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G9-Gesetzesvorlage in der Anhörung

Was bringt die Gymnasialreform 2025?

Mut macht, dass die Demokratiebildung einen höheren Stellenwert gewinnt. Die „Stärkung der Naturwissenschaften“ im Bereich Chemie und insbesondere Biologie ist ein Etikettenschwindel. Die GEW bewertet die wichtigsten Elemente.

Grafik: Thomas Plaßmann

Im Juli hat der Ministerrat weitreichende Beschlüsse über die Weiterentwicklung des Schulwesens in Baden-Württemberg gefasst. Viele dieser Schulgesetzänderungen betreffen das Gymnasium. Das Gesetzgebungsverfahren soll bis Ende Januar 2025 abgeschlossen sein. Denn bis zu den Anmeldungen der neuen Fünftklässler*innen im März 2025 müssen alle Rahmenbedingungen feststehen.

Im Moment besteht also noch ein Zeitfenster für Veränderungen, die Anhörung der Gewerkschaften läuft. Wir von der GEW-Landesfachgruppe Gymnasien geben eine erste Einschätzung und benennen, was noch verbessert werden muss. Klar ist: Die weitere Ausgestaltung der Reform wird uns noch lange beschäftigen. Wir bleiben da dran.

1. Werden die Lernprozesse der Schüler*innen entschleunigt?

Auch Baden-Württemberg wird ab dem Schuljahr 2025/2026 als Regelform zum neunjährigen gymnasialen Bildungsgang zurückkehren. Wir von der GEW-Landesfachgruppe haben dieses zusätzliche Schuljahr als „mehr Zeit für gute Bildung“ seit vielen Jahren gefordert. Es kam hier viel Unterstützung von Eltern, vom Bürgerforum und auch von Seiten der Beamtenbundverbände. Diese Umsetzung ist ein großer Erfolg. Umgerechnet auf die Wochenstundenzahl kommt man mit der neuen Stundentafel (in den Klassen 5 bis 11) auf durchschnittlich knapp 32 Wochenstunden. Das bedeutet im Vergleich zum aktuellen G8 mindestens einmal Nachmittagsunterricht weniger.

Aber: Für ein entspannteres Lernen ist nicht nur das Zeitbudget wichtig, entscheidende Faktoren sind auch Bildungspläne und Prüfungsformate. Die zusätzlichen Mittel für Bildungsplanarbeiten, die der aktuelle Gesetzesentwurf enthält, sind überschaubar. Die von uns geforderte differenzierte Revision der Bildungspläne, das heißt klar formulierte Mindeststandards plus fakultative Add-ons zur Vertiefung in der Verantwortung der einzelnen Lehrkraft, wird sich dadurch nicht bestreiten lassen. Und auch unsere alten Forderungen nach mehr Freiräumen für uns Lehrkräfte bei der Durchführung von Prüfungen, nach deren zeitgemäßer Ausgestaltung im Zeitalter von KI sowie nach deren didaktischer Aufwertung (als Teil des didaktischen Kreislaufs feed up – feed back – feed forward) stehen nach wie vor im Raum.

Außerdem problematisch: Zusätzlich soll „im Rahmen der [...] zugewiesenen Ressourcen“ die Einrichtung von G8-Zügen möglich werden. In einer Rechtsverordnung soll noch geregelt werden, wie die neuen, zusätzlichen Elemente der Reform in einen achtjährigen gymnasialen Bildungsgang integriert werden können. Erfahrene Kolleg*innen werden sich erinnern: Die Parallelführung von G8 und G9 löste damals einen immensen Verwaltungsmehraufwand aus. Vor allem die 14 Gymnasien mit Hochbegabten-Zug werden sich überlegen, ob sie diese Option einer Akzeleration realisieren möchten.

Bewertung durch die GEW-Fachgruppe Gymnasien: 3 von 5 Sternen.

2. Wieviel Ressourcen fließen in das neue G9? – Die Stundentafel

Die positive Nachricht: Die Landesregierung ist bereit, das G8-Sparmodell nach 20 Jahren zu revidieren und zusätzliche Finanzmittel in den Ausbau gymnasialer Bildung zu investieren. Alle Ressourcen für das neue G9 zusammengerechnet reichen fast an das Ressourcengesamtvolumen des alten G9 heran. Allerdings werden die verfügbaren Stunden inzwischen auch auf deutlich mehr Fächer und Aufgaben verteilt. Ein wichtiger Zwischenerfolg ist der Erhalt von fünf frei verfügbaren Poolstunden. Diese sind für Gymnasien mit besonderer Profilierung (bili, Abibac, altsprachlich) essentiell wichtig.

Aber in der aktuell projektierten Form weist die neue Stundentafel auch gravierende Fehlallokationen auf:

  • Klare Verliererin der Reform ist die kulturelle Bildung. Kunst und Musik werden nun in fast allen Klassen nur noch einstündig unterrichtet. Auch andere zweistündige Fächer (zum Beispiel Sport, Religion, Ethik und Biologie) erhalten die Stunden, die sie damals bei der Einführung von G8 eingebüßt hatten, nicht zurück.
  • Mit der Entscheidung, den Beginn der zweiten Fremdsprache in Klasse 6 und die Profilwahl in Klasse 8 zu belassen, werden alle anderen Fremdsprachen (außer Englisch) sowie die Profilfächer durchgängig nur noch dreistündig unterrichtet und verlieren somit deutlich an Gewicht gegenüber Deutsch, Mathe und Englisch beziehungsweise erster Fremdsprache, die als „Grundlagenfächer“ in den Klassen 5 und 6 zusätzliche Unterrichtszeit erhalten (jeweils plus eine Stunde).

Hier schreitet die Mainstreamisierung im Bildungskanon also weiter voran. Die Grundausstattung der minderbemittelten Hauptfächer (zweite Fremdsprache und Profilfächer) ist so inakzeptabel. Die meisten Schulen werden ihre fünf Poolstunden in diesen Fachunterricht investieren müssen, um die gröbsten Unwuchten abzufedern. Hier muss in der Reform dringend noch nachgesteuert werden.

Bewertung durch die GEW-Fachgruppe Gymnasien: 3 von 5 Sternen.

3. Orientiert sich die Reform an der gesellschaftlichen Wirklichkeit?

Fortschritte wird es in den Bereichen Demokratiebildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) geben. Beide Bereiche sind erklärtermaßen eine Herzensangelegenheit der Fachgruppe Gymnasien. Es soll „unter Einbezug außerschulischen Engagements“ in Klasse 11 (angedockt an Gemeinschaftskunde) einen Projektkurs Demokratiebildung geben. Und außerdem werden (angebunden an Geographie) zwei Stunden fächerverbindender Projektunterricht zum Thema BNE eingeführt (vermutlich in Klasse 7). Beide Maßnahmen gehören zu den Stärken der Reform. Hoffentlich eröffnet dieser Projektunterricht tatsächlich Freiräume für gelebte demokratische partizipative Prozesse an der Schule vor Ort und setzt Impulse frei für ein der Zukunft zugewandtes Engagement für ein würdevolles Leben innerhalb der planetaren Grenzen.

Aufbauend auf den (nun auch in Klasse 6 verpflichtenden) Basiskurs Medienbildung wird es ein neues Pflichtfach Medienbildung/Informatik geben (einstündig in den Klassen 7 bis 11). Hier wird man schauen müssen, wie die beiden unterschiedlichen Bereiche sich curricular sinnvoll zusammenbringen lassen. Zur Erinnerung: Wir hatten ein reines Fach Informatik sowie ein fächerintegratives Curriculum für Medienkompetenz und Digitalkunde gefordert. Ein wichtiger Erfolg: Das NwT-Profil bleibt (inklusive der Technikinhalte) erhalten, wird aber durch einen neuen Informatikanteil ergänzt. Hier hat sich der Einsatz (auch im Interesse der Studierenden und Absolvent*innen des Fachs in Karlsruhe) gelohnt; allerdings zum Preis, dass nun das IMP-Profil wegfallen soll. Es bleibt fraglich, ob sich die neuen Informatikanteile wirklich nahtlos in das bestehende NwT-Profil integrieren lassen.

Aber: Für den naturwissenschaflichen Unterricht gibt es kaum Fortschritte. Der dreistündige Fächerverbund Biologie, Naturphänomene und Technik (BNT) wird aufgelöst. Zwar behält die Biologie daraus ihre Fachanteile (je zwei Stunden in Klasse 5 und 6), aber ausgerechnet die wichtige Lebenswissenschaft kann dann anschließend (von Klasse 7 bis 11) durchgängig nur noch einstündig unterrichtet werden. Hier muss dringend nachgesteuert werden. Die beiden weiteren BNT-Stunden (je eine Stunde in Klasse 5 und 6) entfallen. Als Kompensation erhält Chemie eine Stunde mehr und Physik zwei Stunden zusätzlich in Klasse 7 in Projektform. Summa summarum können die naturwissenschaftlichen Fächer also nur ein Plus von einer Stunde verbuchen.

Unerfreulich außerdem: Es ist in Baden-Württemberg weiterhin nicht möglich, Darstellendes Spiel/Theater als Unterrichtsfach zu etablieren, obwohl dessen wichtiger Beitrag zur formalen Bildung hinlänglich bekannt ist. Allgemeinbildung sieht anders aus.

Bewertung durch die GEW-Fachgruppe Gymnasien: 2 von 5 Sternen.

4. Entwickelt sich die Lernkultur weiter?

Ja, in kleinen, aber erkennbaren Schritten: Für die Klassen 5 und 6 wird erstmalig eine verbindliche Klassenstunde eingeführt. Zur Unterstützung der Gruppenbildungsprozesse ist das wichtig und richtig. Die entsprechenden Bedarfe gerade auch in der Mittelstufe bleiben aber unerfüllt. Auch einen verpflichtenden Einstieg in das individuelle Mentoring für Schüler*innen (der Klassen 7 und 10) soll es geben.

Vor allem die Praxiserfahrung soll mit zwei zusätzlichen Stunden für WBS gestärkt werden. Hier ist (wie beim Demokratieprojekt in Klasse 11) eine programmatische Öffnung des Unterrichts nach außen erkennbar, beim BNE-Projekt der Gedanke der Handlungsorientierung und des fächerverbindenden Lernens.

Aber: Die großen Herausforderungen, die sich uns schon seit vielen Jahren stellen, zum Beispiel die Adaptivität und Individualisierung des Unterrichts, die Etablierung eines formativen Assessments, der flächendeckende Aufbau von Unterstützungssystemen für partielle Förderbedarfe, die Stärkung von Eigenverantwortung, Selbstwirksamkeitserfahrungen und Resilienz und so weiter stehen weiterhin unbearbeitet im Raum. In einem echten G-NEU realisieren und erweitern unsere Schüler*innen nicht nur langfristig ihre Leistungspotenziale, sondern lernen auch, sich erfolgszuversichtlich und mutig in unsere Gesellschaft einzubringen.

Bewertung durch die GEW-Fachgruppe Gymnasien: 2 von 5 Sternen.

5. Werden Lehrkräfte entlastet?

Einen Stern gibt es für die mit Anrechnungen hinterlegte Einführung des Schüler*innenmentorings. Für die (im Moment geplanten) durchschnittlich drei Einzelgespräche pro Jahr und Schüler*in erhält die Lehrkraft für ihre Klasse eine Anrechnungsstunde. Außerdem erscheint langfristig eine mittelbare Entlastung aus den projektorientierten Arbeitsformen möglich. Diese diversifizieren den Arbeitsalltag der Lehrkräfte, fächerübergreifende Projekte erfordern eine erweiterte Kooperation. Beides kann trotz zusätzlicher Zeitbedarfe in der Aufbauphase längerfristig zu größerer Arbeitszufriedenheit führen.

Aber: Wenn viele Fächer nur noch drei- beziehungsweise einstündig unterrichtet werden, erhöht sich für die einzelne Lehrkraft die Anzahl der zu unterrichtenden Klassen. Mit dem Aufwuchs von G9 stehen wir hier vor einer schleichenden Arbeitsverdichtung. Das geht so nicht. Überhaupt sind unterstützende Ressourcen für die Lehrkräfte bei der Implementierung der Reform bislang nicht vorgesehen. Diese sind aber eine notwendige Gelingensbedingung, wenn es um die praktische Umsetzung und konkrete Ausgestaltung der neuen Reformelemente geht. Unsere langjährige GEW-Forderung lautet: Wir brauchen für jede Lehrkraft zwei (auf das Deputat voll angerechnete) feste Stunden Teamzeit pro Woche. Das würde die Unterrichtsqualität sprunghaft voranbringen.

Bewertung durch die GEW-Fachgruppe Gymnasien: 1 von 5 Sternen.

Fazit

Die beschlossene Reform ist erkennbar ein politischer Kompromiss der grün-schwarzen Landesregierung. Sie beinhaltet positive Ansatzpunkte, die für Baden-Württemberg echte Neuerungen darstellen. Ganz offenbar war hier die jahrelange programmatische Arbeit der GEW-Landesfachgruppe Gymnasien und unser politisches Engagement für eine grundsätzliche Weiterentwicklung gymnasialer Bildung (G-NEU) nicht wirkungslos. Angesichts der ursprünglichen Beschlusslage im aktuellen Koalitionsvertrag (keine Veränderung der Schulstruktur) ist das auf jeden Fall ein Erfolg. Auf der anderen Seite bleibt die Reform weit hinter dem zurück, was Bildungsforscher*innen im internationalen Vergleich als state of the art formulieren.

Von uns Lehrkräften wird die Umsetzung der Reform viel Zusatzengagement erfordern. Wir müssen uns kollegial und schulisch koordinieren und Wege finden, wie wir das neben dem Alltagsgeschäft einigermaßen gut hinbekommen. Aktuell stehen jetzt aber erst einmal deutliche Nachjustierungen der Reform auf der Agenda.

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Markus Riese
Vorsitzender Fachgruppe Gymnasien, Mitglied im HPR
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Vorsitzende Fachgruppe Gymnasien
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