisierten Tests („KERMIT-Tests“) überprüft. Ergebnisse und Verbesserungsvorschläge werden schulintern und in jährlichen Gesprächen zwischen Schulaufsicht und Schulleitung erörtert. Lehrkräfte im Hamburger Schuldienst haben seit 2003 das Recht und die Pflicht, sich 30 Stunden im Jahr fortzubilden. Das Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung hält individuelle und schulinterne Angebote zur fachlichen Fortbildung und zur Schul- und Personalentwicklung bereit.

Die landesweiten Ergebnisse der flächendeckenden jährlichen Leistungserhebungen sind in Hamburg Grundlage für gezielte pädagogische Initiativen. Der Stadtstaat reagiert damit auch auf Ergebnisse des IQB-Bildungstrend.

Beispiel Mathematik: In dem Fach gehörte Hamburg 2016 und 2021 nicht zur Spitzengruppe unter den Bundesländern. Seit 2017 werden die Vorschläge einer Mathematik-Expertenkommission konsequent umgesetzt. An allen Schulen dürfen nur Lehrkräfte Mathematik unterrichten, die das Fach studiert haben oder eine besondere Fortbildung besucht haben. In Deutsch und Mathematik werden gezielte Förderprogramme zur Stärkung der Rechtschreibung und der Lesekompetenz sowie der mathematischen Kompetenzen eingesetzt.

Angleichung der Besoldung

Hamburg hat seine Schulstruktur grundlegend reformiert und vereinfacht. Seit 2010 ist die Stadtteilschule die weiterführende Schulform neben dem achtjährigen Gymnasium. Sie führt zu allen allgemeinbildenden Schulabschlüssen bis zum Abitur. Auf die steigenden Schülerzahlen (plus 25 Prozent an allgemeinbildenden Schulen) reagierte Hamburg schon 2019 mit einem ambitionierten Schulentwicklungsplan. 44 neue Schulen sollen gebaut werden, ein Drittel der bestehenden Schulen soll ausgebaut werden. Diese vorausschauende Planung umfasst auch den Personalbereich. 

Hamburg kann im Gegensatz zu den meisten Bundesländern noch alle Planstellen an den allgemeinbildenden Schulen mit fachlich ausgebildeten Lehrkräften besetzen. Die Hamburger Bürgerschaft hat 2021 die Angleichung der Besoldung beschlossen: Grund- und Mittelstufenlehrkräfte bekommen in drei Stufen mehr Geld, bis im August 2023 A 13 / E 13 erreicht ist. Ein Erfolg der Hamburger GEW.

Hamburg verzeichnet beim IQB-Bildungstrend die größte Erfolgskurve aller Bundesländer, während Baden-Württemberg sich stark verschlechtert hat. Sehr wahrscheinlich sind die erreichten Verbesserungen in Hamburg auch ein Ergebnis einer datengestützten Schul- und Unterrichtsentwicklung, die das Land seit 20 Jahren eingeführt und weiterentwickelt hat. Offensichtlich hat der Stadtstaat daraus die richtigen Schlüsse gezogen und die richtigen Maßnahmen auf den Weg gebracht. Dass Hamburg pro Einwohner mehr Geld für Bildung ausgibt und dieses Geld gezielt in frühe Bildungsphasen investiert, wird hier im Land gerne ausgeblendet. Der Blick nach Hamburg zeigt, wie die Verbesserung von Bildungsgerechtigkeit gehen kann und muss.

Was in Baden-Württemberg nachgeholt werden muss

Baden-Württemberg hat erheblichen Nachholbedarf und darf keine weitere Zeit verlieren. Wir brauchen mehr Lehrkräfte und weiteres pädagogisches Personal, vor allem in den Grundschulen. Basiskompetenzen und Spitzenleistungen gezielt zu fördern, setzt fachlich ausgebildete Lehrkräfte mit entsprechenden diagnostischen Kompetenzen voraus. Im bundesweiten Wettbewerb um qualifizierte Lehrkräfte kann unser Land nur mit einer Angleichung der Gehälter und mit einer Bezahlung aller Lehrämter mindestens in A 13 / E 13 bestehen.

Schulen, Schulleitungen und Lehrkräfte müssen Zeit und Unterstützung für die Weiterentwicklung der Unterrichtsqualität bekommen. Baden-Württemberg muss grundsätzlich mehr Geld in Bildung, vor allem in frühe Bildungsphasen, investieren. Besondere Zuwendung brauchen die Risikogruppen. Dazu gehören insbesondere Kinder aus Familien mit Zuwanderungsgeschichte oder mit sozialen Benachteiligungen. Es wird Zeit für einen Bildungsaufbruch in Baden-Württemberg mutig, kraftvoll und sofort.

Kontakt
Maria Jeggle
Redakteurin b&w
Telefon:  0711 21030-36