Von der christlichen Schule zur Simultanschule
Was heute noch unerledigt ist
„Den Unterricht scheide keine Confession“, über diese Forderungen der badischen „Freunde der Verfassung“ von 1847 hat Michael Rux immer wieder geschrieben. Warum er für eine echte Trennung von Staat, Schulen und Kirche eintritt.
Michael Rux hat stets ausführlich und geschichtlich fundiert begründet, warum er für eine echte Trennung von Staat, Schulen und Kirche eintritt. Kurz vor seinem Tod hat er der b&w dazu ein letztes Manuskript geschickt.
Ich will aus meiner eigenen Erfahrung, sozusagen biografisch, über die Herkunft und Entwicklung der „Christlichkeit“ unseres Schulwesens berichten. Als ich mich 1963 an der damals katholischen PH Freiburg einschrieb, betrat ich eine fremde Welt. Bis dahin hatte ich in einem Teil Deutschlands gelebt, wo Religion oder Christlichkeit im Schulwesen kaum eine Rolle spielten.
Ganz unbefangen trug ich auf dem Anmeldebogen der PH bei Konfession ein: keine. Der Rektor lud mich freundlich zum Gespräch: „Wir sind eine katholische PH, vielleicht wäre es besser, wenn Sie als Nichtchrist an einer simultanen Hochschule studieren würden, beispielsweise in Karlsruhe“. Bis dahin hatte ich gar nicht gewusst, dass staatliche Hochschulen einen religiösen Charakter haben könnten. Und es war das erste Mal, dass ich den Begriff „simultan“ für eine Bildungseinrichtung hörte. Seitdem hat mich dieses Thema nicht mehr losgelassen. Was bedeutet „simultan“ und was heißt eigentlich „christliche Gemeinschaftsschule“?
Kein Feind der Religionen
Ich bin ein bekenntnisfreier Mensch, gehöre also keiner Glaubensgemeinschaft an. Mich leitet die Formel des Grundgesetzes: Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
Ich bin kein Feind der Religionen oder ihrer Gläubigen, sondern ich lehne jede Benachteiligung aus weltanschaulichen oder Glaubensgründen ab. Und ich widerspreche jeder Privilegierung von Glaubensgemeinschaften oder deren Angehörigen. Alle öffentlichen Einrichtungen, vor allem auch die Schulen, müssen nach diesem Grundsatz der Säkularität gestaltet und betrieben werden.
In der Verfassung des Landes Baden-Württemberg kommt das Wort „Gott“ ganze drei Mal vor:
- Im „Vorspruch“ wird betont, die Verfassung sei „im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen“ erlassen worden.
- Die Schlussformel des amtlichen Beamteneids lautet „So wahr mir Gott helfe“ (ist aber fakultativ).
- Die Jugend ist in der „Ehrfurcht vor Gott“ und „im Geiste der christlichen Nächstenliebe“ zu erziehen (Eingangsworte von Artikel 12).
Mit diesen deklamatorischen Aussagen konnte ich schon immer leben. Sie entsprangen dem Zeitgeist (1953!) und sollten vor allem eins dokumentieren: Die Nazizeit ist vorbei. Jetzt beginnt ein neues Zeitalter.
Mit dem christlichen Gott hatte ich noch nie Probleme. Zwar hatten die Väter und Mütter der Verfassung 1953 mit Gott sicherlich den christlichen Schöpfer gemeint. Für mich wertet das Attribut „christlich“ das Prinzip der Nächstenliebe weder auf noch ab.
Jedoch: Die Landesverfassung enthält noch zwei weitere Bezüge zum Christentum beziehungsweise zur Religion:
- Der Religionsunterricht ist an allen Schulen „ordentliches Lehrfach“.
- Die Verfassung erklärt alle Grund- und Hauptschulen zu „christlichen Gemeinschaftsschulen“.
Wie kam es dazu und was bedeutet das eigentlich?
Zwei Sorten von Schule
In Baden-Württemberg bestehen heute nebeneinander zwei weltanschaulich unterschiedliche Schulsysteme:
Die Realschulen, die Gymnasien, die sonderpädagogischen Schulen (SBBZ), die Gesamtschulen sowie das gesamte berufliche Schulwesen besitzen weltanschaulichen Charakter. Abgesehen vom Religionsunterricht sind sie „säkular“. Die Grundschulen und die Hauptschulen (heute: Werkrealschulen) sind dagegen christliche Gemeinschaftsschulen mit einem „christlich-abendländischen“ Bildungsauftrag. Auch die Gemeinschaftsschulen sind christlich zu führen.
Der größte Teil unserer Schüler*innen, rund 820.000, besucht eine säkulare öffentliche Schule. Diese Schulen haben außer durch den Verfassungsauftrag, die Jugend „in Ehrfurcht“ beziehungsweise „in Verantwortung vor Gott“ und „im Geist der christlichen Nächstenliebe“ zu erziehen, keinen rechtlich verbindlichen religiös-weltanschaulichen Bezug. Zwar gibt es an diesen Schulen Religionsunterricht und gelegentlich Schulgottesdienste, aber beides ohne Teilnahmepflicht.
Der kleinere Teil der Schüler*innen, rund 525.000, besucht eine öffentliche Schule mit dezidiert christlichem Charakter und einem besonderen, christlich-abendländischen Erziehungsziel. Rund 395.000 Schüler*innen besuchen eine Grundschule, die Haupt- / Werkrealschule ist mit 41.000 Schüler*innen fast ausgestorben und die Gemeinschaftsschule besuchen etwa 89.000 Schüler*innen.
Damals war es in Freiburg noch anders
Als ich 1963 das Studium an der PH in Freiburg aufnahm, besuchte die übergroße Mehrheit der Schüler*innen die „Volksschule“ – erst seit 1964 heißt sie: „Grund- und Hauptschule“. 1960 machten im Land Baden-Württemberg ganze 5,5 Prozent der Schüler*innen das Abitur und nur 10,4 Prozent erreichten die Mittlere Reife – aber das galt nur für die Städte. Das Dorf blieb Dorf. „Höhere Bildung“ war zu weit weg.
Der Unterricht meiner Volksschule begann und endete täglich mit einem Schulgebet. So gut wie alle Schüler*innen und Lehrkräfte waren katholisch oder evangelisch. Vor und nach den Schulferien nahmen alle an einem (christlichen) Schulgottesdienst teil.
Selbstverständlich war in jedem Klassenzimmer ein Schulkreuz angebracht. Vor Weihnachten gab es ein Krippenspiel für alle. Fronleichnam prozessierten die katholischen Schüler*innen über die Äcker und am Reformationstag marschierten die evangelischen in die Kirche.
Selbstverständlich nahmen alle Schüler*innen am Religionsunterricht teil. Die Abmeldung davon war eine absolute Ausnahme. Auch die wenigen abgemeldeten, andersgläubigen oder bekenntnisfreien Schüler*innen saßen als stille Gäste in Reli dabei. „Schadet ja nix“, meinte der Rektor, „wenn sie etwas über Gott erfahren“.
Ein Sprung zurück in die Geschichte
Im Jahr 1806 ordnete Napoleon Europa neu. Dabei wurde ein Flickenteppich von Klein- und Kleinst-Territorien zu einem neuen Land vereinigt: Großherzogtum Baden. Ein landwirtschaftlich geprägtes, christliches Land mit 800.000 katholischen, 400.000 evangelischen und 20.000 jüdischen Bürger*innen. Ein aufgeklärtes Herrscherhaus gab dem neuen Staat eine fortschrittliche Verfassung.
Die badischen „Freunde der Verfassung“ wollten 1847 ihr neues Land weiterentwickeln – zu einem demokratischen Rechtsstaat. Dazu gehörte auch und unabdingbar die Trennung von Kirche und Staat. Sie formulierten in ihren 13 „Forderungen des Volkes in Baden“ den für mich wichtigsten Artikel „Wir verlangen Gewissens- und Lehrfreiheit. Die Beziehungen des Menschen zu seinem Gotte gehören seinem innersten Wesen an, und keine äußere Gewalt darf sich anmaßen, sie nach ihrem Gutdünken zu bestimmen. Jedes Glaubensbekenntniß hat daher Anspruch auf gleiche Berechtigung im Staate. Keine Gewalt dränge sich mehr zwischen Lehrer und Lernende. Den Unterricht scheide keine Confession.“
Trennung von Staat und Kirche
Im damaligen Großherzogtum Baden waren die Schulen schon Einrichtungen des Staates und wurden von den Städten und Gemeinden betrieben. Aber die Volksschulen waren konfessionell geschieden. Beaufsichtigt wurden sie von der Religionsgemeinschaft. Der Dorfpfarrer war Aufseher des Dorfschulmeisters, bei den israelitischen Schulen war es der Rabbiner. Das galt für alle (!) Inhalte, auch für Lesen, Schreiben und Rechnen. Das sollte 1847 ein Ende haben: Die „Verfassungsfreunde“ forderten die Abschaffung der geistlichen Schulaufsicht.
1864 wurde in Baden das Schulaufsichtsgesetz erlassen: Nicht mehr der Bischof oder der Ortsgeistliche bestimmte, was in den Schulen zu lehren sei, sondern der Staat definierte die Bildungsziele und übernahm die Aufsicht über Lehrer und Schulen.
Seit der Weimarer Reichsverfassung gilt das reichsweit: „Die Schulaufsicht wird durch hauptamtlich tätige, fachmännisch vorgebildete Beamte ausgeübt.“ Das steht heute auch in der Landesverfassung. Das Grundgesetz bestimmt: „Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates“. Allerdings: Über den Religionsunterricht bestimmen allein die Kirchen. Da hat der Staat nur zu zahlen, mehr nicht.
„Der Dorfpfarrer war Aufseher des Dorfschulmeisters. Das galt für alle (!) Inhalte, auch für Lesen, Schreiben und Rechnen. Das sollte 1847 ein Ende haben: Die ‚Verfassungsfreunde‘ forderten die Abschaffung der geistlichen Schulaufsicht.“
Simultanschule
1876 wurde in Baden dann die Simultanschule gegründet. Simultan heißt „gleichzeitig“. In religiös-konfessionellem Zusammenhang bedeutet es: „gemeinsam“ oder „gemeinsam genutzt“. So wird eine „Simultankirche“ von mehreren Konfessionen für ihre Gottesdienste genutzt. Die Einführung der Simultanschule änderte nichts am persönlichen religiösen Bekenntnis der Menschen. Aber ihre gesetzliche Schulpflicht erfüllten sie fortan in einer staatlichen, überkonfessionellen Bildungsstätte. Konkret sah das so aus: „Der Unterricht in der Volksschule wird sämtlichen schulpflichtigen Kindern gemeinschaftlich erteilt, mit Ausnahme des Religionsunterrichtes, sofern die Kinder verschiedenen religiösen Bekenntnissen angehören.“ (§ 6 des Gesetzes vom 18. September 1876)
Ab 1945 – nach Nazizeit und Krieg– wurde alles neu geregelt. Nach der deutschen Katastrophe 1945 orientierte man sich in den westdeutschen Besatzungszonen vor allem am Christentum und den „christlich-abendländischen Werten“. Das Motto lautete: Aus braun mach schwarz! In den neu entstandenen südwestdeutschen Ländern wurden die öffentlichen Volksschulen umgetauft.
Man nannte sie im Land Württemberg-Baden „christliche Gemeinschaftsschulen“, in Württemberg-Hohenzollern existierten fortan ebenfalls „christliche Gemeinschaftsschulen“ sowie katholische und evangelische Konfessionsschulen. Für die württembergischen Landesteile war das ein echter Fortschritt: Hier hatte es vor der Nazizeit keine überkonfessionellen „Gemeinschaftsschulen“ gegeben.
Für die badischen Landesteile hingegen bedeutete die Veränderungen nach dem Krieg einen Rückschritt: Die überkonfessionelle Simultanschule erhielt einen „christlichen Charakter“. 1876 war aus der konfessionellen Volksschule nämlich keine christliche Schule geworden! In ihr waren damals auch die jüdischen Schulen aufgegangen und hier unterrichteten auch jüdische Lehrkräfte.
Bisher hatte diese Schule mit Ausnahme des Religionsunterrichts keinen religiösen Charakter besessen. Dies hat das Bundesverfassungsgericht 1975 ausdrücklich bestätigt: „Diese badische Simultanschule wurde immer als eine Art ‚weltliche Schule’ beurteilt.“ Aber nach der Nazizeit wurde diese Tradition gebrochen: Die säkulare badische Simultanschule wurde zu einer christlichen Schule.
Die Christianisierung der Simultanschule
1947 machte Artikel 28 der (süd-)badischen Verfassung aus den Volksschulen „Simultanschulen mit christlichem Charakter im überlieferten badischen Sinn“. Ausdrücklich wurde diese Neu-Definition jedoch durch folgende Klausel abgemildert: „An allen Schulen sind beim Unterricht die religiösen Empfindungen aller zu achten. Der Lehrer hat in jedem Fach auf die religiösen und weltanschaulichen Empfindungen aller Schüler Rücksicht zu nehmen und die religiösen und weltanschaulichen Auffassungen sachlich darzulegen.“
Seit dem Schulkompromiss von 1967 ist dies in ganz Baden-Württemberg geltendes Recht. Das ist gut so! Denn dies hat die Simultanschulen davor bewahrt, bikonfessionelle Lernanstalten zu werden.
Neuer Wind: Reform und Kompromiss
Mitte der sechziger Jahre zeigte sich immer deutlicher: Das Schulwesen war den Herausforderungen der neuen Zeit nicht mehr gewachsen. Ein Aufbruch tat not.
Zur Überwindung der deutschen „Bildungskatastrophe“ (Georg Picht) setzte man auf einen Aus- und Umbau des Schulwesens und auf eine Erhöhung der Übergangsquoten auf die Realschule und das Gymnasium. Dabei standen die ein- und zweiklassigen Zwergschulen und ihre konfessionelle Zersplitterung im Wege. Und es setzte ein neues Denken ein: Auch im Südwesten wollte man endlich die konfessionelle Enge, das patriarchalische System und die Folgen der Nazizeit überwinden. Und man wollte die staatlichen Konfessionsschulen abschaffen, die es in Südwürttemberg noch gab.
Ein Kommentar von Michael Hirn, verantwortlicher Redakteur der b&w
Michael Rux wird mir fehlen. Als ich in den 90er Jahren begann, mich bildungspolitisch zu engagieren, habe ich die inhaltliche Arbeit der GEW zunächst vor allem über drei Personen kennengelernt: Rainer Dahlem als Vorsitzender, Ursula Herdt als der bildungspolitischen Referentin (die vor wenigen Wochen gestorben ist) und Michael Rux. Er hat die damalige Lehrerzeitung geprägt und ich erinnere mich noch gut an seine wortgewaltigen Artikel und Kommentare.
Wer ihn erlebt hat, wird ihn nicht vergessen. Sein Wissen, sein tiefes Denken und seine Geschwindigkeit waren legendär. Aber auch die Schärfe seines Urteils und die Härte, mit der er Diskussionen führen konnte. Zu mir war er immer sehr milde. Es hat mich beeindruckt, wie wenig er sich in meine Arbeit als Redakteur der b&w eingemischt hat. Wenn er etwas zu sagen hatte, war es ein Lob für die Redaktion oder bestimmte Artikel. Als Autor war er überraschend pflegeleicht. Ich habe ihm oft ein Drittel seines Textes gestrichen. Er hat sich dafür immer bedankt und nur selten für einen Gedanken oder eine Formulierung gekämpft, auf die er nicht verzichten wollte.
Auch als er mich kurz vor seinem Tod angerufen hat, war das ein besonderes Gespräch. Zu erleben, wie vorbereitet und klaren Sinnes er die letzten Tage seines Lebens gestaltete und wie offen wir miteinander sprechen konnten, war bewegend. Und es hat mich nicht überrascht, dass er auch noch einen Vorschlag hatte. Er hat mir das Manuskript eines Vortrags geschickt, den er nicht mehr halten konnte. Er hat mir volle Freiheit über den Text gegeben und darauf vertraut, dass ich aus diesem Vortrag einen Artikel in seinem Sinne machen würde. Für mich ist sein Artikel ein letzter Gruß von ihm an uns und von mir an ihn.
1967 änderte die erste schwarz-rote Koalition die Landesverfassung. Alle öffentlichen Grund- und Hauptschulen erhielten die Schulform der „christlichen Gemeinschaftsschule nach den Grundsätzen und Bestimmungen, die am 09.12.1951 in Baden für die Simultanschule mit christlichem Charakter gegolten haben“. Zusätzlich wurde bestimmt, dass die Erziehung an den Grund- und Hauptschulen „auf der Grundlage christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte“ zu erfolgen habe.
Dieser historische Kompromiss war trotz der mehrfachen Berufung auf das Christentum der Auftakt zu einem fundamentalen Wandel: Alle Schulen wurden säkular.
Seitdem herrscht Frieden im Land
Nach 100 Jahren Kulturkampf sollte Frieden herrschen. Aber die katholische Kirche führte einen letzten Abwehrkampf: Generalvikar Ernst Föhr erklärte die Stimmabgabe für die rechtsradikale NPD bei der nächsten Landtagswahl zur „einzigen Möglichkeit des Protestes“. Der Erfolg blieb aus. Dass dies ein geradezu revolutionärer, aber ohne Gewalt vollzogener Wandel war, habe ich leibhaftig erfahren: Drei Jahre später wurde ich als erster Atheist im Land zum Leiter einer christlichen Gemeinschaftsschule bestellt.
Im Gemeinderat fragte man nicht nach meiner Konfession, sondern nach meinem Bart. Meine erste Vereinbarung mit dem evangelischen Ortspfarrer war die Abschaffung des Schulgottesdienstes. Wir setzten beide auf Religionsfreiheit und Freiwilligkeit.
Heute, fast 60 Jahre danach, ist (fast) alles vorbei. Die gemeinsame Bildung und Erziehung ohne Rücksicht auf die Konfession ist Allgemeingut. Die meisten Lehrkräfte, Schulleitungen und Eltern an den Grund-, Haupt-/ Werkreal- und Gemeinschaftsschulen wissen gar nicht, dass ihre Schule eine christliche Gemeinschaftsschule ist. Was 1967 eine fast revolutionäre Wende bedeutete, ist heute nur noch eine deklamatorische Formel ohne Inhalt.
Drei Entscheidungen aus Karlsruhe
Auch das Bundesverfassungsgericht (BVG) hat den gesellschaftlichen Wandel dreifach bestätigt:
- 1975 hat es die „christliche Gemeinschaftsschule“ für verfassungsgemäß erklärt, aber zugleich ihrem „christlichen“ Charakter enge Grenzen gesetzt: Sie sei nicht von der Verpflichtung entbunden, dass sie „weltanschaulich-religiöse Zwänge so weit wie möglich ausschaltet sowie Raum für eine sachliche Auseinandersetzung mit allen religiösen und weltanschaulichen Auffassungen – wenn auch von einer christlich bestimmten Orientierungsbasis her – bietet und dabei das Toleranzgebot beachtet“.
- 1979 hat das höchste deutsche Gericht entschieden, dass außerhalb des Religionsunterrichts lediglich ein freiwilliges, überkonfessionelles Schulgebet zugelassen werden darf. Das heißt: Man darf in der Schule beten, aber niemand darf zur Teilnahme am Gebet gezwungen werden.
- Und 1995 haben die Karlsruher Richter*innen geurteilt, dass die Anbringung eines Kreuzes in den Unterrichtsräumen gegen die Religionsfreiheit verstößt; dort bereits vorhandene Schulkreuze müssen auf Antrag entfernt werden.
Längst sind unsere Schulen multikulturelle Bildungsstätten für Schüler*innen aus aller Herren Länder.
Aus den „christlichen Gemeinschaftsschulen“ der Landesverfassung sind wieder „simultane“ Schulen geworden. Das Bekenntnis der Schüler*innen und der Lehrkräfte spielt außerhalb des konfessionellen Religionsunterrichts keine Rolle mehr. Selbst beim weihnachtlichen Krippenspiel oder einem gelegentlichen Schulgottesdienst bemüht man sich um eine ökumenische Ausgestaltung, die nichtchristliche Bekenntnisse mit einbezieht.
Am Schwarzen Brett im Klassenzimmer hängen Symbole der Herkunftsländer der Schüler*innen und der Bekenntnisse, denen sie angehören, darunter auch ein Kreuz. Fast jede Schule in Baden-Württemberg präsentiert heute stolz auf ihrer Homepage ein eigenes Leitbild, das von der Schulkonferenz, beschlossen wurde, in der Eltern- und Schülervertreter*innen mitbestimmen. Und fast nie findet sich in dieser Selbstdarstellung der Schulen auch nur einmal das Wort christlich. Das Christentum kommt allenfalls noch als Folklore vor. An die Stelle von Allerheiligen ist Halloween getreten. Unsere Schulen sind heute mehr als nur „simultan“, sie sind „säkulare Bildungseinrichtungen“.
Was noch nicht erledigt ist
Aber noch ist nicht alles erledigt, was die revolutionären Badener 1847 in Offenburg forderten.
Ein Beispiel für die Versuche, den „christlichen Charakter“ zu retten, ist die Farce mit den Kopfbedeckungen. 2004 hat der Landtag den Lehrerinnen das Tragen von „muslimischen“ Kopftüchern verboten, die „Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen“ sollte aber erlaubt sein. Ein christlicher Halsschmuck oder ein Nonnenhabit durften getragen werden, ein Hijab war verboten.
2015 bezeichnete das Bundesverfassungsgericht diese Privilegierung des Christentums als verfassungswidrig und erklärte sie für nichtig. Bis heute hat der Landtag die verfassungswidrige Bestimmung nicht aus dem Schulgesetz entfernt. Das ist unanständig.
Der Erziehungsauftrag der Landesverfassung („Ehrfurcht vor Gott“ und „im Geiste der christlichen Nächstenliebe“) wird heute nicht mehr als religiöse Bindung verstanden, sondern als Auftrag an alle Beteiligten ohne Bezug auf deren private Weltanschauung. In den Bildungsplänen von 2016 werden der besondere „christlich-abendländische“ Auftrag und der „christliche Charakter“ der Grundschule oder der Haupt- / Werkrealschule nicht einmal mehr erwähnt. Das steht zwar noch in der Verfassung, aber es spielt in der Realität der pädagogischen Arbeit keine Rolle mehr.
„Aber die gemeinsamen Werte unserer Gesellschaft stehen im Grundgesetz. Deshalb brauchen wir ein Pflichtfach Ethik für alle, für Christen, Muslime, Heiden und Heilige, Hiesige und Fremde.“
Ist damit die Forderung von 1847 verwirklicht: „Den Unterricht scheide keine Confession“? Ich meine, in großen Teilen ja, aber es bleibt eine Frage offen: Die nach dem Religionsunterricht und der Ethik. Gläubige und Bekenntnisfreie, Christen und Muslime dürfen nicht mit- und voneinander lernen, was gut und böse, gerecht und ungerecht ist. Sie werden in Religionsunterricht und Ethik sortiert. Und in der Grundschule werden Bekenntnisfreie genötigt, in Reli mitzubeten oder in Hütestunden beaufsichtigt zu werden. Das ist und bleibt ein atavistisches Privileg der Kirchen.
Die Schulen sind jetzt alle „simultan“, aber es gibt immer noch ein Schulfach, das durch „Confession“ geschieden wird: den (meistens christlichen) Religionsunterricht.
Die Kirchen nennen den Religionsunterricht unverzichtbar. Sie behaupten, dass die Schüler*innen dort mit Gottes Hilfe lernten, was gut und böse sei, richtig und falsch, und wie die Menschen im Leben handeln sollten. Aber die gemeinsamen Werte unserer Gesellschaft stehen im Grundgesetz. Deshalb brauchen wir ein Pflichtfach Ethik für alle, für Christen, Muslime, Heiden und Heilige, Hiesige und Fremde.
Der Anteil der Christen an der Bevölkerung nimmt rapide ab. Der Religionsunterricht wird zu einem Schulfach für Minderheiten. Das Ersatzfach Ethik hat Konjunktur. Daran ändern auch die Bemühungen nichts, über einen konfessionell-kooperativen Religionsunterricht die Lücken zu füllen. Islamischer Religionsunterricht soll die Unverzichtbarkeit des christlichen beweisen.
Nur in der Grundschule besteht das christliche Monopol noch: Hier wird das Ersatzfach Ethik planmäßig sabotiert. Bekenntnisfreie und andersgläubige Schüler*innen werden vom Ministerium mit fragwürdigen Tricks zur „freiwilligen“ Teilnahme an „Reli“ genötigt.
Der Religionsunterricht ist überholt
Eigentlich wäre es also an der Zeit, das ordentliche Lehrfach Religionsunterricht abzuschaffen. Aber ich habe Zweifel, ob wir für die Streichung dieses Artikels im Grundgesetz Mehrheiten finden. Dafür erwarte ich selbst auf lange Sicht weder ein Wählervotum noch erst recht eine Parlamentsmehrheit. Einen neuen Kulturkampf können die Befürworter*innen der Streichung kaum gewinnen. Stattdessen sollten wir die Kräfte auf den Ausbau des Faches Ethik richten. Es muss endlich auch an der Grundschule eingerichtet werden. Und es darf kein Ersatzfach mehr sein, sondern es muss ordentliches Lehrfach für alle Schüler*innen an allen Schulen werden.
Die christliche Gemeinschaftsschule ist sanft entschlafen. Aber wenn das Fach Ethik an der Grundschule eingeführt wird, geht‘s um Geld und nicht nur um Worte. Die Regierung behauptet, dass sie dafür zusätzlich 460 Lehrerstellen braucht. Das würde rund 50 Millionen Euro im Jahr kosten.
Ich habe einen Vorschlag für die Finanzierung dieser Lehrkräfte. 2024 hat unser Land den christlichen Großkirchen pauschal 136,6 Millionen Euro überwiesen. Das Geld dient unter anderem der Besoldung der amtierenden und der zur Ruhe gesetzten Kirchenbeamten. Ich übersetze: Der bekenntnisfreie Mensch Michael Rux finanziert mit seinen Steuern das Gehalt des Freiburger Erzbischofs. Aber das ist mein Geld! Das Land soll damit keine Priester, sondern Ethik-Lehrkräfte an der Grundschule bezahlen.
Vielleicht ist es heute wieder wie in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts: Damals haben wir alle oder zumindest die meisten nicht daran geglaubt, dass die Berliner Mauer jemals fallen würde. Ich hielt das allenfalls für eine weit in der Zukunft liegende Illusion. Und trotzdem ist es geschehen, quasi über Nacht.
Deshalb plädiere ich für das Wort des großen Spötters Georg Christoph Lichtenberg: „Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird, wenn es anders wird; aber so viel kann ich sagen, es muss anders werden, wenn es gut werden soll.“