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„Wehrgeistige Erziehung ist Unterrichtsgrundsatz“

Fast alle Lehrkräfte waren während der NS-Zeit Mitglied im Nationalsozialisten Lehrerbund. Wie es dazu kam und welche Aufgaben die Lehrkräfte in der Organisation übernehmen mussten, hat der ehemalige Geschichtslehrer Michael Kuckenburg am Beispiel Tübingen recherchiert.

Foto: Collection of NSDAP / NSLB history

jetzt noch den Eindruck, als hätten sie für den Nationalsozialismus nicht viel übrig und die Wahrung eines deutlichen Standesunterschieds scheint ihnen nicht unangenehm zu sein,“ registrierte leicht verärgert Hermann Häcker, Kreiswalter des Nationalsozialistischen Lehrerbunds (NSLB) Tübingen, am 27. Mai 1933. „Mancher Lehrer aber, dem mein Braunhemd noch vor wenigen Monaten unbegreiflich war, ist heute begeistert für die Idee Adolf Hitlers.“ Es war der erste „Tag der Deutschen Erzieher“ in Tübingen. Hitler war keine vier Monate an der Regierung, der NSLB hatte knapp 120.000 Mitglieder. Ein Jahr zuvor waren es 6.000 gewesen.

Die Anfänge des NSLB lagen sieben Jahre zurück. Im Mai 1926 hatte der Bayreuther Lehrer Hans Schemm am Rande des Weimarer Parteitags der NSDAP mehrere NS-orientierte Lehrer zu einer Besprechung eingeladen. Im Jahr darauf berief er eine Konferenz nach Hof ein, zu der 23 Lehrer erschienen. Ende 1929 wurde der NSLB als selbständige Organisation innerhalb der NSDAP anerkannt; die inzwischen 200 NSLB-Mitglieder mussten also gleichzeitig Parteimitglieder sein.
Zu diesem Zeitpunkt waren knapp 90 Prozent der rund 300.000 Lehrkräfte in knapp 50 Reichsverbänden (der größte war der Deutsche [Volksschul-]Lehrerverein mit 150.000 Mitgliedern) und über 110 regionalen Unterverbänden organisiert. Der NSLB wollte keineswegs eine weitere Interessenvertretung der Lehrerschaft sein. Sein Ziel war, so Schemm, „ein Versinken der den deutschen Lehrern anvertrauten Jugend in Internationalismus, Pazifismus und Demokratie zu verhindern“. Jedes Mitglied sei deshalb gefordert, „damit eine gewaltige Plattform zu diesem Willen für ein neues Drittes Reich geschaffen wird, [und um den] rücksichtslosen Kampf gegen die zum großen Teil liberalistischen, marxistisch und demokratischen Lehrervereine“ zu führen. Diesen Kampf führte der NSLB äußerst erfolgreich.

Alte Verbände übers Ohr gehauen

Die Dämme waren kurz nach Hitlers Machtantritt gebrochen. Im Juni 1933 unterzeichneten 43 reichsweite Lehrer-Verbände mit 111 regionalen Unterverbänden in Magdeburg die Urkunde über die „Gründungsversammlung der deutschen Gesamterzieherorganisation unter Führung des Nationalsozialistischen Deutschen Lehrerbundes“. Sie hatten drei Monate vorher noch 250.000 Mitglieder gehabt, ein Großteil war ihnen inzwischen weggelaufen. Zudem waren sie seit Ende März 1933 nur noch leere Hüllen, weil sie Schemms Forderung, aktive Nazis in die Vorstände zu berufen, weitgehend gehorcht hatten und damit faktisch gleichgeschaltet waren. Mit ihrer Zustimmung zur „Gründungsversammlung“ waren die Vorsitzenden der bisherigen Lehrerverbände vom NSLB-Chef übers Ohr gehauen worden: Der hatte ihnen weisgemacht, sie würden lediglich in einen – vom NSLB geführten – Dachverband eintreten. Aber kaum hatten sie das gemacht, wurden die bisherigen Lehrerorganisationen verboten. Der Deutsche Philologenverband und die evangelische Erzieher-gemeinschaft Württemberg blieben formell bis 1935 bestehen.

Warum sind viele, auch demokratisch gesinnte Lehrkräfte dem NSLB beigetreten? Erstes, banales Motiv: Nur so behielten sie den Anspruch auf erworbene Leistungen ihrer bisherigen Verbände (die ja jetzt im NSLB aufgegangen waren) – also Kranken- und Sterbekasse oder Urlaub in Erholungsheimen wie dem Löchnerhaus auf der Reichenau. Dann schüchterten das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom April 1933 und die Berichte über Verschleppungen in „Schutzhaft“ massiv ein. Und das dröhnende Auftrumpfen der Nazis entmutigte viele  und riss andere mit.
Das sind benennbare Gründe, nachvollziehbar ist die Stimmung des Frühjahrs 1933 für Nachgeborene dennoch nicht. Jedenfalls konnte der neue Tübinger Kreiswalter Erich Schönhardt im Juli 1934 konstatieren: „Mit ganz wenigen Ausnahmen sind alle Lehrer und Lehrerinnen im Kreis Mitglieder im NS-Lehrerbund.“ Sämtliche Lehrkräfte haben zwei Monate später den persönlichen Eid auf Hitler geleistet, 1937 waren laut Mitteilung der NSLB-Reichsleitung 97 Prozent der deutschen Lehrerschaft Mitglieder im NSLB, davon 32 Prozent auch in der NSDAP – in Tübingen waren es sogar 53 Prozent.
Wer jetzt glaubt, Erich Schönhardt sei damit unangefochtener Herrscher über die 376 Lehrkräfte im Kreis Tübingen geworden, verkennt allerdings das komplexe Herrschaftssystem in Nazideutschland.
Angesichts der riesigen Beitrittswelle 1933 war die Koppelung von Mitgliedschaft in NSLB und NSDAP aufgehoben worden, was den NS-Lehrerbund andererseits zu einem potenziell unsicheren Kantonisten machte. Der NSLB war nur ein „angeschlossener Verband“, weshalb ihm die NSDAP mit dem „Amt für Erzieher“ (AfE) eine reguläre Parteigliederung zur Überwachung vor die Nase setzte. Zwar wurden beide Ämter in Berlin, in Stuttgart und im Kreis Tübingen in Personalunion ausgeübt, aber die jeweiligen Stelleninhaber waren den Anweisungen der jeweiligen NSDAP-Ebene unterworfen.

Eine weitere Machteinschränkung gab es durch den Kultminister. Christian Mergenthaler war selbst Lehrer und hatte nicht die Absicht, sich von anderen Stellen dirigieren zu lassen. Deshalb lag er im Dauerkonflikt mit NSLB-Gauwalter Ernst Huber. Der war 1931 Gründer des NS-Lehrerbundes Reutlingen/Tübingen gewesen.
Mindestens genauso aufreibend war der Kampf mit der Hitlerjugend (HJ). Um die Zusammenarbeit Schule-HJ zu verbessern (in Wirklichkeit um den Einfluss der HJ zu vergrößern), gab es ab 1934 an jeder Schule den „Vertrauenslehrer der HJ“. Der Vertrauenslehrer war „Mittelsmann“ zwischen Schulleiter und der HJ, wobei die Stellung des Schulleiters unberührt blieb - was offenbar eigens erwähnt werden musste. Zum Reifezeugnis gehörte ab 1936 zusätzlich zum Gutachten der Schulleitung auch eines der HJ-Führung. Seit 1937 durften an den „HJ-Nachmittagen“, also mittwochs und samstags, keine Hausaufgaben erteilt werden.

1938 beschwerte sich Kuno Fladt, Schulleiter an der Tübinger Kepler-Oberrealschule, der alles andere als ein Widersetzling war: „Es ist allerhöchste Zeit, dass die Schularbeit von der außerschu-lischen Welt wieder anerkannt wird. Die Ablenkung unserer Schüler wird nachgerade unerträglich.“ Da kannte er den Kultminister aber schlecht. Mergenthaler forderte nämlich, die Zusammenarbeit der Schule mit der HJ müsse noch enger werden, die Lehrkräfte aller Schularten sollten sich der HJ „auf Wunsch zur Verfügung stellen, insbesondere für sportliche Ausbildung“. Denn es galt, „Leibeserziehung als die Vorstufe für den Dienst in der Wehrmacht mit besonderem Nachdruck zu betreiben“.

Alltag im NSLB

Der NSLB war eine merkwürdige Organisation. Er war gegründet worden, um der NSDAP an die Macht zu verhelfen. Als die errungen war, entwickelte er kein pädagogisches Konzept, war aber auch keine Interessenvertretung (das hätte der Volksgemeinschafts-Ideologie widersprochen). Dafür hatte er einen klaren Machtanspruch, nämlich gegenüber seinen Mitgliedern. Höhepunkte des NSLB-Jahres waren die Kreistagungen.
Sie fanden vor dem Krieg im knapp vierteljährlichen Rhythmus statt, und zwar meistens in großen Sälen wie dem Audimax oder dem großen Saal des Botanischen Instituts der Universität Tübingen, schließlich war die Teilnahme für die Mitglieder Pflicht. Am 29. November 1936 schwadronierte Professor Bebermeyer über „Rasse, Volkstum, Volk“. „Seine Ausführungen gipfelten“, so die Tübinger Chronik, M.K. „in dem Aufruf an die versammelte Erzieherschaft, ihr Bestes zu geben, um die heranwachsende Jugend in nationalsozialistischem Geist nach dem großen Vorbild des Führers zu erziehen.“ Der 1936 neu eingesetzte  Kreiswalter Gotthold Griesinger erklärte anschließend, dass und warum der 30. Januar 1933 der wichtigste Tag der deutschen Geschichte sei, und schloss die Tagung mit einem kräftigen „Sieg Heil auf den Führer“.

Man kann es den NSLB-Mitgliedern nicht verdenken, dass sie an diesen Mittwochnachmittagen Besseres zu tun hatten, zumal sich der Dienst im NSLB nicht auf die Teilnahme an den Kreistagungen beschränkte. Sie hatten, Anspruch auf lediglich 14 Tage Urlaub (über 50-Jährige auf 20 Tage), für den Rest der Ferien waren sie „grundsätzlich einsatzverpflichtet“ zur Arbeit in kriegswichtigen Betrieben oder vorzugsweise zu Fortbildungen inklusive Lehrerlager sowie zu Erntehilfen oder zur Holzleseaktion. Obendrein sahen die Lehrer sich von ihrem Kultminister genötigt, mindestens eine Zeitung der NS-Presse zu lesen („Ehrenpflicht eines jeden Beamten“, August 1937). Außerdem mussten sie alle mindestens einmal ins Lehrerlager Jungborn nach Nürtingen.

„Durch den gleichen Dreck geschleift“

Im Februar 1937 bekommt Eugen Meyder vom Uhlandgymnasium Post vom „Amt für Erzieher“: Er wird vom 1. bis 6. März 1937 an einem Schulungskurs für Zeichenlehrer teilnehmen. „Kleidung und Ausrüstung: Lagerkleidung wird im Lager ausgegeben. Mitzubringen sind Marsch- oder Sportstiefel mit Leder- oder Wickelgamaschen, weißes Hemd und schwarzer  Binder, Sportkleidung, Turnschuhe, Wasch- und Schuhputzzeug. Musikinstrumente und Noten sind mitzubringen.“
Meyder nimmt an einem Kurs für Zeichen-Lehrer teil – aber „Kunstunterricht ist Wehrunterricht“ (NSLB-Mitgliederzeitung „Der Deutsche Erzieher“). Die Lagerform war bewusst gewählt, die uniformähnliche Kleidung ebenfalls. Denn „dort wird nicht von Beruf und Stand, Geld und Gehalt, Stundenplan und Lehrplan die Rede sein, sondern nationale und sittliche Kräfte werden geweckt und gestählt werden“, hatte NSLB-Kreiswalter Erich Schönhardt bereits im Juli 1934 als Aufgaben der Schulungslager zusammengefasst. Dem NS-Ideal des „Einheitserziehers“ entsprechend wurden die Lehrkräfte möglichst aller Schulformen gemeinsam geschult, es sollten – so „Der Deutsche Erzieher“ – „alle Lehrergattungen vom Kandidaten bis zum Schulleiter durch den gleichen Dreck geschleift“ werden. Schulungsleiter waren fachlich versierte, vor allem politisch zuverlässige Lehrer.

Die Mitgliedschaft im NSLB konnte auch ihre Vorzüge haben. Gotthold Griesinger, NSLB-Kreiswalter ab 1936, war seit 1930 Lehrer an der Volksschule Tübingen-Derendingen; 1939 wurde er für seinen Einsatz mit der Schulleiterstelle in Tübingen-Derendingen belohnt. Sein Vorgänger Erich Schönhardt war ab 1935/36 Rektor der Universität Stuttgart. Die beiden waren keine Ausnahmen, praktisch alle NSLB-Aktivisten in Tübingen wurden befördert: Der NS-Lehrerbund war ein Selbstbedienungsladen für „alte Kämpfer“ sowie Opportunisten und Karrieristen jeglicher Art. Er war gleichzeitig auch Zuflucht für alle, die ansonsten ihre Ruhe haben wollten – sogar für solche, die sich dem NS-Regime widersetzten. Einige Beispiele für widerständige NSLB-Mitglieder:
Josef Held war von 1933 bis 1934 Vertreter des katholischen Zentrums im Tübinger Gemeinderat, 1936 weigerte er sich hartnäckig, seine Tochter aus der katholischen in die neugebildete „Deutsche Schule“ zu überstellen, und nahm dafür die Strafversetzung nach Freudenstadt in Kauf.

Im Entnazifizierungs-Fragenbogen wird Julie Majer gefragt: „Wurden Sie jemals, weil Sie den Nationalsozialisten Widerstand leisteten, in Haft genommen oder in Ihrer beruflichen Freiheit beschränkt?“ Sie antwortete: „Ja. Für ein Verhör im April 1937, doch wurde ich wieder entlassen und zunächst vom Amt entfernt. Eine Anklage wegen Vorbereitung zum Hochverrat wurde gegen mich erhoben, aber das Verfahren eingestellt wegen der Amnestie vom 7.8.1934. Dann kam ein Dienststrafverfahren, das am 10. August 1938 meine Entlassung aus dem Schuldienst ohne Pension brachte.“
Julie Majers „Verbrechen“: Die Lehrerin an der Frauenarbeitsschule hatte 1934 einen von der Gestapo verfolgten Kommunisten mehrere Wochen lang in ihrer Wohnung in der Waldhäuser Straße versteckt, was die Gestapo 1937 herausfand.
„1933 war ich als politischer Häftling im K.Z.-Lager Heuberg, weil ich dem Nationalsozialismus passiven Widerstand leistete. Es wurde mir der Vorwurf gemacht, ich hätte die Schüler nicht im nationalsozialistischen Sinn erzogen. Seitdem bin ich schwer nervenleidend“, schrieb  Julius Starzmann 1945. Er war seit 1913 Lehrer im benachbarten Hagelloch und hatte der SPD nahegestanden. Im Frühjahr 1933 wurde er zusammen mit neun weiteren Hagellocher Bürgern „in Schutzhaft genommen“. Nach sechs Wochen entlassen, war er für den Rest seines Lebens ein körperlich und psychisch gebrochener Mann. Dem NSLB trat er nach seiner Entlassung aus dem KZ bei; vermutlich war er zuvor Mitglied im Deutschen Lehrerverein gewesen und wollte sich die dort erworbenen Leistungen nicht nehmen lassen.

Der Krieg griff sehr früh und sehr spürbar in das Leben der Schulen ein. Im Jahr 1936 hatten am Uhland-Gymnasium 17 Lehrer unterrichtet, 1940 waren es noch 12 (8 über 60 Jahre alt, die anderen 4 kriegsuntauglich). Die Abiturklasse war von 27 auf 7 geschrumpft – die anderen waren bei der Wehrmacht oder im Arbeitsdienst.
Im gleichen Jahr 1940 wurde Kreiswalter Gotthold Griesinger zum Militär eingezogen, im Herbst 1942 kam er nach Tübingen zurück. Die Aufgaben der Lehrkräfte – sofern sie nicht eingezogen waren – hatten sich inzwischen stark verändert: Sie mussten sich um Kinderlandverschickung und Sammel-aktionen („Ernährung aus dem Walde“) kümmern. Die Männer wurden spätestens im Februar 1942 zur Landwacht herangezogen und übernahmen Bahnschutz, Streifendienst, Betreuung der Flak-Miliz. Aus den früheren Übungen war jetzt Ernst geworden: Im September 1944 waren an der Wildermuth-Oberrealschule jeweils eine Lehrkraft und 4 Schülerinnen der Klassen 5 bis 8 (heute 9 bis 12) von 20 Uhr abends bis 20 Uhr am folgenden Tag als Luftschutzhelferinnen dienstverpflichtet.

Zu diesem Zeitpunkt hatte der NSLB längst aufgehört zu existieren. Er war 1941 wegen seiner katastrophalen Haushaltsführung von der NSDAP in Zwangsverwaltung genommen worden, außerdem war ein Großteil der Lehrer und Funktionäre im Krieg. Am 18. Februar 1943 wurde der NSLB auch formell „stillgelegt“. Wahrgenommen haben das damals – am gleichen Tag hielt Goebbels die berüchtigte Rede im Sportpalast und die Geschwister Scholl wurden verhaftet – wenige, bedauert hat es wohl kaum jemand.

Foto:1938 Third Reich Photo Book